Denselben Weg noch einmal gehen, heute

Denselben Weg nochmal gehen, heute, allein, den von gestern, zu zweit. Oder selbigen Tags noch zurückkehren zum inzwischen enthüllten, beim Aufbruch noch unter der Nacht verborgenen Wegstück. Wie der Klang eines Wortes nur langsam im Fortwirken der Stille vergeht, so sind die Geister an den Orten und Wegen noch da. Wie diese Brennessel verdurstend übern Weg hängt und da immer noch der Sauerampfer seine Blütenstände wie Lauschorgane empor reckt; wie der große, runde Stolperstein mit der Anmutung eines Schildkrötenrückens bei seiner Grabarbeit nicht weitergekommen und wie die Hummel auch diesmal wieder an der gleichen Stelle über den Weg gezogen ist, als müßte sie, an einem unsichtbaren Faden festgemacht, immer und immer wieder um dieselbe Nabe kreisen. Und der Weg selbst, als trüge er nicht die Schritte, sondern wäre selbst der Wanderer, der Verirrte, der Streuner, der Traumverlorene. Alles noch da, und doch um schemenhafte Beträge verändert durch die frühere Anwesenheit und das Nun-Fehlen dieser früheren Anwesenheit. Etwas wirkt nach. Etwas hat sich eingeprägt und schaut nun zurück zu mir, meinem wiederaufgetauchten, mir selbst fehlenden Dasein.

Ich vermeide es, am nächsten Tag den Weg noch einmal alleine zu gehen, den ich gestern in Gesellschaft gegangen bin. Vielleicht will ich mir die Erinnerung daran bewahren, wie es gestern war, an Gespräche, an ein Kopfnicken meiner Begleitung, an eine Übereinkunft oder ein gemeinsames Lachen, an einen aus der Luft gefischten Witz, vielleicht sogar an Küsse, vielleicht will ich das alles an diesem Ort belassen, wo und wie er in meiner Erinnerung ruht und ihn, den Ort, bei seiner Gedächtnisarbeit nicht stören. An diesem Folgemorgen zur Sitzgruppe am Kamelleboom zurückzukehren, es wäre wie einen Festsaal am Mittag nach dem Ball aufzuschließen. Erloschen die Kandelaber, stumpf die Tanzfläche, das Parfum der Damen ist schalem Schweißgeruch gewichen, durch ein unzureichend verhülltes Oberlicht sprüht etwas Licht herein, nicht vorgesehen wie ein technischer Defekt. Traurig ist das und hinterläßt einen schalen Geschmack, und es ist auch wie ein Blick in etwas, das einem nicht mehr zusteht, das Cabinet de Toilette einer Dame etwa, die sich zum Umziehen zurückgezogen hat und heute nicht mehr empfängt.

Also die Runde am Brenig und von dort den mittleren Weg hoch zu den Pferdeweiden. Wie Arbeiter sehen die Pferde aus; vor Tag schon mit schweißtreibenden Aufgaben beschäftigt, machen sie ihre erste Pause, während ich am Zaun vorbeilaufe. Ernste, schwere Körper, von der Sonne ledrig gebrannt, im Maul ein Schnauben, einen herzhaften Fluch. Ringsum leere, verbrannte Wiesen, eingefaßt von dünngescheuerten Zäunen, wie verblaßte Unterschriften auf einem ungültig gewordenen Dokument. Meine Gesellschaft von gestern ist abgereist, die Küsse eingetrocknet, die Wege ziehen sich unter Steinen zusammen, es ist die Zeit der Arbeiter am Sommer. Felsen, Gras und Pferde. Die Scheunentore schlucken Schatten. Morgen schon, denke ich, bin ich auch nicht mehr hier.

(Was man im Bruchteil einer Sekunde sieht (und den Rest muß man dazuerfinden): Den Speckbauch, schon sommerlich vollgefressen. Wie das Stumpfe der Borsten auf Rücken und Flanke an der Bauchunterseite des Tiers ins Glänzende von nackter Haut übergeht. Die Streckung des Körpers, gefolgt von einer muskulösen Kontraktion, der im Galopp eine weitere Streckung folgt, es ist, als fliege da ein nackter Bizeps übern Weg. Die sagenhafte Größe des Schweins, es fehlen nur noch Hörner auf der Nase. Die immerhin hat es nicht, oder sie waren in der kurzen Zeit nicht erkennbar. Erkennbar aber die Eile, die gehetzte Panik, mit der es hofft, noch vor diesem seltsamen Zweibeiner von Deckung nach Deckung zu gelangen. Es entschließt sich, hat sich entschlossen, kann nicht mehr zurück, kann nur noch voran mit seinem enormen, beweglichen Gewicht und alles geben. Danach ein Schnaufer aus dem Unterholz, als atme da jemand erleichtert auf oder vielleicht ist es ein Wildschweinfluch, der dem zweibeinigen Störenfried gilt.)

Dem Tod noch einmal von der Schippe gesprungen, das wäre wohl der passende Ausdruck. Mittags noch den Eindruck einer Moribunden erweckend, hat die Greisin, berichtet ihre Tochter, am Abend schon wieder scherzend am Tisch gesessen, und die Angehörigen, vor zwei Stunden noch auf das Schlimmste gefaßt, sitzen aufgekratzt beim Wein. Vielleicht sind sie eine Spur zu fröhlich, die Stimmen, die sich in der Dämmerung lösen, ein bißchen zu laut das Lachen, wie es heiter aufschießt, die Schwalben mit einbeziehen will, die über den Scheunen am kalkblauen Himmel vorüberzucken. Ein Grünfink pfeift von einer nahen Fichte, jemand fragt, was das für ein Vogel ist, eine Krähe ruft von einem Dachfirst, Nachbarkinder werden zu Bett gebracht, man macht eine zweite Flasche auf. Es wird Regen geben und Abkühlung, hofft man beim Blick zu den aufziehenden Wolken. Das Gespräch dreht sich um lange vergangene Urlaubsfahrten und Kindheitserinnerungen, alte Zeiten, lange Wege, an deren Beginn jenes Ende, an dem man hier an diesem Sommerabend wie feiernd beieinandersitzt, unfaßbar weit weg gewesen ist, so weit, daß es noch gar nicht hätte zum eigenen Leben gezählt werden können, weil die nur abstrakt denkbaren Hauptpersonen solchen entfernten Lebens, solcher vorgegriffenen Erzählung, völlig andere Menschen hätten sein müssen als man selbst. Diese unvorstellbaren Menschen, die sind diese drei jetzt, und sie sind ganz genau dieselben wie früher. Man sitzt als dieselben und spricht und feiert, in dieser Zeit nach der Zeit, wie Schüler, die jubeln, weil der Prüfungslehrer erkrankt ist und die Prüfung ausfallen muß.

Hirxberg

Die Vögel sind weg. Im Wald noch ein einziger Zaunkönig; sonst nur trockenes Rascheln im Laub, was willst du noch hier, so raschelt es, die Vorstellung ist zu Ende, der Sommer ist vorbei, es gibt nichts mehr zu sehen.
Über Bachgründen von Libellenflügeln zuckende Luft, in Cellophan verpackter Flug.
***
Mengen an Ferne, am Horizont die Hügel der anderen Grabenseite, wie eine Karawane ziehen sie vorbei. Nach Süden und Südwesten hängt über der Ebene ein brauner Streifen, ganz schmal, nach oben scharf begrenzt, nach unten ins Transparente sich auflösend, als schwömme eine Schmutzschicht auf Wasser. Der Dunst erstreckt sich im Rund bis Westen und Nordwesten, bis er sich ganz nach Norden zu in einer letzten Rauchschleife verliert.
***
Neben dem Weg, unter Zelten aus Ahorn und Linde, saugt sich ein keuchender Bach ins Grün, und da geschieht es wie im Traum, daß über einen Wiesengrund, der Mähdesüß und Riesenspringkraut feilbietet wie ein fahrender Händler, der Fuß in etwas Feuchtes tritt. Nachgebender Grund, klebrige Haut des Weges, wo er sich schlammig krümmt, wie in einer Armbeuge die erschauernde Kühle von Schweiß. Unerfrischend, eingedicktes Salz, saures Frösteln im Haar.
***
Gespiegelt findet der Läufer seine hohlen Wangen im trockenen Bast. Blindheit kommt über die Astlöcher, wo hinter den Masken jeder Atem stoppt. Eine Birke steht vollkommen vertrocknet. Knochen und Zähne, zum mächtigen Zauber geordnet. Fell mit der Blutseite nach außen.

In den Wäldern liegen jetzt, am Ende ihrer Schleifspur aus niedergedrücktem Gras, flach ausgebreitet von der Schwerkraft der trockenen Erde, die rissigen Fluken gestrandeter Wale.

Man sieht noch das letzte schmerzhafte Atmen der Flanken. Die Augen sind feuchte Tümpel, der letzte Blick ist zu Sekret geronnen, Fliegen schwirren in der Tiefsee ihrer Blindheit.

Haken braucht man, Bagger und Leinen, Fahrzeuge, um zu bergen, was hier von der Flut abgelegt wurde. Ein Körper, schwer vom eigenen Tod, unter dem die Erde nachgibt und einsinkt.

Jenseits, ins Gebüsch hinein, verliert sich die Spur wie eine träumende Frau, und der Wind eilt fort, der Flut nach, die weit draußen vor den Säumen des Waldes Spiegelzeichen gibt.

Hirxberg am Ellerntubel

Ein einzelner Hausrotschwanz auf der Bühne des trüb verhangenen Morgens, als wäre er mir von zu Hause nach Hirxberg gefolgt. Im beginnenden Tagesschweiß den Kaffee schlürfen, während Tauben den Hausrotschwanz kommentieren, der nicht begreift, daß über ihn gesprochen wird. Grauer Himmel, wie ein Deckel über der Wärme. Seit die Fichte gefällt ist, sieht man vom Fenster in der Höhe über den Giebeln den Wald. Die Bäume streben den Hügel hinauf, als wollten sie Erfrischung in der Höhe finden.
Der Verlust der Fichte bekümmert mich. Tags hat sie dem Zimmer Schatten gespendet, Nachts das Mondlicht auf ihren weichen Nadeln gelegen. Eine Karte für Träume, so hat sich immer sich der Bau der Zweige ins Halblicht zwischen Fahrradschuppen und Straßenlaterne gezeichnet. Wenn Wind ging, wurde die Karte lebendig, entstiegen ihr Bewohner, rauschten, von den Hügeln herabgestiegen und bis in den Garten vorgedrungen, ganze Wälder auf. Wenn man jetzt den Grund vorm Haus betrachtet, scheinen die Spuren solchen Besuchs noch immer sichtbar. Wurzelwerk läuft auf den Stumpf zu, der Grund ist gebuckelt, ein Stein verrückt, die Grasnarbe bedeckt tiefer eingeprägte Zeichen.
Man sieht jetzt direkt in die Höfe und Garageneinfahrten gegenüber, man sieht die Häuserfronten, man sieht die Fenster, man sieht Zimmerpflanzen auf den Simsen, man sieht die Fußabtreter vor den Türen. Es hat etwas Schamloses, Zur-Schau-Gestelltes.
Ich denke an alle meine Lieblingsbäume. An die Schwarzkiefern auf dem Rasenstück vor dem Gebäude, in dem ich mein Geld verdiene. An die drei Kiefern in einem von mir seit je beschten Wald, die halb auf dem Weg wachsen, so daß der einen kleinen Schlenker darum herum machen muß. An die Kastanienallee in meiner Heimatstadt. Ich denke an die Bäume, die bereits gefällt sind, an die eine von zwei Linden vor dem Supermarktparkplatz, das einzige Grün in einer höllenhaft-steinernen Straße, die Tage der zweiten Linde sind sicher schon gezählt. Und zwanzig Meter weiter hat eine mächtige Kastanie einst Schatten gespendet; unter ihrem Laubdacht schien sogar der Autolärm sanfter zu klingen. Die zwei Pappeln am Bahnhof, in deren lebendigem Schatten im Sommer die Wartezeit erträglicher war. Mit Ingrimm freut mich, daß die Stümpfe auch nach Jahren noch ausschlagen.
Dr Wald ist wie ein unerschöpfliches Reservoir. Als brauchte man, wenn wieder mal irgendwo ein Baum fehlt, sich einfach nur einen neuen holen. Mich freut der Überfluß in Wäldern, und daß man ständig den Blick wechseln, einzelne Bäume herausgreifen, ja, ihnen Namen geben, oder aber das Ganze als ungeteilte Menge betrachten kann, in der Namen und Erinnerung sinnlos werden. Individuen treten heraus und sinken wieder zurück. Kronen zeigen ihre unwiederholbare Form wie Gesichter von Menschen, und in der Versammlung treten alle diese Stämme, Zweige, all das Laub zu einer großen Einheit zusammen, bilden eine Baumheit, in der der Baum verschwindet, so wie Menschen in der Menschheit verschwinden.
Um diese Zeit trifft man niemanden in dieser Gegend des Waldes. Anfang Juli, das Licht wie gebleichter Knochen, Wolken filtern den Himmel. Von den Vögeln bleibt nur der Zaunkönig und schwarzes Rascheln im Unterholz. Die Wege verschwinden morgens unter Sauerampfer und Brennesseln, tauchen abends im Tal wieder auf. Die Bäche sind verstummt, man blickt in die Täler wie ins Innere abgespannter Trommeln.
Später als gedacht schlägt die Turmuhr im Ort. Die Schläge folgen einander mühsam, jeder nächste leiser als der vorhergehende, scheinen abbrechen, aufgeben zu wollen, bevor die Stunden durchgezählt sind. Kapitulieren vor der Unzählbarkeit der Zeit.

Mitnotiert, 4.7.2018

Um halb sechs Uhr früh bin ich schon unterwegs. Es ist die kühlste Zeit des Tages, aber der Wald hält die Wärme, die unten im Ort zu Tau zerfallen ist, in Büschen fest, unter Laub, entläßt Ströme aus den Poren verfilzter Dickichte. Ich stolpere vor Müdigkeit, wie ich sie im Winter, bei schwarzem Frost, nie empfinde. Keuchende Holzstöße, abplatzende Borke, dicklich eingekochte Tümpel, die Mücken dünngerieben wie Staub. Einer nach dem andern verstummen schon die Vögel. Jede Stimme ist fern, als reichten die Kräfte nicht für die Nähe. Dafür kommen jetzt die anderen, die Zweibeiner, die Bunthemden, Sonnenbrillenträger und Stöckeschwinger vermehrt aus ihren Höhlen gekrochen. Es ist so warm, als hätte die Sonne nachts den Grund von seiner unteren Seite durcherwärmt. Lockeres Gewölk schwimmt kompakteren Schichten der Luft auf, während am Horizont bläulichgraue Kissen über der Kölner Bucht hängen, daß die samtig aufgerauhten Unterseiten, die Strommasten verschluckend, über die Felder schleifen. Nach Süden spannen sich Schlieren über den Himmelsausschnitt zwischen Siebengebirge und Villenabhang. Zwischen den porösen, schaumblasenartigen Rändern der Wolken preßt sich der Himmel besonders glühend hindurch. Die Sonnen verfangen sich in Spinnfäden, Brombeerdornen scheinen die dicke Luft zu zerkratzen, wie Späher hängen die unreifen Früchte überm Weg. Spalten von Grün öffnen sich, der Staub hat Fieber, wie leicht wäre es, hier zu verschwinden, verschluckt von einem fremdheißen Durst. Geduckt unter einen Haselnußbaum steht ein Widder, als wollte er sein gewundenes Horn, das ihm wie ein orthopädisches Korrekturinstrument auf dem Schädel sitzt, vor mir verbergen. Ein Schatten segelt über den Asphalt, eine Pflaume rollt in den Graben, die Luft belaubt sich und knistert, es ist einer von den Sommermorgen, da das Jahr vergißt, daß es noch andere Zeiten hat.

Gefangen im Hobbykeller

Mitten in der Nacht, nachdem auf der Straße ein Mann und eine Frau die Leerung der Mülltonnen am nächsten Tag ausdiskutiert hatten; nach dem Verstummen des anschließenden Rollgeräuschs der Tonnen; nachdem auch der Nachbar mit seinem Gefummel am Auto fertig geworden war; nachdem weitere Nachbarn unter Grunzen und Stöhnen vom Fechttraining nach Hause gekommen, den Waffensack unter meinem Fenster vorbeigeschoben, erst die Haustür, dann die Wohnungstür gegenüber ins Schloß fallen gelassen, ein paarmal wieder geräuschvoll geöffnet und geschlossen, dann mit Rumms endgültig zugeschmissen hatten: Lag ich, nun vollends wach, im Bett, starrte an die Decke, an der der Mond sich noch nicht abzeichnete, lauschte auf den abklingenden Autoverkehr und hatte die traurige Einsicht, daß ich seit Anfang dreißig das Leben eines Rentners führe.