Halb sechs, letzte Stunden des Jahres. Vereinzelte Böller platzen nah und fern. Sonst ist es still. Das Treppenhaus kehrt in seinen eigenen Wendeln wieder. Sehr fern murmeln die Straßen. Um halb fünf sind Glocken gewesen, lange, festlich und traurig, wie Glocken immer sind. Ich höre vor allem das Traurige darin, die Sehnsucht, den Ausdruck eines unbenennbaren Verlustes, die Erinnerung an etwas, das einmal war, gestern, letztes Jahr, vor Jahrhunderten, und jetzt nicht mehr ist. Einmal, denkt man, müssen die Glocken anders geklungen haben. Tosend, jubelnd, zornig, selbstgerecht, hoffnungsvoll, panisch, freudig. Als das, was sie jetzt beklagen, noch nicht verloren war und sie auf nichts zeigten als auf die Gegenwart. Ich bin ein Kind, das die Nase an einer kalten Scheibe plattdrückt und in die Winterdämmerung hinausschaut, sehnsuchtsvoll, und es weiß nicht, wonach, und die verschneite Welt birgt diese hallenden, wogenden, klagenden Stimmen, irgendwo weiß vielleicht irgendwer, was verloren ging, und warum die Glocken so traurig sind. Das Gesicht spiegelt sich im Glas, ein Atemhauch fliegt darüber, noch ein Glockenschlag und noch einer, träger jetzt, mit längeren Pausen, wie ein Schluchzen, das sich langsam erschöpft. Schon damals, schon in der Kindheit, war alles voller Vergangenheit und Stunden wie diese, da die Abendglocken schlugen und ich vielleicht Fieber hatte oder Husten, angefüllt mit einer Trauer, von der ich gar nichts wissen konnte. Als würde ich mich nach eben der Kindheit bereits zurücksehnen, die ich gerade erlebte. Als würde ich Zeuge meiner eigenen dereinstigen Vergangenheit. Als wüßte ich schon, daß dieser Blick in die Winterwelt, über die der Glockenschlag sich in Wellen breitete, einer viel späteren Zeit angehörte; als sähe ich mich selbst von sehr, sehr fern, als das lang versunkene Kind, das ich in diesem Moment noch war. Das, was ich erlebte, war unendlich kostbar, und zugleich war unbegreiflich, warum es so kostbar war. Es war etwas, das ich verlieren würde, bevor ich es besäße, etwas, das ich erst wissen würde, wenn ich es vergessen hätte. Etwas, das ich in genau diesem Augenblick verlor, als der letzte Glockenschlag bebend in der Dunkelheit verklang.

4 Gedanken zu „

  1. Eine alte Seele in einem jungen Körper.
    Ein sehr anrührender Text, der mir nahe ging.
    Ich musste beim wiederholten Lesen an ein Zitat denken, das schon lange in meinem Kopf herumgeistert und das sich immer mal wieder bei den unterschiedlichsten Anlässen im Wortlaut meldet: “Abschied ist das ewige Motiv des Augenblicks.” Die genaue Quelle weiß ich nicht, aber immer assoziiere ich folgendes Buch dazu: Klaus Mann, Treffpunkt im Unendlichen. Eine Lektüre aus meiner Studienzeit, die einiges bei mir “intensivierte”.
    Nochmals Dank für Ihre gedankenvolle Prosa-Miniatur.
    Liebe Grüße, Uwe

  2. Haben Sie vielen Dank für den freundlichen Kommentar. Ich werde ihren Verweis auf Klaus Mann als Empfehlung oder Anregung verstehen und bei Gelegenheit hineinschauen.

  3. Ich liebe Glockengeläut. Alles was sie darüber schreiben kann ich teilen und habe mich so gefreut, dass jemand einmal über Glocken schreibt.
    Heute nach so vielen Jahren Glockenhören, erinnere ich immer zuerst… also wenn sie läuten, … Es war immer Samtagabend, meine Mutter hatte vor dem Sonntag alles ” fein gemacht”, gewischt, geputzt und so weiter…so war das damals in den 1960er Jahren bei uns. Dann lauteten die Glocken. Und neben all dem, was sie so schön und auch traurig beschrieben haben, kam bei mir immer eine Art ” Festlichkeit” auf. So auch heute noch, wenn ich die Glocken höre.
    Unendlich erzählerisch, voller Geheimnisse und auch voller Festlichkeit.

  4. Ich freue mich meinerseits, daß meine Freude an Glocken noch jemand da draußen teilt. Einmal sagte mir jemand, er möge das Läuten nicht, es sei ihm “zu idyllisch”. Ich war entsetzt. In meinem Heimatdorf sind die Glocken im Lauf der Jahre immer leiser geworden, bis man sie kaum noch hört. Das geschah wohl auf Druck von Anwohnern. Wo ich jetzt wohne, sind sie zu meiner Freude dagegen gut zu hören.

    (Übrigens habe ich kürzlich im Radio gehört, Glocken würden deshalb keine Rolle in der Musik spielen, weil ihr Ton nie ganz rein sei, sondern eine Mischung aller möglichen Schwingungen — ob das vielleicht auch der Grund für ihre Ambivalenz zwischen Festlichkeit und Melancholie ist, für das Geheimnisvolle an ihnen?)

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