Elternhaus

Beruhigend: Im Schatten einer Bücherwand einschlafen, Frieden finden unter der stillen Gewißheit der Buchstaben. Ihrem jederzeit entnehmbaren Sinn. Wie sie sich sanft anbieten, voller Zurückhaltung, sich nicht aufdrängen, zur Verfügung stehen. Wie sie bis unter die Decke wachsen und ihre Welten hinter Leder und Karton bergen, ins Schweben kommen, während die einbrechende Dämmerung ihre Titel durcheinanderwirft. Ihre Beredheit, hinter höflichem Schweigen versteckt. Das Licht ausmachen und ihre Stimmen losflüstern hören. Das Verläßliche einer solchen Wand. Die geordnete Vielfalt alter und ältester Stimmen, und alles, was schon war, und daß du dem mit den eigenen Schmerzen nichts mehr wirst hinzuzufügen haben. Du warst schon. Sie wissen dich. Angeschaut sein und erkannt und schon aufgehoben zwischen den Zeilen und Absätzen, wenn die Augen zufallen und der Finger aus den Seiten rutscht. Ein ruhiger Schatten über der müden Stirn: Aufgereiht stehen da die stummen Geschichten freundich an die Ränder des Schlafs geneigt; wartende Träume, bereit, sich dem Schläfer zu nähern, wenn er nur will.

Wenn ihr’s nicht fühlt … (verspätet zum Welttag des Buchs)

Daß wir in einer Welt leben, die der Nützlichkeitsgedanke in jeden Winkel hinein beherrscht, wird wieder einmal am Welttag des Buches auf traurige Weise deutlich. Traurig dabei ist nicht, daß viele Menschen gar nicht, oder jedenfalls keine Bücher, lesen. Traurig ist auch nicht, daß viele Menschen lieber Shoppen gehen oder ihr Auto putzen, als es sich mit einem Schmöker auf der Sofaecke gemütlich zu machen. Traurig ist auch nicht, daß viele Menschen sich von einer spannenden Geschichte nicht locken lassen wollen, kalt sind gegen den Zauber der Sprache, der Verführung durch ganze Welten (der Phantasie) nichts abgewinnen können. Wenn ich selbst ein glücklich Verführter bin – was kümmert mich die Sprödigkeit der anderen?

Nein, traurig ist etwas anderes, nämlich wie das Lesen von seinen selbsternannten Rettern auf seine Zweckdienlichkeit reduziert wird. Das Plädoyer von Maura Kelly im Atlantic (zitiert hier) für das Lesen von Belletristik ist typisch für diese Reduktion. „Forscher“, schreibt sie, „haben herausgefunden, daß Testpersonen, die Kafkas ‚Ein Landarzt’ gelesen hatten, […] in einem anschließenden Lerntest besser abschnitten als eine Kontrollgruppe, die nur eine Zusammenfassung des Textes zu lesen bekommen hatte.“ Und deshalb sollen wir also Lesen? Das ist ein bedauerlicher Irrtum, dem Maura Kelly hier aufsitzt. Nicht weil die wissenschaftlichen Erkenntnisse falsch wären, mit denen hier und andernorts vielstimmig das Lesen propagiert wird; sondern weil eine solche Betrachtung des Lesens an der Sache vorbeigeht, den Kern dessen, was Lesen ist verkennt, und den Grund, warum die, die lesen, es überhaupt tun, ignoriert.

Der Verweis, wieviele wertvolle Spurenelemente, sekundäre Pflanzenstoffe und krebshemmende Antioxidantien in der Nudel zu finden sind, liefert allenfalls eine amüsante Nebeninformation für den, der gerade die köstliche Erfahrung von Penne alla boscaiola machen darf. Oder nehmen wir Fußball. Fußballspielen fördert die Beweglichkeit, stärkt die Kondition, ist gut für Koordination und wirkt sich als Mannschaftssportart positiv auf die Teamfähigkeit junger Leute aus. Aber niemand, der gerne Fußball spielt, geht doch aus diesen Gründen auf den Platz! Neuerdings untersucht man ja sogar die gesundheitsfördernden Auswirkungen von Sex. Aber wer ins Bett steigt, um etwas für das Herz-Kreislauf-System zu tun, dem ist, tut mir leid, echt nicht mehr zu helfen.

Und genauso verhält es sich mit dem Buch. Der Genuß der Lektüre, das Glück der langen Stunden beim Lesen, das Abtauchen in eine spannende, merkwürdige oder lustige oder gänzlich verrückte Geschichte, die Erfahrung einer Alternative zur Welt, hat überhaupt nichts mit dem Training von Empathie und Kognition, nichts mit der Förderung der sprachlichen Kompetenzen, nichts mit der Ausbildung sozialer Fähigkeiten zu tun. Aussagen über die Förderung von Kernkompetenzen berühren den Erfahrungsraum des Buches nicht einmal. Man hat den Verdacht, den Leseprogagisten gehe es eigentlich gar nicht ums Buch. Hätte den gleichen Effekt irgendeine andere Tätigkeit, würden sie halt die propagieren. Aber sich durch eine Lektüre zu quälen, weil Pädagogen und Psychologen es empfehlen, ist wie Sex haben, um die Blutgefäße jung zu halten, oder Wein trinken wegen der Antioxidantien. Das Entscheidende wird übersehen. Wer vor der Lektüre fragt, wozu das gut sein soll, braucht gar nicht erst anzufangen.

Worum geht es eigentlich? Um Bastian Balthasar Bux. Dieser leidenschaftliche Leser entwendet am Beginn des Romans Die unendliche Geschichte ein Buch mit eben diesem Titel aus einem Antiquariat. Der Grund: Bastian sehnt sich nach einer Geschichte, die niemals endet, weil am Ende des Buchs der Abschied von der Geschichte und ihren Helden immer so herzzereißend ist. Und hier ist nun eine Geschichte, die verspricht, ihm den Genuß zu bescheren und den Schmerz zu ersparen. Jeder echte Leser weiß, wie es Bastian in diesem Augenblick ums Herz ist. Was fühlt Bastian, während er, sonst alles andere als mutig, nach dem Buch greift um es zu entwenden? Ist er vom Verlangen bewegt, seine kognitiven Fähigkeiten aufzupolieren? Oder geht es ihm um etwas, wovon Maura Kelly und die Mitglieder der Stiftung Lesen nicht zu träumen wagen würden?

Mag sein, es stimmt, Lesen fördert dies und das, macht uns schlau und empathiefähig (und läßt uns, darum geht es doch wohl? im Bewerbungsgespräch besser aussehen), aber das ist nicht der Punkt. Kein begeisterter Leser, niemand, der einmal (wie Bastian) bis zum Morgengrauen aufblieb, weil es so spannend war, wird Bücher aus diesem Grund lesen. Ok, lesen ist nützlich. Aber wir lesen nicht, weil es nützlich ist. Wir würden auch lesen, wenn es nicht nützlich wäre. Vielleicht lesen wir sogar, weil es nicht nützlich ist. Und jetzt kommt’s: Wir würden sogar lesen, wenn es schädlich wäre. Denn wir sind süchtig. Lesen hat etwas mit Nicht-anders-Können, mit Begeisterung zu tun. Mit Hingabe. Mit Faszination. Kurzum, mit Leidenschaft. Und die läßt sich keinesfalls durch Hinweise auf etwaige Verwertbarkeiten wecken. Wem Wein und Rausch nicht behagen, kann sich die Antioxidantien sparen. Wenn ihr’s nicht fühlt, ihr werdet’s nicht erjagen. Die Leser brauchen keinen Welttag des Buchs. Die Nichtleser auch nicht. Wozu gibt es ihn dann?

Denn warum sollte man die Leidenschaft bei Nichtlesern überhaupt wecken? Für den leidenschaftlichen Briefmarkensammler hält das Sammeln von Postwertzeichen sicher ein ebensolches Entzücken bereit wie für den Leser ein gutes Buch. Trotzdem macht sich niemand Gedanken darum, mehr Menschen fürs Sammeln zu begeistern, obwohl es wahrscheinlich die Wahrnehmung schärft und das optische Gedächtnis schult. Warum sollte man also Nichtleser ans Lesen heranführen und das frustrierende Unternehmen angehen, einen Nichtleser zum Leser zu konvertieren? Wer, außer dem Buchhandel, hat etwas davon? Die Kognitionsfähigkeit läßt sich sicher auch Schachspielen fördern. Es ist wie der verrückte Plan, mehr Hörer für die Klassische Musik zu gewinnen. (Wahrscheinlich fördert Beethoven die Empathiefähigkeit.) Als litte der Konzertbetrieb unter mangelnder Zuhörerschaft. Es gibt genug Mozartfans. Und es gibt genug Leser. Vielleicht gibt es nicht genug Käufer, die die Bücher subventionieren für diejenigen, die sie auch lesen. Aber das ist eine andere Frage. Man darf jedenfalls vermuten, daß Nichtleser aus guten Gründen nicht lesen. Wenn sie dem Lesen etwas abgewönnen, hätten sie längst damit angefangen. Bücher sind ubiquitär, sie liegen überall rum. Es gibt Leihbibliotheken und öffentliche Bücherschränke, es gibt Bookcrossing und das Projekt Gutenberg. Jeder hat heutzutage Zugang zur Literatur, und die Existenz von Büchern ist wahrlich kein Geheimnis. Wer ein Leser ist, der liest. Der braucht keine Aufforderung. Und wer nicht liest? Liest halt nicht. Und wenn schon, laßt sie. Philatelie oder Schach ist auch nicht jedermann Sache. Greif zu, schlag auf, tolle lege. Wenn du willst. Und wenn du nicht willst, spiel lieber Fußball. Das ist gut für die Kondition und die Teamfähigkeit. Warum aber sollte ich jemandem etwas Gutes angedeihen lassen wollen, das der gar nicht haben will?  Der Eifer, mit dem Nichtleser zum Buche bekehrt werden sollen, hat etwas Missionarisches. Es wird das Buch gepriesen als ginge es um nichts weniger als um das Seelenheil derer, die (noch) nicht lesen. Nichtleser scheinen ein Dorn im bibliophilen Fleisch der Literaturmissionare zu sein. Es läßt ihnen keine Ruhe.

Kinder, klar. Natürlich muß man Kindern Bücher anbieten. Dringend. Wie soll jemand herausfinden, ob Lesen etwas für ihn ist, wenn die Bücher außer Reichweite sind, in einem Alter, in dem man sie sich nicht selbst beschaffen, ja, noch nicht einmal wissen kann, daß es etwas so Wundervolles überhaupt gibt. Wer Bücher nicht früh kennenlernt, kommt dann später vielleicht auch nicht mehr auf den Trichter. Also die Bücher herangeschafft! Und den Kindern vorgelesen, solange sie es noch nicht selbst können! Aber nicht, um ihre kognitiven Fähigkeiten zu stimulieren. Sondern, um ihnen nichts weniger als die Erfahrung eines Wunders anzubieten. Ob sie diese Erfahrung dann machen, ist eine andere Frage. Vielleicht läßt sie das Wunder kalt. Und halten Sie sich fest: Das wäre gar nicht schlimm. Nur die Möglichkeit, die darf niemandem vorenthalten werden. Und wer das Wunder einmal erfahren hat, wird nie wieder von den Büchern lassen.

Was soll man

nun davon halten. Prankt doch auf einer Taschenbuchausgabe des Romans Sturmhöhe, die man in einer Filiale einer großen Buchandelskette, welche sich nach der griechischen Muse des Theaters benannt hat, aus dem Regal zieht, prankt da also auf dem Buchdeckel, gut sichtbar rechts unter dem Titel, etwas, das die Werbefritzen in einer für die Branche seltenen Einsicht und Unverblümtheit „Störer“ nennen. Ein kleines, rotes Aufkleberchen. Darauf steht in schwarzen Lettern geschrieben:
„Lieblingsbuch von Bella und Edward!“
Das erinnert mich an das Jahr 1990, als es manchen Buchhandlungen einfiel, auf druckfrische Ausgaben von Max Frischs Homo Faber ein Aufkleberchen mit dem Vermerk „Das Buch zum Film“ anzubringen. Man darf sich die Frage stellen, welche LeserKäuferschaft die Handelskette im Falle von Sturmhöhe mit sochen Hinweisen anzulocken hofft.
Anders formuliert: Wie groß mag wohl die Schnittmenge aus der Mengen der Stephenie-Meyer-Leser und der Menge der Emily-Brontë-Leser sein …?

Wie sehr …

… muß man sich eigentlich langweilen, daß man sich derart hartnäckig an diesem banalen Thema abarbeitet, als wär’s ein Rettungsring in einer See des ennui?

Seit zwei Wochen beschäftigt Hegemann jetzt die Feuilletons. Offensichtlich gibt es derzeit nichts Spannenderes. Möge jeder seine eigenen Schlüsse daraus ziehen.

Ich kann …

… es so langsam nicht mehr hören, wie sämtliche rezensenten oder solche, die sich dafür halten, auf Helene Hegemann rumhacken. als gäbe es kein fruchtbareres thema, wird blogauf blogab das ganze waffenarsenal von parodie bis polemik aufgefahren. man wünschte sich, die damen und herren würden so viel einfallsreichtum ihren hausaufgaben zukommen lassen. sucht euch endlich einen anderen wetzstein für eure stilistikübungen. wenn jetzt jeder rechtschaffene blogger nach allem, was schon gesagt und geschrieben worden ist, sich berufen fühlt, frau Hegemann auch noch in eigenem namen abzuurteilen, ist das so wie damals, als ein B. Kerner frau Eva Hermann eigens zu sich in die sendung lud, nur um sie höchst wirksam wieder rauswerfen und sich selbst zum moralischen retter der nation aufspielen zu können.
eure bissigkeit ist wohlfeil und kindisch.
ihr langweilt mich.

Der Genitiv und Ende

Heute morgen liest man in der Welt anläßlich des 80sten Geburtstages von Michael Ende (1929–1995), dieser habe in der Unendlichen Geschichte „so manchen Genitiv und so manches aus der Mode gekommene, getragene Verb“ gerettet. Jetzt grüble ich, was der Autor des Artikels damit gemeint haben mag. Ich kann mich jedenfalls an keine unmodischen Wörter erinnern, und auch eine Häufung ungwohnter Genitive ist mir nicht aufgefallen. Vielleicht liegt das daran, daß ich das Buch Anfang der achtziger Jahre las, kurz nach seinem Erscheinen, da war ich zwölf und seit langem schon durch die Schule der Grimmschen Märchen (in Grimmscher Syntax und Wortwahl, versteht sich) gegangen. Wie wir wissen, kennt die Jugend heute aber nicht einmal Wörter wie streitbar oder nach etwas trachten. Aus heutiger Sicht mag daher die Unendliche Geschichte bereits sprachlich altmodisch erscheinen. Übrigens las ich das Buch vor ein paar Jahren ein zweites Mal und war etwas enttäuscht über die für meinen Geschmack recht simple Sprache, von getragenen Verben keine Spur. Was meint also Wieland Freund in der Welt? Ich weiß es nicht. Mit einem unbehaglichen Gefühl denkt man aber, gegen welchen Vergleich ein Buch wie Endes herrlicher Roman „altmodisch“ erscheinen muß. Man fragt sich unwillkürlich, wie es um den Worschatz bei Harry P. oder Bella & Edward bestellt ist, von den Genitiven ganz zu schweigen.

Zum Welttag des Buches: Anmerkungen

Die Bücher haben uns überholt.
Mehr Bücher zu produzieren, als man zu lesen vermag, kann dreierlei bedeuten. Erstens, schnell war es vorbei damit, daß ein einzelner Mensch, wenn er lange genug lebte und die Schwierigkeiten in der Beschaffung und Information meisterte, die gesamte literarische Produktion der bekannten (bzw. der Latein oder Griechisch sprechenden) Welt nicht nur überblicken, sondern auch lesen und begreifen konnte. Die aktuelle Produktion, sowie alles, was bislang überhaupt geschrieben worden war. Der Punkt, wo dem Leser die Menger der insgesamt vorhandenen Bücher über den Kopf wuchs, dürfte schon in der Antike selbst erreicht worden sein. Da wurde zum ersten Mal der Einzelne von den Büchern überholt, unaufholbar: Die Bücherzahl im Wachsen, die Lebenszeit im Schwinden begriffen, libri multi, vita brevis.
Heute, zweieinhalb tausend Jahre später, haben wir uns mit so vielen Büchern umgeben, daß, selbst wenn ab sofort kein weiteres Buch mehr erschiene, die Menschheit für Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte, Lesestoff hätte. Und, da ja, die uns nachfolgen, den ganzen Stapel frisch nachzuarbeiten haben, müßte man eigentlich gar keine Bücher mehr schreiben. Ja, womöglich haben wir mit der Produktion von Büchern schon einen Punkt erreicht, wo sie uns zum zweiten Mal ein- und überholen, wenn es nämlich stimmt, daß wir nicht einmal mehr gemeinsam die Menge an entstehenden Büchern stemmen könnten.
Das bedeutet etwas Trauriges und Beunruhigendes: Einige bleiben ungelesen. Und zwar, weil ja ständig noch weitere Bücher nachwachsen, für immer.
Die dritte Welle der Überholung wäre dann erreicht, wenn die Menge der für immer ungelesenen Bücher die Menge der gelesenen oder noch lesbaren übersteigt. Man stelle sich mal die stumme Flut an Personen, Welten, Landschaften, Ereignissen vor, wie sie, unentdeckt, ungeschaut, verborgen hinter haus- und turmhoch gestapelten Buchdeckeln, ja, was? existieren? Latent sind? Abrufbereit warten? Liebesaffären, Verrat, Intrige, Freundschaft, verrückte Erfindungen, traurige Entdeckungen, glitzernde Waghalsigkeiten. Reisen zum Andromedanebel, sprechende Austern, Barackensiedlungen in den Slums von Köln, die Reisebeschreibungen des Pseudo-Apollodor. Wälder, Städte, Straßen. Sprechende Pudel, denkende Gartenpfosten, Zauberer, tiefste Vergangenheit und unsere eigne Zukunft. Wahres, Falsches, Geträumtes. Nacht der drei Monde, die Veilchen des letzten Sztumbanen … Verschlossen hinter Buchdeckeln, vom banalsten Liebesgestöhn bis zum Stein der Weisen, absichtlich oder unabsichtlich zu entdecken.
Angesichts einer solchen ins Unermeßliche wachsenden Geschichten- und Weltenflut darf man wohl sagen, daß sich unsere eigene, sogenannte wirkliche Welt immer kleiner ausnimmt und bedeutungsloser, marginal im Wortsinne, eine Randnotiz zu einem gigantischen Roman der Romane, eine Fußnote im 135.811.374.374ten Erzählband, eine in Parenthese geäußerte Vermutung in irgendeiner Essaysammlung, wo war sie noch gleich …? Ein Geschmier, das man zuerst für Pennälergekrakel hält, ein Anhang zum ersten Prolog des Inhaltsverzeichnisses, immer kleiner und winziger wird die sogenannte wahre Geschichte, entpuppt sich als Nebensache, gerät zwischen fremde Seiten, rutscht nach unten, bis sie irgendwo in der Flut der Publikationen verschwindet, drei Punkte, ein Auslassungszeichen …
„Hast du das gelesen?“ – „Was?“ – „Na, dieses Büchlein hier …“ –„Nee, keine Zeit, du weißt schon.“ – „libri multi …?“ – „… vita brevis…“

Anmerkungen zum Welttag des Buches

Die Bücher haben uns überholt.
Mehr Bücher zu produzieren, als man zu lesen vermag, kann dreierlei bedeuten. Erstens, schnell war es vorbei damit, daß ein einzelner Mensch, wenn er lange genug lebte und die Schwierigkeiten in der Beschaffung und Information meisterte, die gesamte literarische Produktion der bekannten (bzw. der Latein oder Griechisch sprechenden) Welt nicht nur überblicken, sondern auch lesen und begreifen konnte. Die aktuelle Produktion, sowie alles, was bislang überhaupt geschrieben worden war. Der Punkt, wo dem Leser die Menger der insgesamt vorhandenen Bücher über den Kopf wuchs, dürfte schon in der Antike selbst erreicht worden sein. Da wurde zum ersten Mal der Einzelne von den Büchern überholt, unaufholbar: Die Bücherzahl im Wachsen, die Lebenszeit im Schwinden begriffen, libri multi, vita brevis.
Heute, zweieinhalb tausend Jahre später, haben wir uns mit so vielen Büchern umgeben, daß, selbst wenn ab sofort kein weiteres Buch mehr erschiene, die Menschheit für Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte, Lesestoff hätte. Und, da ja, die uns nachfolgen, den ganzen Stapel frisch nachzuarbeiten haben, müßte man eigentlich gar keine Bücher mehr schreiben. Ja, womöglich haben wir mit der Produktion von Büchern schon einen Punkt erreicht, wo sie uns zum zweiten Mal ein- und überholen, wenn es nämlich stimmt, daß wir nicht einmal mehr gemeinsam die Menge an entstehenden Büchern stemmen könnten.
Das bedeutet etwas Trauriges und Beunruhigendes: Einige bleiben ungelesen. Und zwar, weil ja ständig noch weitere Bücher nachwachsen, für immer.
Die dritte Welle der Überholung wäre dann erreicht, wenn die Menge der für immer ungelesenen Bücher die Menge der gelesenen oder noch lesbaren übersteigt. Man stelle sich mal die stumme Flut an Personen, Welten, Landschaften, Ereignissen vor, wie sie, unentdeckt, ungeschaut, verborgen hinter haus- und turmhoch gestapelten Buchdeckeln, ja, was? existieren? Latent sind? Abrufbereit warten? Liebesaffären, Verrat, Intrige, Freundschaft, verrückte Erfindungen, traurige Entdeckungen, glitzernde Waghalsigkeiten. Reisen zum Andromedanebel, sprechende Austern, Barackensiedlungen in den Slums von Köln, die Reisebeschreibungen des Pseudo-Apollodor. Wälder, Städte, Straßen. Sprechende Pudel, denkende Gartenpfosten, Zauberer, tiefste Vergangenheit und unsere eigne Zukunft. Wahres, Falsches, Geträumtes. Nacht der drei Monde, die Veilchen des letzten Sztumbanen … Verschlossen hinter Buchdeckeln, vom banalsten Liebesgestöhn bis zum Stein der Weisen, absichtlich oder unabsichtlich zu entdecken.
Angesichts einer solchen ins Unermeßliche wachsenden Geschichten- und Weltenflut darf man wohl sagen, daß sich unsere eigene, sogenannte wirkliche Welt immer kleiner ausnimmt und bedeutungsloser, marginal im Wortsinne, eine Randnotiz zu einem gigantischen Roman der Romane, eine Fußnote im 135.811.374.374ten Erzählband, eine in Parenthese geäußerte Vermutung in irgendeiner Essaysammlung, wo war sie noch gleich …? Ein Geschmier, das man zuerst für Pennälergekrakel hält, ein Anhang zum ersten Prolog des Inhaltsverzeichnisses, immer kleiner und winziger wird die sogenannte wahre Geschichte, entpuppt sich als Nebensache, gerät zwischen fremde Seiten, rutscht nach unten, bis sie irgendwo in der Flut der Publikationen verschwindet, drei Punkte, ein Auslassungszeichen …
„Hast du das gelesen?“ – „Was?“ – „Na, dieses Büchlein hier …“ –„Nee, keine Zeit, du weißt schon.“ – „libri multi …?“ – „… vita brevis…“

Endlich!

„Πιστή στον επταετή κύκλο της, η Ζυράννα Ζατέλη έχει σχεδόν έτοιμο (640 από τις 680 συνολικά σελίδες) το νέο της μυθιστόρημα Το πάθος χιλιάδες φορές που αποτελεί τον δεύτερο τόμο της τριλογίας Με το παράξενο όνομα Ραμάνθις Ερέβους. Ο πρώτος τόμος, με τίτλο Ο θάνατος ήρθε τελευταίος, είχε κυκλοφορήσει τα Χριστούγεννα του 2001. Δουλεύοντας αυτόν τον καιρό σκληρά, στις διορθώσεις και στα δοκίμια του καινούργιου μυθιστορήματός της, η Ζυράννα («la Zyranna nationale», όπως την είχε αποκαλέσει η εφημερίδα Le Monde) δεν διστάζει να δηλώσει ότι αυτό το βιβλίο «είναι το πιο ζόρικο και το πιο απολαυστικό παιδί» της. Εχοντας δει μερικές σελίδες, νομίζω ότι είναι το πιο γερό βιβλίο της. Ξαναβρίσκουμε εδώ, με ανυπομονησία μετά την αναμονή των επτά χρόνων, τον κόσμο της Ζυράννας Ζατέλη, ένα μοναδικό σύμπαν που το στοιχειοθετούν αλλόκοτες ιστορίες και το κατοικούν η γλώσσα, η φύση και ζώα με ανθρώπινες ιδιότητες. Αλλωστε στο σπίτι της περιοχής του Μακρυγιάννη όπου κατοικεί η Ζυράννα μαζί με τις γάτες της Σέρκα (από το όνομα ήρωά της) και Ζαΐρα αναρωτιέται κανείς ποιος φιλοξενεί ποιον: η Ζυράννα τις γάτες ή οι γάτες τη Ζυράννα; „

„Ihrem Siebenjahreszyklus getreu hat Siranna Sateli ihren neuen Roman Το πάθος χιλιάδες φορές (Die Leidenschaft tausend Mal), zweiter Teil der Trilogie Με το παράξενο όνομα Ραμάνθις Ερέβους, Mit dem seltsamen Namen Ramanthis Erebus), fast fertig (640 von insgesamt 680 Seiten). Der erste Teil (Ο θάνατος ήρθε τελευταίος, Der Tod kam zuletzt) erschien Weihnachten 2001. Derzeit arbeitet die von der Zeitung Le Monde „La Zyranna nationale“ genannte Schriftstellerin hart an den Korrekturen ihres neuesten Romans und erklärt ohne zu zögern, dies sei ihr anstrengendstes und zugleich genußvollstes Kind. Nach der Lektüre mehrerer Seiten glaube ich, daß es ihr stärkstes Buch ist. Gespannt nach der siebenjährigen Wartezeit findet man darin die Welt Siranna Satelis wieder, ein einzigartiges Weltall, in dem es von seltsamen Geschichten spukt, und das von der Sprache, von der Natur und von Tieren mit menschlichen Eigenschaften bevölkert wird. Übrigens fragt man sich ja, wer wen beherbergt in jenem Haus im Makrygiannis-Viertel, wo Siranna Sateli mit ihren Katzen Serka (nach einer ihrer Romanfiguren) und Zaira wohnt: Sateli die Katzen oder die Katzen Sateli?“

Heißt es in der Ausgabe von To Bema (TO BHMA) vom vergangenen Sonntag (7.9.2008) in einer Kurzmitteilung.

Andernach–Brohl

Vom bahnhof Andernach (der kiosk geschlossen, die glastür voller dunkler spiegel) geht man zuerst an den taxis vorbei, in richtung stadtkern, eine lange, von bäumen gesäumte straße hinunter, bis zu einem kreisverkehr, dort schräg hinauf, und wenn man aufpaßt, begegnet hier schon die erste markierung. halb wußte ich ja noch den weg von letztem sommer, nur hätte ich rückwärts laufen müssen, um alles wiederzuerkennen, jenen vorgarten, hier ein hübsches fenster mit gemütlichkeit, die nichts von mir wissen will, dieses wegekreuz mit dem rosa jesus daran, aber auch das aufmerksamste rückwärtsgehen hätte mich nicht zurückgebracht. Steil geht es am Ortsrand aufwärts, unter dem gedröhn eine schnellstraße hindurch, betonpylone, schwindelnde kurven, dann eine unterführung, deren dunkelheit das auge blendet, später dichtes kraut neben dem weg, das gedröhn des schnellwegs rankt sich den kamm herauf.
tief unten der Rhein, unsichtbar, hinter den perlenschnüren der buchfinken versteckt. Der weg wird noch steiler. müßte hier nicht? ja, da ist es, das Cafe. die aussichtsplattform hatte ich vergessen. ich trete ans geländer und lasse mein auge in die tiefe stürzen. ein greller dunst liegt über Andernach, das wasser ergießt sich strahlend in den himmel, die weinberge wie aus papier, vor den füßen schwimmt ein schiff lautlos stromauf wie laub.
glocken schwingen sich herauf, und plötzlich ist alles ganz fern. der fluß wie ein kreisel. und aus der tiefe steigt, aus silber herausgetropft, ein schwarm möwen auf.
Von dort zum hochkreuz ist es eine halbe stunde, ein ebener weg auf dem höhenzug entlang, ein fuß immer im rhein, der andere halb in den feldern. schießlich ein hohlweg steil hinauf zu einer lichtung mit grillplatz und einer zum feld hin freien seite, dort das kreuz, ein pompöses ding aus holz, riesenhaft und künstlich, mit der aufschrift „im kreuz ist heil“. merkwürdig. der roggen hat gerade geblüht, die apriltrockenheit scheint ihm nicht geschadet zu haben, stramm stehen die ähren, ich pflücke eine auf, weil ich es noch nie getan habe. erstaunlich filigran und verschachtelt, so ein halm, so eine ähre, so eine verblühte roggenblüte, viele häutchen um eigentlich nichts (außer weiteren häutchen), und man fragt sich, wie daraus mal ein korn werden soll.
vom brot ganz zu schweigen, aber das ist eine andere geschichte. ich denke daran, wieviel arbeit und mühe die normalen dinge wirklich kosten, und werfe übermütig eine handvoll roggenblüten in den wind.
schon seit einer halben stunde brüllt ein rind. kein muhen, ein brüllen ist das, wild, ungestüm, bockig. von seinen sirenenartigen stößen hallen die grüngewellten hügel wider. derweil lasse ich wasser an einem feld, das mit hülsenfrüchten bestellt ist. ein solches gewächs habe ich noch nie gesehen, brusthohe büsche voller schoten. falsch, denke ich, es sind hülsen. ich knacke eine hülse auf und begutachte die körner, klein, grün und glatt wie pfeffer, was das mal werden soll? erbsen? ich werfe die schote fort; dann biege ich falsch ab und komme an einem gehöft aus, das rind brüllt immer noch, ich ziehe die karte zu rat und kehre um.
als ich die kreuzung wieder erreiche, ist mein wasser verdunstet, und was nicht verdunstet ist, das hat die erde in sich aufgenommen. die sonne verklebt hinter wolken, kein lüftchen, die schatten enggerückt, vom weg schlägt die wärme zurück ins gesicht. endlich der bach, schlammiges glitzern am ende eines halb zugewachsenen pfades durch niedrigen laubwald. selbst der schatten fühlt sich klebrig an, insekten schwirren, alle zwei schritte zerreißt man spinnweben, wischt man sich eine winzige fliege vom schweißnassen arm. heiß war es auch vor einem jahr.
die bücher von damals fallen mir wieder ein. ich orientiere mich zeitlich an büchern, sie sind so etwas wie wegemarken, begleiter, kilometersteine, und, wenn die lektüre glückt, herbergen. ich glaube, es war „The Biographer’s Tale“ von A. S. Byatt. aber es war später im jahr, mitte juli denke ich. und ich lief nach Andernach nicht von Andernach. und ich photographierte eine ruine in einem verwunschenen garten, es war einer von jenen gärten, wie sie in den geschichten vorkommen, die man als kind liest. eine sanft abschüssige wiese, von einer mauer geborgen, der schatten eines baums, lichter im gras und in der dämmervollen tiefe ein haus, ein turm, ein schloß. welche geschichte hier ihren anfang nahm, das habe ich vergessen. aber manchmal strömt ein ort so ein gefühl aus, als sei man ihm schon einmal in der eigenen phantasie begegnet. wenn es keine geschichte dazu gibt oder man sie nicht mehr wiederfindet, denke ich, während ich dem bachlauf in richtung Brohl folge und der autolärm die geräusche des waldes zurückdrängt, dann müßte man sich eine solche geschichte erfinden.