Starke Verben im Französischen

Kürzlich beim Stöbern auf der Internetseite der Gesellschaft zur Stärkung der Verben fiel mir wieder ein, wie mein Banknachbar und ich in der Oberstufe im Mathematikunterricht ein neues französisches Verb erfanden. Ausgangspunkt war, daß wir uns angesichts der phantastischen Ereignisse an der Tafel des öfteren ratlos ansahen; irgendwann sagte einer von uns bei einer solchen Gelegenheit Moi, je raffe rien., womit auf Pseudofranzösisch gemeint war, daß die analytische Geometrie in vektorieller Darstellung momentan vor allem eines darstellte, nämlich eine Überforderung unserer intellektuellen Kapazitäten. Als Sprachenerfinder, Grammatikliebhaber und Wörternarr nahm ich das Spiel natürlich begeistert auf. (Vielleicht, denke ich in diesem Moment, wäre es an der Zeit, mal etwas über diese Dinge, über das Spracherfinden nämlich, zu schreiben. Schließlich verdankte ich dieser Liebhaberei mein späteres Studienfach, meinen Studienort und damit alles andere, was an solchen Entscheidungen als Folge noch dranhängt. Ich weiß nicht, warum ich mich hier noch nie damit beschäftigt habe; vielleicht, weil die Folgen wichtiger sind als die Ursache, zumal ich heute an meinen Erfindungen nicht mehr arbeite, seit Jahren schon nicht mehr. Aber zurück zum Thema.) Aus dem Ausdruck Je ne raffe rien ließ sich natürlich sofort ein vollständiges Paradigma zum Stamm raff- herleiten, das wir uns zunächst als das eines regelmäßigen Verbs auf -er, nämlich raffer dachten

je raffe
tu raffes
il/elle raffe
nous raffons
vous raffez
ils/elles raffent

Mit dem Passé Composé: j’ai raffé

Doch dann entdeckten wir (lange, bevor von einer Gesellschaft zur Stärkung der Verben die Rede sein sollte), die Freude an der Verbstärkung, was im vorliegenden Fall bedeutete, daß wir den Stamm raff- nun in eine andere Konjugationsklasse verschoben. Aus raffer wurde so ein raffir, das wie finir gebeugt wurde:

je raffis
tu raffis
il/elle raffit
nous raffissons
vous raffissez
ils/elles raffisse

PC: j’ai raffi

Damit war dann ein hübscher Subjonctif möglich, der sich fast in allen Formen vom Indicatif unterschied:

que je raffisse
que tu raffisses
qu’il/elle raffisse
que nous raffissions
que vous raffissiez
qu’ils/elles raffissent

So war das also damals. Natürlich hätte man noch einen Schritt weiter gehen und sich für den Stamm raff- eine Konjugation ausdenken können, die der von sortir ähnelt:

je rafs [ra]
tu rafs [ra]
il/elle raf [raf]
nous raffons
vous raffez
ils/elles raffent

PC: j’ai raffi

Ein stummes auslautendes -fs ist zwar orthographisch-phonetisch ein bißchen abenteuerlich, aber nicht ohne Vorbild, cf. oefs „Eier“. Jedenfalls wäre dieses Verb a) schön unregelmäßig und b) hätte man dann je rafs (Indicatif) von que je raffe (Subjonctif) abgegrenzt. Voilà.
An diese Dinge mußte ich also denken, als ich neulich auf der Seite der GSV Stärkungen im Englischen (apply, applought, applought) und Lateinischen (laudo, lausi, laustum) entdeckte. So lange es auch her ist, das Verb raffer/raffir hat sich mir unvergeßlich eingeprägt. Konfrontiert mit der analytischen Geometrie indessen müßte ich auch heute noch die Schultern heben und zugeben: Je regrette que je ne raffe rien!

Der Genitiv und Ende

Heute morgen liest man in der Welt anläßlich des 80sten Geburtstages von Michael Ende (1929–1995), dieser habe in der Unendlichen Geschichte „so manchen Genitiv und so manches aus der Mode gekommene, getragene Verb“ gerettet. Jetzt grüble ich, was der Autor des Artikels damit gemeint haben mag. Ich kann mich jedenfalls an keine unmodischen Wörter erinnern, und auch eine Häufung ungwohnter Genitive ist mir nicht aufgefallen. Vielleicht liegt das daran, daß ich das Buch Anfang der achtziger Jahre las, kurz nach seinem Erscheinen, da war ich zwölf und seit langem schon durch die Schule der Grimmschen Märchen (in Grimmscher Syntax und Wortwahl, versteht sich) gegangen. Wie wir wissen, kennt die Jugend heute aber nicht einmal Wörter wie streitbar oder nach etwas trachten. Aus heutiger Sicht mag daher die Unendliche Geschichte bereits sprachlich altmodisch erscheinen. Übrigens las ich das Buch vor ein paar Jahren ein zweites Mal und war etwas enttäuscht über die für meinen Geschmack recht simple Sprache, von getragenen Verben keine Spur. Was meint also Wieland Freund in der Welt? Ich weiß es nicht. Mit einem unbehaglichen Gefühl denkt man aber, gegen welchen Vergleich ein Buch wie Endes herrlicher Roman „altmodisch“ erscheinen muß. Man fragt sich unwillkürlich, wie es um den Worschatz bei Harry P. oder Bella & Edward bestellt ist, von den Genitiven ganz zu schweigen.

Frühreifunreif

Ein seltsames, sich selbst in Verwirrung begegnendes Unausgewogensein aus Verfrüht und Frühreif einerseits und verträumtem Spätdran, ja, schneckenhäuslichem Zurückbleiben andererseits. Das war ich. Manchmal denke ich, das ist es immer noch mit mir, mein Wesenszug, daß ich so uneins mit mir bin, und beheimatet zur selben Zeit in verschiednen Zeiten, Teenager noch, Erwachsener schon, dummer Bub und verstockter Greis in einem.

Kein Wunder, daß ich nicht aus noch ein wußte, Wurde geschlechtsreif im dreizehnten Lenz, las aber noch Kinderbücher. Wunderte mich über meine weiterhin völlig unbeflaumten Körperstellen. Selbstspiel mit 2 entdeckt, mit 20 erst kam es zum Anderspiel. Schockiert, als ich mit 14 eines Nachmittags sehen mußte, daß es sich in den Achselhöhlen der Mädchen erwachsen kräuselte (plötzlich waren es keine Altersgenossinnen mehr, und das schlimmste, meiner übern Augenblick erwachsenen Angebeteten war ich – Kind noch immer – nicht gewachsen, mußte aufgeben, ein Abgrund zwischen uns). Voller Zärtlichkeitswunsch seit 13, aber die Mädchen fremde Wesen, und nie hätte ich den Mut gehabt, eine in Öffentlichkeit zu küssen oder auch nur händchenhaltend durch die wachsamen Gänge des Schulhauses zu wandeln. Ja, noch 22jährig mit der ersten Freundin erinnere ich mich an das Schwindelgefühl, als wir am Morgen nach der ersten Nacht im Café saßen, uns gegenseitig mit den Augen am Ineinanderstürzen hinderten oder unter aller Augen küßten. Unheimlich war das. Schön zwar. Trotzdem schauten in diesen Augenblicken alle uns zu, ich spürte es so deutlich wie das Warme ihrer Lippen. Jugendlicher Widerständler und Oppositioneller, Aufbegehrer und Freiheitskämpfer, doch nie das Bedürfnis, abends mit Gleichaltrigen wegzugehen. Komponierte künstliche Sprachen. Lernte seit der achten Klasse Latein mit dem Feuereifer eines Studenten, wußte mit 14, was ich studieren wollte – aber war zu verträumt, auch nur zu denken, andere Quellen (Uni-Bibliothek) könnten mir offenstehen. Andere Jungs gingen Biertrinken und heimlich rauchen, ich spielte auf der Straße Ritter und schnitzte mir ein Holzschwert. Schwärmte jedoch im selben Alter für Musik von Händel und Pergolesi, und begann, mir Altblockflöte selbst beizubringen. Baute ein Segelschiff aus Pappe, das für Playmobilfigürchen geschaffen war und experimentierte zur selben Zeit mit ausgefallenen Masturbationstechniken. Las den “Herrn der Ringe” neben Prinz-Eisenherz-Heftchen.

Lange war ich furchtbar verliebt in eine Klassenkameradin, die ich irgendwann einem andern Mädchen verkünden hörte, sie „fahre nur auf ältere Jungs ab“. Komisch, ich fuhr nie auf jüngere Mädchen ab. Wohin sollte das führen? Erste Freundin eigentlich mit neun, dann aber erst wieder mit Zweiundzwanzig. Doktorspiele weitestgehend übersprungen, bis auf einen kribbelnd gemeinsamen Klogang. Küssen geübt mit meinem Bruder.

Zerrissenheit will mir als Wort dafür einfallen. Doch vermutlich ist es immer und bei jedem so. Ist es ein Zeichen des Erwachsenwerdens, daß die Dinge plötzlich nicht mehr zueinander passen wollen. Nur: Es scheint sich seitdem so verflixt wenig daran geändert zu haben.