Das war im November: Asberg

Wenn jetzt eine Faust aus dem Wasser sich streckte, mit einem Schwert darin, und dies Schwert dreimal schüttelte, ehe sie wieder verschwände — man wäre an diesem Ort kaum erstaunt. Schilf hilft dem Nebel, ans Ufer zu kommen, die Bäume treten einen Schritt zurück und angeln nach Schlick, eine unhörbare Ursache wirft Ringe zur Wasserfläche hinauf. Ein Zucken von Schatten, und drüben, wo kaum das andere Ufer sichtbar wird, scheint es schon Abend zu werden.

Eine Erle streckt ihre fast ganz entlaubten Äste übers Wasser. Der Grund ist aufgeweicht, schlammig, von grauschwarzem Erlenlaub bedeckt. Der Pfad hierher, nicht leicht zu finden, windet sich durch Gestrüpp. Das Wasser, eher fühl- als sichtbar, zeigt sich erst, wenn man fast hineintritt, und verleibt sich Sumpfflächen ein, die die Grenze zwischen Land und See verschwimmen lassen. Ist das schon Spiegel mit treibenden Blättern oder Blätter, die über einer Schlucht hängen? Ein Vexierspiel, in der die Luft selbst spiegelnde Schichten einzieht, die sich als Trug erweisen und das Auge taumelnd weiterstürzen lassen. Wagte man hier zu schwimmen, bliebe man vielleicht aufgehängt zwischen den Spiegeln gefangen, eisig und zappelnd.

“Du willst doch jetzt nicht etwa ins Wasser?” Dazu ein Himmel, aus dem das Licht diffus und richtungslos ohne Schatten und ohne Reflexe fällt.

Aber ich habe die Schnürsenkel bereits gelöst und lehne mich mit dem Rücken an die Erle, um die Socken abzustreifen. Ringsum herrscht tiefe Stille, die Geräusche einer Landstraße kommen aus einem Traum, der seine Ränder nicht mit diesem Ort teilt.

“Na, doch.” Meine Stimme klingt wie in einem Karton. Irgendwo hinter den nebligen Brombeeren und Erlen sind Spaziergänger mit Hunden unterwegs, laufen Jogger in grellen Klamotten herum, aber diese Sphäre haben wir verlassen, indem wir uns über die Warnung von umgestürztem Baumstamm und Gestrüpp hinweggesetzt haben.

Braunes Laub drückt sich zwischen die Zehen. Meine tapfere Begleitung bietet mir ihren Arm als Kleiderständer. Sie kennt mich gut genug, um zu wissen, daß ich weiß, was ich tue. Wie jedesmal bei solcher Gelegenheit weiß ich aber selbst nicht mehr, ob ich das weiß. Das Wasser ist still, grau, vollgesogen vom Nebel, der über dem Ufer hängt wie eine bergende Hand. Mehr als anderswo bin ich Fremdkörper, Eindringling, unerwünscht, nur kurz geduldet. Wäre das Wasser wärmer, würde es wahrscheinlich schmeicheln, wäre weich und kühl wie die Gewandfalten auf einem Renaissancegemälde. Kalt wie es ist, unter acht Grad sicherlich, gleicht es eher einer Ritterrüstung, schwerem Stahl, der auf jeden Zentimeter Haut drückt. Ich habe die Mütze aufgelassen, untertauchen kommt nicht in Frage, fünf, sechs Schwimmzüge bringen mich in Sichtweite einer hinter Erlenbestand verborgenen Bucht, der See öffnet sich. Plötzlich stürzt ein Reiher aus dem Wald, schwingt sich so nah in die Luft, daß ich meine, den Flügelstrom im Gesicht zu spüren. Ich drehe mich auf den Rücken. Das Wasser färbt die Haut kupferfarben. Besonders klar ist es nicht. Der Nebel setzt sich unter Wasser fort. Und still ist es, sehr still, das Plätschern der Schwimmzüge weithin das einzige Geräusch. Sagenstill. Visionen- und Illusionenstill. Ich bin zu beschäftigt mit meinem Körper und seinen Signalen, um in diesem Moment zu sehen, was zu sehen gewesen wäre. Fern am Ufer wartet meine Wanderfreundin, und mir schmerzen die Glieder vor Kälte. Das hier ist etwas völlig anderes als vorgestern am Dümpfhaub. Als hätte der November über Nacht beschlossen, ernst zu machen. Mit kräftigen Stößen sehe ich zu, das ich schlammigen Grund gewinne, und taumele lange Augenblicke später ans Ufer. Meine Wanderfreundin reicht mir strahlend das Handtuch. Hast du ihn gesehen, fragt sie.
Nein, wen?
Den Eisvogel!

Ich habe nichts gesehen, wieder einmal war ich nicht da, nicht wach, nicht bereit. Ich sehe die Dinge immer erst später, am Schreibtisch, nicht klarer, aber schärfer umrissen in der imaginären Erinnerung. Blau, blitzend, eine Fremdwimper im seitwärts taumelnden Blick, im Davonzucken kaum zu registrieren, ein Wahrzeichen der Stille an diesem Ort, ein Siegel, das uns ausschließt von hier, eine Linie, die wir nicht übertreten können, und kämen wir auch mit Booten, Flößen, Plattformen, rückten mit Kameras und Tauchausrüstung dem See zu Leibe. Wir könnten nie einen Ort mit dem Vogel teilen.

Ich trockne mich schnaufend und schnaubend ab, das Handtuch bekommt schiefergraue Flecken, die noch Wochen später sichtbar sind, ich lasse mir von meiner Frreundin die Klamotten einzeln geben und zwänge zuletzt die eisigen Füße in die Schuhe, in denen kein Rest Wärme zurückgeblieben ist. Brombeergestrüpp, Erlenbüsche, sumpfiger Weg, dann die Stacheldrahtrollen, die zukünftige Besucher demnächst schon weit vor dem Ufer stoppen werden, unter einem umgestürzten Baum durchgeklettert, dann sind wir wieder auf dem Wanderweg und in der Welt der grellen Joggingklamotten, Bell00-Tüten, Funktionsjacken und Händiegelaber. Im Blick zurück sieht der Ort hinter den drahtigen Vegetationsschichten unzugänglicher aus als jemals ein durch Stacheldraht abgeriegelter Bezirk. Um uns laufen und hasten und quasseln Menschen; da hinten aber, nunmehr unerreichbar, läßt der Vogel sein unglaubhaft-blaues Gefieder leuchten, niemandem zu Gefallen als nur ihm selbst.

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