Halb sechs, letzte Stunden des Jahres. Vereinzelte Böller platzen nah und fern. Sonst ist es still. Das Treppenhaus kehrt in seinen eigenen Wendeln wieder. Sehr fern murmeln die Straßen. Um halb fünf sind Glocken gewesen, lange, festlich und traurig, wie Glocken immer sind. Ich höre vor allem das Traurige darin, die Sehnsucht, den Ausdruck eines unbenennbaren Verlustes, die Erinnerung an etwas, das einmal war, gestern, letztes Jahr, vor Jahrhunderten, und jetzt nicht mehr ist. Einmal, denkt man, müssen die Glocken anders geklungen haben. Tosend, jubelnd, zornig, selbstgerecht, hoffnungsvoll, panisch, freudig. Als das, was sie jetzt beklagen, noch nicht verloren war und sie auf nichts zeigten als auf die Gegenwart. Ich bin ein Kind, das die Nase an einer kalten Scheibe plattdrückt und in die Winterdämmerung hinausschaut, sehnsuchtsvoll, und es weiß nicht, wonach, und die verschneite Welt birgt diese hallenden, wogenden, klagenden Stimmen, irgendwo weiß vielleicht irgendwer, was verloren ging, und warum die Glocken so traurig sind. Das Gesicht spiegelt sich im Glas, ein Atemhauch fliegt darüber, noch ein Glockenschlag und noch einer, träger jetzt, mit längeren Pausen, wie ein Schluchzen, das sich langsam erschöpft. Schon damals, schon in der Kindheit, war alles voller Vergangenheit und Stunden wie diese, da die Abendglocken schlugen und ich vielleicht Fieber hatte oder Husten, angefüllt mit einer Trauer, von der ich gar nichts wissen konnte. Als würde ich mich nach eben der Kindheit bereits zurücksehnen, die ich gerade erlebte. Als würde ich Zeuge meiner eigenen dereinstigen Vergangenheit. Als wüßte ich schon, daß dieser Blick in die Winterwelt, über die der Glockenschlag sich in Wellen breitete, einer viel späteren Zeit angehörte; als sähe ich mich selbst von sehr, sehr fern, als das lang versunkene Kind, das ich in diesem Moment noch war. Das, was ich erlebte, war unendlich kostbar, und zugleich war unbegreiflich, warum es so kostbar war. Es war etwas, das ich verlieren würde, bevor ich es besäße, etwas, das ich erst wissen würde, wenn ich es vergessen hätte. Etwas, das ich in genau diesem Augenblick verlor, als der letzte Glockenschlag bebend in der Dunkelheit verklang.
Monat: Dezember 2024
Haareis (Für L.)
Unbefleckt
Man kann, wie Antje Schrupp das tut, die jungfräuliche Empfängnis Mariens mit dem Hinweis, es sei inakzeptabel, den Wert einer Frau an ihrer sexuellen Vergangenheit bemessen zu wollen, in Bausch und Bogen als patriarchalen Feuchttraum ablehnen — oder man nimmt die Geschichte ernst: dann bleibt man für andere Deutungen offen, die vielleicht nicht historisch-exegetisch zu verteidigen sind, aber dennoch prima Sinn ergeben. Wie es ja die Natur von guten Geschichten ist, offen für alle möglichen Deutungen zu sein. Die jungfräuliche Empfängnis steht für das Unmögliche, das im Wunder möglich wird. Sie ist so unmöglich, wie es unmöglich ist, daß Farn blüht, Vögel Milch geben oder Hasen Eier legen. Sie widerspricht jeder biologischen Erfahrung. Ist die Welt auch gesetzmäßig eingerichtet, so zeigt sich Gott in der Jungfrauengeburt als der, der an die eigenen Gesetze nicht gebunden ist. (Denn für Gott ist nichts unmöglich, Lk 1, 37.) Was aus menschlicher Sicht schon die ganze Welt schien, erweist sich als unvollständig, erweist sich als begrenzt, erweist sich gegenüber dem, was Gott ist, verarmt, des Wunders bedürftig. Man könnte salopp sagen, da ist noch Luft nach oben. Die Geburt Jesu durch eine Jungfrau ist eine Revolte gegen den Verstand und gegen das vermeintliche Wissen, das die Welt für vollständig hält. Die Welt stellt sich als unvollständig, als größer, viel größer heraus, als wir glaubten. Das Wunder ist der Ort, wo Gott diese größere Wirklichkeit für einen Moment aufscheinen läßt, indem er die Oberfläche, auf der wir leben und die wir für alles halten, als Willkürakt durchstößt. Als Zeichen seines Willens, der, an keine Kausalkette gebunden, eine eigene neue initiieren kann.
Freilich tut es zu diesem Zweck jedes beliebige Wunder. Gott hätte Jesus auch mit einem Schaf zeugen, ihn aus dem Oberschenkel Josephs heranwachsen oder ihn aus einer Schaumkrone ans Ufer spülen lassen können. Narratologisch-theologisch stellt sich das Problem, daß Gottes Sohn zwar das irdische Dasein mit allen Konsequenzen antreten, daß er ein Mensch aus Fleisch und Blut sein, daß er schwitzen und hungern und leiden, daß er den Härten des Irdischen unterworfen sein muß wie der Rest der Menschheit. Andererseits muß aber auch irgendwo die göttliche Herkunft durchschimmern, muß es irgendwo nicht mit rechten Dingen zugehen. Zu göttlich, und man glaubt dem Gottessohn sein Ausgeliefertsein an die irdische Natur nicht mehr: schließlich sind nach griechischer Erzähltradition alle von Göttern mit Sterblichen gezeugten Kinder nicht ganz von dieser Welt, haben einige interessante Eigenschaften ihren Mitgeschöpfen voraus oder sind gleich selbst Götter oder zumindest gottgleiche Wesen, jedenfalls kraft ihrer Herkunft auf die eine oder andere Weise privilegiert. Ein solches Privileg darf Jesus nicht haben, sonst fällt die theologische Konstruktion in sich zusammen. Die Fleischwerdung wäre quasi gemogelt. Aber ein kleines Wunder muß schon auch sein, sonst glaubt man die Vaterschaft nicht. Wenn nun schon das Gezeugte recht normal zu sein hat, verlegt man das Wunder eben, zwar nicht in die Mutter, aber immerhin in den Vorgang der Zeugung selbst.
Auch seltsame Zeugungsvorgänge haben eine gute Tradition im Mythos. Wie genau soll etwa Zeus in Gestalt eines Schwans Leda geschwängert haben? Oder Danae — recht abstrakt — in der Körperlichkeit eines, ähm, Goldregens? (Ein Schelm, wer hier an golden shower denkt.) Von Kopf-, Schenkel- und Schaumgeburten mal ganz zu schweigen. Ich nehme an, die Griechen hätten über das Gewese, das Theologen, Kirchenkritiker, Häretiker und neuerdings Feministinnen über die Jungfrauengeburt machen, angesichts etwa der Zeugung des Orion nur mit den Achseln gezuckt. Aber der Gott der Juden ist theologisch von ganz anderem Kaliber; dieser Gott ist so unfaßbar, daß die Schnittstelle zwischen Göttlichem und Menschlichem zum Problem wird. Will man ihn in einer Erzählung Vater werden lassen, muß man mit äußerster Vorsicht zu Werke gehen. Man kann diesem hinsichtlich Gestalt, Wesen, Natur ziemlich zurückhaltenden Gott nicht einfach einen Penis andichten. Daß Zeus einen hatte, daran besteht wohl kein Zweifel, zumindest berichtet der Mythos deutlich genug von göttlichen Ejakulationen. Da ist eine Menge Fleisch, wenn auch göttliches Fleisch im Spiel, wenn Götter zur Zeugung schreiten. Aber der alttestamentliche JHWH? Man tut sich schwer bei der Vorstellung, Gott habe bei Jesu Zeugung mit einem Penis in Marien Schoß herumgefuhrwerkt, sei dabei etwas grob zu Werke gegangen und habe dabei ein Häutchen zerrissen. (Das Hymen ist natürlich ein Mythos ganz eigener Art, aber darum soll es jetzt nicht gehen. Ich finde es nur interessant, daß bei den Griechen und Römern nie die Rede davon ist. Unerlaubter Geschlechtsverkehr verrät sich dort niemals durch Blut auf dem Laken, sondern immer gleich durch die Schwangerschaft.) Jedenfalls ist, wenn man schon an ein Hymen glaubt, der Schluß geradezu unausweichlich, daß dieses bei Gottes Intervention heil blieb — ganz einfach, weil die umgekehrte Vorstellung lächerlich wäre. (Wie es um den Zustand der noch einmal davongekommenen Membran nach der Geburt bestellt ist und ob es auch der Austreibung unseres Erlösers aus dem Geburtskanal standgehalten habe, mag hier mal außen vor bleiben.) Gott muß das also anders bewerkstelligt haben — aber wie, das entzieht sich in einer Weise, wie es eben typisch für diesen Gott ist, der Vorstellung. Allzu konkret (Goldregen?) dürfen wir hier nicht werden, sonst würde das Unnahbare und Unmanifeste Gottes in die Dinghaftigkeit gezerrt und zerstört. Das Konkrete ist der Feind des Mysteriums. Wenn man sich auf das Konkrete einläßt, entfesselt man eine Kaskade unangenehmer Fragen und Schlüsse. Wenn Gott konkret eine menschliche Frau schwängern konnte, dann muß er einen Penis haben. Dann muß er praktischerweise auch eine Erektion gehabt haben. Dann muß er auch ejakuliert haben. Hat er Vergnügen dabei empfunden? Irgendwie ist die Vorstellung absurd, Gott (dieser Gott zumal) könne Spaß am Sex gehabt haben. (Mit wem hat er dann Sex, wenn er nicht gerade Erlöser zeugt? Oder war ihm einmal genug? Und was ist eigentlich aus den nicht zum Zug gekommenen göttlichen Spermien geworden? Oder enthielt das Sperma Gottes nur eine einzige Samenzelle?) Wenn ein Gott, der Spaß hat, abwegig ist, ist freilich auch ein zürnender Gott abwegig, aber das führt jetzt zu weit. Jedenfalls bringt das unangetastete Hymen der Muttergottes diese und ähnliche Überlegungen mit einem Mal zum Verstummen, indem es darauf verweist, daß die Zeugung Jesu in einem unbegreiflichen Raum stattgehabt haben muß. Das Problem ist, wie man den Übergang vom Unmanifesten Gottes zum Manifesten von Schwangerschaft und Geburt gestaltet. Das heile Hymen Marias ist seine narratologische Lösung.
Sechs Uhr abends, seit einer Stunde dunkel, die Glocken läuten, sie läuten Heimat, läuten Frieden, läuten Hoffnung, läuten Trost. Vom Wald herunter bin ich vorhin an der Kirche vorbei gestapft, da dämmerte es schon. Aus dem halboffenen Portal fiel ein warmer Lichtschein auf die Stufen, und für einen Moment war ich versucht, hineinzugehen, verschlammten Fußes und verschwitzt wie ich war. Ich tat es nicht, mehr aus Eile, nach Hause zu kommen, denn aus Fremdheit den Glaubensdingen gegenüber. Nur die Glocken sind von diesem Teil meiner Lebensheimat übrig, das andere habe ich all die Jahre nicht beachtet. Vielleicht wird es Zeit, das wieder hervorzuholen und ernst zu nehmen, was mir guttut. Schließlich sind nicht die Menschen für Gott, sondern ist Gott für die Menschen da, auch für die Ungläubigen wie mich, vielleicht gerade für sie.
Das war im November: Asberg
Wenn jetzt eine Faust aus dem Wasser sich streckte, mit einem Schwert darin, und dies Schwert dreimal schüttelte, ehe sie wieder verschwände — man wäre an diesem Ort kaum erstaunt. Schilf hilft dem Nebel, ans Ufer zu kommen, die Bäume treten einen Schritt zurück und angeln nach Schlick, eine unhörbare Ursache wirft Ringe zur Wasserfläche hinauf. Ein Zucken von Schatten, und drüben, wo kaum das andere Ufer sichtbar wird, scheint es schon Abend zu werden.
Eine Erle streckt ihre fast ganz entlaubten Äste übers Wasser. Der Grund ist aufgeweicht, schlammig, von grauschwarzem Erlenlaub bedeckt. Der Pfad hierher, nicht leicht zu finden, windet sich durch Gestrüpp. Das Wasser, eher fühl- als sichtbar, zeigt sich erst, wenn man fast hineintritt, und verleibt sich Sumpfflächen ein, die die Grenze zwischen Land und See verschwimmen lassen. Ist das schon Spiegel mit treibenden Blättern oder Blätter, die über einer Schlucht hängen? Ein Vexierspiel, in der die Luft selbst spiegelnde Schichten einzieht, die sich als Trug erweisen und das Auge taumelnd weiterstürzen lassen. Wagte man hier zu schwimmen, bliebe man vielleicht aufgehängt zwischen den Spiegeln gefangen, eisig und zappelnd.
“Du willst doch jetzt nicht etwa ins Wasser?” Dazu ein Himmel, aus dem das Licht diffus und richtungslos ohne Schatten und ohne Reflexe fällt.
Aber ich habe die Schnürsenkel bereits gelöst und lehne mich mit dem Rücken an die Erle, um die Socken abzustreifen. Ringsum herrscht tiefe Stille, die Geräusche einer Landstraße kommen aus einem Traum, der seine Ränder nicht mit diesem Ort teilt.
“Na, doch.” Meine Stimme klingt wie in einem Karton. Irgendwo hinter den nebligen Brombeeren und Erlen sind Spaziergänger mit Hunden unterwegs, laufen Jogger in grellen Klamotten herum, aber diese Sphäre haben wir verlassen, indem wir uns über die Warnung von umgestürztem Baumstamm und Gestrüpp hinweggesetzt haben.
Braunes Laub drückt sich zwischen die Zehen. Meine tapfere Begleitung bietet mir ihren Arm als Kleiderständer. Sie kennt mich gut genug, um zu wissen, daß ich weiß, was ich tue. Wie jedesmal bei solcher Gelegenheit weiß ich aber selbst nicht mehr, ob ich das weiß. Das Wasser ist still, grau, vollgesogen vom Nebel, der über dem Ufer hängt wie eine bergende Hand. Mehr als anderswo bin ich Fremdkörper, Eindringling, unerwünscht, nur kurz geduldet. Wäre das Wasser wärmer, würde es wahrscheinlich schmeicheln, wäre weich und kühl wie die Gewandfalten auf einem Renaissancegemälde. Kalt wie es ist, unter acht Grad sicherlich, gleicht es eher einer Ritterrüstung, schwerem Stahl, der auf jeden Zentimeter Haut drückt. Ich habe die Mütze aufgelassen, untertauchen kommt nicht in Frage, fünf, sechs Schwimmzüge bringen mich in Sichtweite einer hinter Erlenbestand verborgenen Bucht, der See öffnet sich. Plötzlich stürzt ein Reiher aus dem Wald, schwingt sich so nah in die Luft, daß ich meine, den Flügelstrom im Gesicht zu spüren. Ich drehe mich auf den Rücken. Das Wasser färbt die Haut kupferfarben. Besonders klar ist es nicht. Der Nebel setzt sich unter Wasser fort. Und still ist es, sehr still, das Plätschern der Schwimmzüge weithin das einzige Geräusch. Sagenstill. Visionen- und Illusionenstill. Ich bin zu beschäftigt mit meinem Körper und seinen Signalen, um in diesem Moment zu sehen, was zu sehen gewesen wäre. Fern am Ufer wartet meine Wanderfreundin, und mir schmerzen die Glieder vor Kälte. Das hier ist etwas völlig anderes als vorgestern am Dümpfhaub. Als hätte der November über Nacht beschlossen, ernst zu machen. Mit kräftigen Stößen sehe ich zu, das ich schlammigen Grund gewinne, und taumele lange Augenblicke später ans Ufer. Meine Wanderfreundin reicht mir strahlend das Handtuch. Hast du ihn gesehen, fragt sie.
Nein, wen?
Den Eisvogel!
Ich habe nichts gesehen, wieder einmal war ich nicht da, nicht wach, nicht bereit. Ich sehe die Dinge immer erst später, am Schreibtisch, nicht klarer, aber schärfer umrissen in der imaginären Erinnerung. Blau, blitzend, eine Fremdwimper im seitwärts taumelnden Blick, im Davonzucken kaum zu registrieren, ein Wahrzeichen der Stille an diesem Ort, ein Siegel, das uns ausschließt von hier, eine Linie, die wir nicht übertreten können, und kämen wir auch mit Booten, Flößen, Plattformen, rückten mit Kameras und Tauchausrüstung dem See zu Leibe. Wir könnten nie einen Ort mit dem Vogel teilen.
Ich trockne mich schnaufend und schnaubend ab, das Handtuch bekommt schiefergraue Flecken, die noch Wochen später sichtbar sind, ich lasse mir von meiner Frreundin die Klamotten einzeln geben und zwänge zuletzt die eisigen Füße in die Schuhe, in denen kein Rest Wärme zurückgeblieben ist. Brombeergestrüpp, Erlenbüsche, sumpfiger Weg, dann die Stacheldrahtrollen, die zukünftige Besucher demnächst schon weit vor dem Ufer stoppen werden, unter einem umgestürzten Baum durchgeklettert, dann sind wir wieder auf dem Wanderweg und in der Welt der grellen Joggingklamotten, Bell00-Tüten, Funktionsjacken und Händiegelaber. Im Blick zurück sieht der Ort hinter den drahtigen Vegetationsschichten unzugänglicher aus als jemals ein durch Stacheldraht abgeriegelter Bezirk. Um uns laufen und hasten und quasseln Menschen; da hinten aber, nunmehr unerreichbar, läßt der Vogel sein unglaubhaft-blaues Gefieder leuchten, niemandem zu Gefallen als nur ihm selbst.
Solstitium
Schritte, zwei, der erste auf Grund, ins nirgends der zweite,
Was wie ein Augen-Blick bricht, fängt, noch im Fallen, das Licht.
Hellem Schweigen geraubt, als Pilger entblößt sich ein Windhauch.
Weither geeilt zum Altar, steht in den Schuhen die Zeit.
Immer nur armlang entfernt die nie zu erreichenden Glocken.
Immer ein Stückchen voraus zählt seine Meilen der Weg.
Lang der eigene Schatten, und weich, wie von Fremdem geworfen.
Taumelnder Falterflug bleicht in verwitterter Luft.
Das war im November (2)
Noch einmal Wuppertalsperre. Vergessen, auf die Uhr zu schauen. Mit dem Gefühl, eigentlich wäre die ganze Strecke bis zum anderen Ufer zu schaffen, etwa bis zur Hälfte geschwommen. Es reicht ja nicht, die 180 Meter bis dorthin zu schaffen; man muß ja auch wieder zurück. Andererseits, was soll passieren? Ich würde bestimmt nicht vor Erschöpfung absaufen, sollte es am Ende doch anstrengend werden. Inzwischen sind bestimmte exquisite Kälteempfindungen bereits vertraut, und darauf kommt es wohl an: wiederzuerkennen, was mit einem passiert, während man in 8° kaltem Wasser eingetaucht ist. Wiedererkennen, und, was sich als Abfolge von Phasen wiederholt, als Wegemarken nehmen. Wissen, bis zu diesem Punkt ist alles gut, was danach kommt, probiere ich besser nicht weitab von Ufer, Handtuch und warmen Klamotten aus.
Das Wasser ist ohne Glanz, von kleinen Wellen bewegt, grau unter dem tief hängenden Himmel. Morgens noch Regen, auf dem Weg noch ein paar Spritzerchen, mehr nasse Luft als echte Tropfen. Mehrere Kranichzüge, Minuten vorm Erscheinen schon durch Trompeten angekündigt, ziehen vorbei, eine Weile löst ein Zug den nächsten ab. Wie schön das wäre, denke ich, ein solcher Kranichzug würde über den Talsperrensee fliegen, während ich im Wasser bin. Zwanzig Minuten später ist es tatsächlich so weit. Ich höre sie, bevor ich sie sehe, drehe mich auf den Rücken, und da sind sie, tauchen in den Glasrand der Schwimmbrille, viel tiefer, scheint es, aus der Perspektive des Schwimmers als von Land aus gesehen, und lauter auch, ein schönes Dreieck athletischer Flieger, und ich denke an jenen Moment, da ein Reiher in Zeitlupe übers Wasser strich, im Sommer, gar nicht so lange her, und bin glücklich.
Das war im November (1)
Spaziergänge vom Bahnhof Obertwiern hinauf zum Dümpfhaub. Jede Woche jetzt ein- oder zweimal der Weg. Erst Spätsommer- dann unmerklich Herbstregister im Laub, die Wege beginnen zu nuscheln und mit den Zähnen zu knirschen. Erste verhüllte Vormittage, kalt wird es trotzdem nicht, ich komme jedes Mal verschwitzt am See an, streife vorm Bad ein feuchtes T-Shirt von den Schultern. Blätter fallen, jedes einzeln und wie zufällig. Als ginge der Herbst die verbleibenden nichts an. Ich aber ginge den Herbst gern, oder der Herbst mich, etwas an.
Und so, in einer Beziehung wechselseitigen Etwas-Angehens, wäre ich wieder so sehr Teil der Welt wie ihr melancholischer Beobachter. (Muß ich deshalb so verzweifelte Dinge unternehmen, wie im November im See schwimmen — ist es der Versuch, die Trennung zur Welt durch Schmerz zu überwinden? Weil die Welt mir anders nicht als durch eisiges Wasser auf der Haut zu brennen kommt?) Ein Vers: “Erster Versuch: Melodie. Die das Blaue der Ferne herbeizieht.” Der Herbst bleibt fern, keine Musik zieht ihn ins Nahe. Selbst der Schlaf ist sachlich und gut. Die Wege: bereitwillig. Doch ohne Seele, nicht mit dem Herzen dabei, nicht bei mir. Es ist eine seltsame Beiläufigkeit in allem, eine Routine, über der man das Erstaunliche vergißt. Oder man vom Erstaunlichen als seinesgleichen — vergessen wird.