Greinstraße

Wenn das Licht so wie heute Nachmittag aus einer weiten Lichttiefe heraus senkrecht in die Scheiben fällt, bleibt jede Bewegung, die da draußen die Strahlen verwirbelt, aufgezeichnet, huscht als Schatten über die Schrankwand, zieht eine Spur über den Boden, hinterläßt ein seismographischen Beben an den Augenlidern. Vogelschwärme lassen ihren Schatten durch den Raum fallen, Radfahrer mit ihrem Sprühkranz der Speichen wälzen sich träge über den Teppich, während die Äste von Silberahorn und Pappel hinter allem ein leicht bewegtes Muster bilden. In die andere Richtung blickend verglühen ihre Zweige im Sonnenfeuer. Die Ferne teilt sich in Schichten auf. Zuerst die Folie zwischen drinnen und draußen, die Wand, an der sich die Geräusche dieser Stunde, Autolärm, Schritte, später vielleicht abermals Kirchenglocken, brechen und zu einem beständigen, an- und abschwellenden Rauschen ermüden, das manchmal vom Wind unterbrochen wird. Feine Ringe, Schleifen, kreise, Ovale zeigen diese Grenze an, Striche, Läufe und Flecken, die sich zu Zeichen verdichten, einander widersprechen, in Rätselhaftigkeit schweigen und wieder zu Bedeutungslosen Klecksern zerfallen. In einem Streifen weder diesseits noch jenseits, eingespiegelt in eine Zwischenfläche, sammelt sich ein erster, transparenter Schatten, der dem dichten Abriß, wie er über Schrank und Wände huscht, entlang der Fensterscheibe vorausgleitet. Dahinter, schon im Kreis des Lichts, liegt der Raum der Bewegungen, spannt sich die Baumschicht, der Astzaun, von wo die bewegten Dinge mit ihrem Abbild ins Innere hineingreifen. Und noch weiter die Linie der dritten Schicht, vorerst ein dunkler, unregelmäßiger Wall, dessen Ränder später aber, in einer halben Stunde vielleicht, zu glühen beginnen wird, wenn die Sonne beim Untergang darüber hinstreift. Diese helle Nachmittagsstunde ist eine Welt in der Welt, in die der Klang und die Bewegung dessen, was draußen sein mag, unkenntlich und verzerrt wie in einen Traum hineingreifen.

Greinstraße

In der Sonne laufen die Passanten ihren Schatten hinterher: Jemand mit der Krücke, die er aber nicht benutzt, sondern wie eine Wünschelrute vor sich über den Weg hält; eine junge Frau in schwarz und blond überholt ihn, später werden Arbeiter mit blauen Werkanzügen in die andere Richtung vorbeischlendern, Stulle in der Hand, und der Stoff der Anzüge wird in der Sonne leuchten.
Das Laub des Silberahorns ist schütter geworden, während die Pappeln schon alle Blätter verloren haben. Blickauf ist der Himmel von Gezweig gemasert. Einmal die Woche kommt ein Mann mit einem kleinen Fahrzeug, dreht Kreise über den Rasen und bläst mit erheblichem Lärm das Laub zusammen. Ich sehe ihm dabei zu und überlege, daß das Wort „Rechen“ wahrscheinlich bald aussterben wird, zusammen mit dem Gegenstand, den es bezeichnet. Einmal im Monat wird gemäht. Dem Wort „Sense“ wird es ähnlich ergehen wie dem Wort „Rechen“.
Hinter den Häuserreihen jenseits des Parkplatzes schimmert so fern der Himmel, als spiegele er den Ozean, und auch die Luft, Salz und Ozon, kommt frischweg von der See. Vögel auch, Möwen vom Rhein, zerschlitzen Licht und Himmel in pfeilschnelle Striemen.
Wichtige Herren in Krawatte lassen manchmal ihre Aktentasche mit einer lässigen Drehung des Handgelenks aufblitzen, während sie dem Kollegen etwas Wichtiges – daß es wichtig ist, sieht man an ihrem geneigten Nacken, an den hackenden Kiefermuskeln – mitteilen. Dahinter weht ein Fahrradfahrer auf einer unsichtbaren Strömung dahin.
Die Fenster dieses halben Souterrains beginnen auf dem Bodenniveau, das dem, der sich im Inneren aufhält, bis zur Brust reicht. Bis zum Kinn, wenn man am Schreibtisch sitzt. Ab und zu kommt ein Ball samt einem Knäuel Hund angerollt, und der Kies vor der Scheibe zerspritzt. Das gefällt mir. Ich zucke zusammen, ein Erschrecken, ein Blick ins lachende Hundemaul mit Ball, und man fühlt sich aufs Angenehmste daran erinnert, daß man noch lebendig ist.

Der Genitiv und Ende

Heute morgen liest man in der Welt anläßlich des 80sten Geburtstages von Michael Ende (1929–1995), dieser habe in der Unendlichen Geschichte „so manchen Genitiv und so manches aus der Mode gekommene, getragene Verb“ gerettet. Jetzt grüble ich, was der Autor des Artikels damit gemeint haben mag. Ich kann mich jedenfalls an keine unmodischen Wörter erinnern, und auch eine Häufung ungwohnter Genitive ist mir nicht aufgefallen. Vielleicht liegt das daran, daß ich das Buch Anfang der achtziger Jahre las, kurz nach seinem Erscheinen, da war ich zwölf und seit langem schon durch die Schule der Grimmschen Märchen (in Grimmscher Syntax und Wortwahl, versteht sich) gegangen. Wie wir wissen, kennt die Jugend heute aber nicht einmal Wörter wie streitbar oder nach etwas trachten. Aus heutiger Sicht mag daher die Unendliche Geschichte bereits sprachlich altmodisch erscheinen. Übrigens las ich das Buch vor ein paar Jahren ein zweites Mal und war etwas enttäuscht über die für meinen Geschmack recht simple Sprache, von getragenen Verben keine Spur. Was meint also Wieland Freund in der Welt? Ich weiß es nicht. Mit einem unbehaglichen Gefühl denkt man aber, gegen welchen Vergleich ein Buch wie Endes herrlicher Roman „altmodisch“ erscheinen muß. Man fragt sich unwillkürlich, wie es um den Worschatz bei Harry P. oder Bella & Edward bestellt ist, von den Genitiven ganz zu schweigen.

Beim Laufen

Plötzlich flackert da Scheinwerferlicht durch die Bäume, sieht man den fahlen Himmel sich in Windschutzscheiben spiegeln, schimmern metallene Fahrzeugflanken, steht eine Gruppe schwarzuniformierter Männer an einem Lastwagen, der sich beim Näherkommen als Panzerfahrzeug entpuppt.
Unheimlich. Zwei Sendemasten von erheblicher Höhe, 10, 15 Meter, auf Einsatzfahrzeuge montiert, ragen auf. Die ehemalige Straße, wo sonst nur Jogger unterwegs sind oder Fahrlehrer ihren Schülern das Anfahren beibringen, ist abgesperrt. Die Fahrzeuge stehen in den kreuzenden Waldweg hinein und riegeln ihn fast ab, so daß man in den Schlamm der Böschung ausweichen muß.
Ich mag so etwas ja überhaupt nicht. Es reicht schon, um das Gruseln zu lernen, wenn man den Polizeihorden begegnet, die allsamstäglich an einschlägigen Bahnhöfen abkommandiert sind, ich muß nicht auch noch einer Gruppe finster dreinblickender, Krieg spielender Vermummter nach Einbruch der Dämmerung plötzlich im Wald begegnen.
Schon lange nicht mehr im Dunkeln laufen gewesen. Leichtsinnigerweise habe ich die Stirnlampe nicht mitgenommen, und so, das letzte Restlicht am Himmel noch von dichtem Nadelgehölz verschattet, bin ich gut eine Stunde über einen nahezu unsichtbaren Waldweg gestolpert. Nach Einbruch der Nacht ist mit Dunkelheit zu rechnen, weiß der Soldat der Bundeswehr, da ich aber gottlob nicht gedient habe, überrascht die Finsternis einen Ahnungslosen. Da hättem die Vermummten von vorhin mir ja ruhig mal einen Tip geben können.
Später, anhörig des bis ein Uhr früh anhaltenden Hubschraubergedröhns über der südlichen Ville, frage ich mich, ob es da eine Verbindung gibt, und wenn ja, ob man wirklich über dichtbesiedeltem Gebiet den Hubschraubernachtflug üben muß. Ich meine, wo sind wir denn hier, im Hindukusch?

Hieroglyphen im Kristall

Die Hand in der Sonne und der kleine Schatten, den die Finger ins Laub werfen, und zu den anderen Schatten, im Ohr das ganze Jahr, und die bunten Mützen drüben an der Hecke, Limonadenflaschen unter dem Vergessen der Weißbuchen, das ganze Jahr, die Vorgärten mit ihren Marmorstimmen, ein ganzes Jahr, die Wolken im See und dann wieder übers Jahr und übers Feld, die Raben, der Bausch Dunkelheit am Feldrain, das Wort wieder denken, und die Schritte über den Kies knirschen lassen, langsam einen jeden. Nach einem Stein suchen, seiner glatten Kälte, den Adern und Hieroglyphen im Kristall. Die Hände an der Hose abwischen, stehenbleiben. Blumen in den Tonnen, so viele Blumen, die ihr Buntes verschenkt haben, Jahr um Jahr, ihre geliehenen Farben der Erde zurück, diese Töne von Ocker, Schilfhell und Tabakbraun, von Seeschlamm und Kastanienbleich, von Eichelglanz und Eckernstumpf, eine Erinnerung an eine Erinnerung an Farbe. Die Püppchen blicken ins Laub, und die bleichen Photographien, der Marmor mit den Schattentümpeln, es ist, als hätten selbst die Bäume den Blick gesenkt. In den Pfützen regt sich der Schimmer, knapp an den Rand geflackert, von Flämmchen. Ein jedes ein Fensterchen, das ein einsamer Wanderer aus der Ferne des dunkelnden Hanges erblickt, zu spät, rings neigt sich das Tal, das holst du nicht mehr auf. Es riecht der Acker nach Kaminrauch, dir aber bleibt nur der Weg, übers Jahr und übers Feld, morgen war schon, wieder nichts gemerkt, paß auf, nichts wird schneller reif als das gestern, das der heutige Tag sich so mühsam erringt.