Bislang habe ich nie begreifen können, wie die Massen jubelnd in den ersten Weltkrieg haben ziehen können. Jubelnd! Mit Begeisterung! Unfaßbar.
Klimawandel, Überbevölkerung, Völkerwanderungen, korrupte Regime, korrupte Konzerne, hilf- und planlose, handlungsunwillige oder -unfähige Regierungen, Deregulierung, Überregulierung, undurchsichtige Abkommen, Aushöhlung der Staatlichkeit, Untergrabung der Freiheitsrechte, Zerfall der Solidarsysteme, Umverteilung von Unten nach Oben, Unterwerfung jeder Lebenswelt unter das Diktat der Wirtschaftlichkeit, Umweltkatastrophen, Artensterben, Klimaerwärmung, Energie-, Bildungs-, Beschäftigungs- und Finanzkrisen, Abgasskandale, Kaltschnäuzigkeit und Zynismus der Industrie und ihrer Handlanger, Pleiten, Pannen, Mißwirtschaft, und dann hat auch noch die Bahn Verspätung.
Allmählich glaube ich, eine gewisse Ahnung zu bekommen, wie sich das damals, 1914 angefühlt haben mag. Die aufgestaute Frustration, die nach einer Entladung verlangte. Endlich, endlich, endlich handeln. Und sei es auch nur, um etwas kaputtzuschlagen. Tabula rasa! Und danach fangen wir nochmal von vorne an, from scratch, und ziehen das Ding völlig neu und ganz anders auf. Dann überlassen wir nichts mehr dem Zufall. Dann machen wir alles richtig. Dann planen wir durch.
*****
Weißt du, sagte ich in einem Gespräch, hier ruft Campact zur Demo auf, dort tritt Digitalcourage mit einer Unterschriftenaktion an mich heran, hier will WeAct eine Spende, dort fordert MehrDemokratiee.V. mich auf, dem Abgeordneten meines Wahlkreises zu schreiben – es ist ganz schön viel, was da ungefragt an mich herangetragen wird, finde ich.
Ja, das nennt man Teilhabe, sagt mein Gegenüber, und mich packt schon wieder die Wut.
Ich will keine Teilhabe, rufe ich aus, ich will in Ruhe gelassen werden, von allen.
*****
Der Mensch will handeln, und er will die Folgen seines Handelns unmittelbar erleben. Fleischverzicht, Autoverzicht und immer brav im Biomarkt saisonales Gemüse gekauft, und was hat’s gebracht? Nix. Man ruft in ein schwarzes Loch hinein. Hier gespendet, dort unterschrieben, dem Abgeordneten eine Mail geschickt. Was bringt’s? Und selbst wenn dank des Drucks hunderttausender Unterschriften der Hambacher Forst stehen bliebe und das Rettungsschiff wieder auslaufen dürfte, was hat das mit mir und meiner Spende oder Unterschrift zu tun? Nix. Die Dinge passieren, aber sie passieren, gute oder schlechte Dinge, willkommene oder unwillkommene, losgelöst von meinem Handeln oder Unterlassen. Sie passieren sowieso, und der Gedanke, ich habe hier auch mit meiner Unterschrift, blabla, ist rein abstrakt. Ich bin erleichtert, wenn der Hambacher Forst stehen bleiben darf. Aber die Befriedigung bleibt aus, ein Belohnungsgefühl für mein Handeln stellt sich nicht ein. Wie anders wäre das, ein Gewehr zu nehmen und zu schießen? Handeln mit unmittelbaren Folgen. Zwar billige ich das nicht, und bis vor kurzem hätte ich es nicht einmal verstanden. Aber inzwischen ist das Maß der Frustration so voll, daß ich zumindest den Impuls nachvollziehen kann.