Man kann in einem Wasserglas ertrinken, von einer einzelnen Weinbeere einen Rausch bekommen, oder sich im eigenen Vorgarten verlaufen. Etwas Ähnliches wie letzteres ist mir einmal an einem eisigen Wintermorgen passiert. Es dämmerte gerade erst, war aber noch nicht hell, als ich in vielen Schichten Funktionskleidung und mit der Stirnlampe bewaffnet den Villehang hinauflief. Infolge der Klarheit der Luft und der Reflektionskraft der niedrigen Wolken, die das vom Süden Kölns aufstrahlende Zivilisationslicht zurückwarfen und über die Ebene streuten, war die Landschaft bereits in Einzelheiten zu erkennen: der abfallende Weg, links eine Wiese, rechts die gesperrte Kiesgrube mit dem Waldsaum, drüben der Talhang, an seinem Grund die Lichter vom Brenig, dahinter die dunkle, vereinzelt von Lichtreihen gegliederte Fläche der Kölner Bucht. Aber schon schien, ohne geradezu die Sicht ganz aufzuhalten, diese dunkle Klarheit vor dem Tageslicht, diese Transparenz des Raums an Zusammenhalt zu verlieren und labil zu werden wie frisch geronnener Quark. Wind kam auf, wehte von Nordosten heran, wo die Dämmerung auf einem Bein zu balancieren, dann torkelnd auseinanderzufallen schien, der Himmel wie zerrissenes, dann eingestampftes Altpapier, blaurote Fransen und Fetzen, schwefelgelbes, mit Maschinenöl verklebtes Konfetti, viel eingeblutete Druckerschwärze in kompakten, schmierigen Knäueln. Und dann noch mehr Wind, bald Sturm, der die Spalten erst aufreißt, dann zusammenpreßt, dann die Bruchkanten verwindet. Und aus der gequetschten dann wieder gedehnten, aus der mißhandelten, spuckenden Masse ergießt sich ein Strom von Blindheit über die Hänge und in die Täler, stülpt sich etwas, das nicht einmal schwarz ist, über die Baumkronen und Zaunpfosten, das die Wege auffüllt, die Wiesen stöhnen läßt, sich als dumpfer Pfropf auf Mund und Ohren legt. Dann beginnt, was zuerst als Aufhellung bemerkbar wird, sich dann aber zu einem milchig-weißen Schirm verdichtet, der noch die Dunkelheit selbst verdünnt und schließlich in sich auflöst. Es war, als bewegte ich mich in einem dreidimensionalen Fernseher, der den Sender verloren hat. Im Licht der Stirnlampe leuchteten die Schneeflocken so hell wie ein Feuerwerk, während im Augenwinkel ein graues Seufzen unablässig in die Knie ging. Die Lichter der Ebene waren verschwunden, ebenso wie der Kirchturm im Brenig drüben, die Kohlfelder, die Pferdeweiden, der Waldrand; die Welt hatte sich in eine einzige tobende, kochende, wirbelnde Taubheit verwandelt, und zu meinen Füßen war der Grund auf ein Areal von zwei Metern Umkreis geschrumpft, war eine Insel geworden, auf der ich weiterlief, die ich mit mir schleifte, die nur dank meinen Schritten existierte. Stückchen vom Wegrain wurden sichtbar, Grasbüschel, eine vereiste Pfütze, deren Oberfläche sich schnell mit Schnee überzog, ein Zaunpfosten, ein Stück Stacheldraht, aber zu welchem Grundstück gehörte der? Das blendende Licht der Flocken nervte so sehr, daß ich die Lampe ausmachte, aber jetzt war es fast völlig dunkel, und in dieser Finsternis fiel weiter der Schnee. Als hätte das Licht zuvor die Geräusche gedämpft, wurde jetzt das Fallen hörbar, flüsterte und raschelte die Finsternis ringsum. Flocken setzten sich auf die Jackenärmel, die Schuhspitzen waren überkrustet, meine Mütze zierte eine Haube aus Eis. Ich wußte, daß ich die nächste Abzweigung links abbiegen mußte, bog ab, wurde unsicher. Und dann passierte es, von einem Moment auf den andern. Ich wußte nicht mehr, wo ich war. Das Wissen über die Mikrogeographie dieser paar Quadratkilometer, in denen ich unzählige Male, bei Sonnenschein, bei Regen, bei Dunkelheit in der einen wie in der anderen Richtung unterwegs gewesen war, dieses Wissen war ebenso ausgestrichen worden wie die Kölner Bucht, der Waldsaum, das nächste Tal, der nächste Apfelbaum, die nächste Straße. Etwas, das wie eine Ansammlung von Müllsäcken aussah, aber einmal eine Hecke gewesen sein mußte, tauchte auf, der Albdruck eines Kamels, das sich als Baum entpuppte, dann kippte die Topographie wieder in die stürmische Leere eines Felds, wo sie hinter zuckenden Schemen verschwand. Ich drehte mich um mich selbst, überall das gleiche Bild. Wenn ich die Lampe wieder anmachte, schloß sich sofort ein leuchtender Ring Flocken um mich, der auch noch die letzte Tiefe vernichtete, als hätte man einen Laternenschirm über mich gestülpt. Es gibt Formen der Unsicherheit, Unkenntnis und Orientierungslosigkeit, die sich zu einem Gefühl existentieller Bedrohung auswachsen können. Dieser schneegefüllte, tiefenlose Nullraum erinnerte mich an den Film The Cube, es fühlte sich an, als hätte mich jemand, während ich schlief, in eine völlig fremde, völlig absurde Umgebung verpflanzt. Gleich bekäme ich vielleicht einen geriffelten Stahlboden unter die Füße, und wenn der Schneefall nachließe, fände ich mich mitten Im Pazifik im leeren Laderaum eines verlassenen Frachtschiffs wieder. Oder etwas in der Art: So völlig ausgelöscht war jedes Merkmal von Landschaft oder auch nur von Entfernung und Raum, ich hätte mich genauso gut in der Arktis befinden können: hier noch ein Schatten von fliehenden Hunden im wirbelnden Schnee, dann völlig allein, in Gesellschaft nur mit dem Wind, der mir vergeblich die Lösung für dieses Orientierungsproblem in die Ohren brüllt.
Minutenlang prasselte links von mir eine Hecke, als stünde sie in eisigen Flammen. Wo gab es in der Arktis Hecken? Ich spürte, daß ich Asphalt unter den Füßen hatte, aber in welche Richtung lief ich überhaupt? Was war das überhaupt für ein Weg? Ein Wegweiser tauchte auf und zeigte mir, daß ich immerhin in die richtige Richtung lief: Hier weiter, und ich wäre in zwanzig Minuten zu Hause. Aber wo ich mich befand, konnte mir der Wegweiser auch nicht sagen. Ich mußte einen mir bis dahin verborgen gebliebenen Weg entdeckt haben. Toll!
Und dann, ebenso plötzlich wie die Verwirrung eingesetzt hatte, trat Wiedererkennen ein, und sofort war alles klar. Zwar fielen die Flocken nach wie vor, betrug die Sichtweite immer noch kaum zwei Meter, aber eine Wegbiegung rechts wurde plötzlich wieder diese Wegbiegung, und eine Hecke links wurde die Hecke, etwas, das im Grund aller Wahrnehmung so fest verankert ist, daß man es erst bemerkt, wenn es fehlt; und wie wenn man in einem Vexierbild endlich das verborgene zweite Bild erkennen kann, so völlig klar, daß man sich wundert, wie man es bisher nicht hat sehen können, verschwand die unbekannte Landschaft vor meinen Augen und wurde augenblicklich durch die vertrauten Umrisse meiner Laufrunde ersetzt: durch die Interpretation dieser Umrisse, denn zu erkennen war immer noch kaum etwas. Da ich aber wieder wußte, wo ich war und was ich erwarten durfte, fügte sich, was sichtbar war, in den von meiner Erfahrung wieder bereitgestellten Rahmen. Insofern findet vielleicht jedes Verirren nicht in der Topographie statt, sondern im Kopf.

Aequinoctium



Abends ankern die Türme und ziehen die Glocken ans Ufer.
     Weithin hörbar der Wind, wie er vom Horizont spricht.
Kraniche setzten aus zwei einsame Paare am Feldrain.
     Lang fiel ihr Schatten zum Weg, wo noch der Hagedorn glomm.
Alle Schritte verstummt, am Wegweiser lungern die Steine.
     Unter dem Schatten der Uhr schließen die Fichten den Wald.

΅ασ τθν, σπραψη Υεθσ, διε Γοεττερ σινδ βεσοφφεν

Auf dem Cover von Nootebooms „Briefen an Poseidon“ ist hinter der Abbildung einer Statue des Meeresgottes ein Text in griechischen Buchstaben gedruckt. Ein Stückchen aus der Theogonie? Ein paar Verse aus der Ilias? Beim Versuch, den Text zu verstehen, stellt man fest: das ist weder Hesiod noch Homer, das ist nicht einmal Griechisch, das ist in einer Sprache, die zu Hesiods und Homers Zeiten niemand verstehen konnte, weil es sie nämlich noch gar nicht gab. Es ist aus der Perspektive des 7. vorchristlichen Jahrhunderts eine Sprache der fernen Zukunft, nämlich Niederländisch – in griechischen Buchstaben.

Wieviel Mühe hätte es gekostet, acht oder neun Verse aus Theogonie, Ilias oder Odyssee (Texte, die mehrmals im Buch erwähnt werden und mit denen der Autor ohne Zweifel gründlich vertraut ist) aus dem Internet zu fischen? Kaum mehr als einen niederländischen Text in griechischen Buchstaben zu setzen, möchte ich vermuten. Dazu muß man aber erstens das Buch gelesen haben und zweitens ein paar einfache Dinge über diese Dichtungen wissen, gar nicht viel unbedingt, nur eine grobe Einordnung, etwas darüber, daß das Griechisch ist, einen Hinweis, wo man das im Netz findet, alles nicht so schwierig, möchte man meinen, zumal, wenn man in einem Beruf arbeitet, in dem sich alles um Texte (nun ja, um die Vermarktung von Texten) dreht.

Anfänglicher Erheiterung (seht her, ich bin euch auf die Schliche gekommen) folgte verhaltene Mißgestimmtheit (wollt ihr mich verarschen?), gefolgt von Neugier (wie ist diese niederländisch-griechische Type zustande gekommen?). Sofort war klar: daß der niederländische Text mit einer auf griechische Belegung eingestellten niederländischen Tastatur abgetippt worden war, war ausgeschlossen, wie schon das deutlich prangende Zeus im Text bewies. Auf einer niederländischen Tastatur mit griechischer Belegung eingetippt, hätte das (also Z + e + u + s) Ζεθσ ergeben. Auf einer deutschen Tastatur mit griechischer Belegung eingetippt, wäre dagegen Υεθσ herausgekommen. Wollte man vielleicht einzelne Wörter für Leser mit bürgerlichem Bildungshintergrund erkennbar lassen, so daß man das völlig unverständliche Υεθσ nachträglich retuschierte? Wohl kaum. Viel einfacher: Das Wort Zeus in der Schriftart Symbol, die wohl manche Umschlaggestalter ohne bürgerlichen Bildungshintergrund für Griechisch halten, ergibt exakt das auf dem Umschlag prangende Zeus. Falsches Schluß-Sigma inklusive.

Man möge mich einen Korinthenkacker heißen, aber so etwas enttäuscht und ärgert mich. Ist so viel Sorgfalt, wenigstens einen echten griechischen Textschnipsel – und für diejenigen unter den Lesern mit humanistischem Bildungshintergrund vielleicht sogar ein inhaltlich passender – auszuwählen und abzudrucken, schon zu viel verlangt? Ist doch egal, höre ich die Gestalterin schon rufen, merkt doch eh keiner. Das aber ist ein Irrtum – und eine Geringschätzung der Leserschaft. Es ist ferner Symptom einer Kultur, die, egal ob Populär- oder Hoch-, sich mit Oberflächlichem zufrieden gibt, mit dem Anschein und Anklang von etwas, Hauptsache, es sieht so aus wie. Da werden sinnlose Wortgebilde auf Unterarme tätowiert, die nur so klingen wie Latein, aber Unsinn sind: merkt doch eh keiner. Da werden auf CD-Booklets trompeteblasende Engel für die Einspielung eines Weihnachtsoratoriums abgebildet, die sich bei näherer Betrachtung als Statuetten an einem Hotel in Las Vegas entpuppen: merkt eh keiner. Oder man stellt ein wirres Sammelsurium von IPA-Zeichen zusammen, um den Slogan Eat more Cake zu schreiben. Das Echte ist offensichtlich nicht echt genug. Effekt durch Zuspitzung nennt das eine Bekannte, die sich ein bißchen damit auskennt, und stimmt in mein Seufzen mit ein. Einen weiteren, besonders schönen Fall weiß dieselbe Bekannte zu berichten. In einer CD-Produktion mit Klaviermusik von Schubert hatte jemand den Einfall, den Titel des Textes, „Schuberts lyrische Klavierstücke“, gesetzt in deutscher Kurrentschrift, in die Kopfzeilen des Booklets zu drucken, wobei man nicht davor zurückschreckte, auch den englischsprachigen Titel des mehrsprachigen Beihefts in Kurrentschrift zu setzen – was kaum besser ist, als niederländischer Text in griechischen Buchstaben, wobei man obendrein auch dieselbe Sorgfalt wie in jenem Fall walten ließ: auch hier sind nämlich die Schluß-s falsch gesetzt. Solche Dinge passieren, wenn man einfach nur die EDV drüberrauschen läßt. Von fehlenden Ligaturen zu schweigen. Zu pingelig? Merkt doch eh keiner! (Glücklicherweise hat in diesem Fall der Herausgeber auf das Lektorat gehört und zumindest das Schluß-s korrigiert. Bei Suhrkamp war man nicht so vorsichtig.)

Dieses Merkt-eh-keiner, wenn man es mal umdreht, bedeutet ja nichts anderes als: Ich liefere nur Qualität, wenn sie bemerkt wird. Mir selbst ist die Qualität meiner Arbeit egal, solange das Publikum nur beifällig nickt (oder keine Beschwerden kommen). Was ist denn das für eine Haltung, was für ein Selbstverständnis? Wer davon ausgeht, daß den Lapsus, die Ungenauigkeit, die Oberflächlichkeit, die Attrappe niemand merkt, muß doch auch hoffen, daß es niemand merkt, wie wenn ein Schüler, der sein vollgekritzeltes Heft vorzeigt, darauf spekuliert, das sinnlose Gekrakel nicht vorlesen zu müssen. Hoffentlich merkt’s keiner! Vor ein paar Jahren habe ich im Kino eine Produktion der Metropolitan Opera von Donizettis L’elisir d’amore gesehen. In der Pause gab es Gespräche mit einigen der beteiligten Künstler, natürlich den Sängern, aber auch mit Bühnenbildnern und Bühnenköchen, ja, so etwas gibt es. An der Met wird nämlich nichts dem Zufall überlassen. Die zwei Kostümschneiderinnen berichteten von ihrer Arbeit: Wie sie zeitgenössische Aquarelle und Stiche ausgewertet hatten, um die Kleidung so historisch wie möglich zu gestalten und dem Faux pas eines Anachronismus zu entgehen. Wie sie die Information aus dem Bildmaterial in tragbare Textilien umgesetzt, wie sie passende Stoffe ausgesucht hatten und vieles mehr. Und nun: die Adina-Darstellerin Netrebko trägt in der Produktion Hosen, Reithosen. – Na und, könnte man denken, irgendwas muß sie schließlich tragen. Aber mit diesen Hosen hat es eine besondere Bewandtnis, denn, wie uns die Kostümschneiderinnen erklärten, um 1815 war es im Baskenland, wo die Handlung spielt, absolut unüblich für eine Frau, Hosen zu tragen. Hosen trugen Männer, und Reithosen trugen nur Männer, die was zu sagen hatten. Nun führt Adina alleine einen Hof, und das Beinkleid verdeutlicht ihre Stellung: Nicht nur in wirtschaftlichen, sondern auch in Liebesdingen ist Adina in dem Stück diejenige, die die Hosen anhat. Natürlich ist das ein Detail, das, wenn überhaupt jemand, so nur sehr wenige erkannt, wertgeschätzt und gewürdigt haben dürften. Und doch. Jemand hat sich hier Mühe gegeben, sich Gedanken gemacht, nichts dem Zufall überlassen und etwas von Bedeutung eingefügt, etwas, das für den ein Zeichen ist, der es lesen kann. Und nun stelle man sich die Enttäuschung vor, wenn die Kostümbildnerinnen im Interview mit den Achseln gezuckt und Merkt ja eh keiner gemurmelt hätten, über eine Klamottenauswahl, für die sie keine Begründung hätten angeben können. Und das ist eben das Enttäuschende an so einem Cover, von dem oben die Rede war. Es hat keine Begründung, außer der, daß es einfacher schien, einen Nooteboomtext in der Schriftart Symbol zu setzen, als einen Ausschnitt aus einem Originaltext herauszusuchen. Es ist belanglos. Und traurig, weil es nicht hätte belanglos sein müssen. Es ist so traurig wie Plastikblumen oder diese Pappschachteln, die im Möbelhaus als Buchattrappe im Regal stehen.

Die Glocken fehlen

Die Kirchenglocken sind verstummt. Die freundlichen, bald besänftigenden, bald unaufdringlich mahnenden Stimmen, die mir, wenn ich wach wurde, den bisherigen Fortgang der Nacht so zuverlässig aufgezählt haben, sie sind abgeschaltet. Erst um sechs beginnt wieder das Geläute, und aus dem freundlichen Daherzählen der Stunden ist ein bloßer Mahn- und Weckruf geworden. Ich finde das sehr schade; schon daß man das Geläut seit der Restaurierung 2013–14 leiser gestellt hat (stand der Wind etwa ungünstig, konnte man sich leicht vertun, einen Schlag versäumen, und aus fünf Uhr wurde vier Uhr), hat mich traurig gemacht. Das war nicht mehr der wahre Jakob, das klang doch ganz anders, das war an meiner Heimat herumretuschiert. Eine Freundin meinte damals zu mir, das kann man heute nicht mehr machen. Zugegeben, neben der Kirche hätte ich damals, in Zeiten ungedämpfter Lautstärke, auch nicht wohnen mögen. Trotzdem. Alte Tabakdarren werden abgerissen, Scheunen durch Baumarktversatzstückhäuser ersetzt, Bäume gefällt, Anger verbaut, Bäche zugeschüttet, alte Mauern durch Gabionen ersetzt, Straßenzüge den neuesten sogenannten Erfordernissen des Verkehrs angepaßt, was nichts anderes bedeutet, als daß sie bis zur Unkenntlichkeit entstellt werden. Und jetzt fehlt auch der vertraute Klang. Könnten sie den Himmel und die Wolken und die Vogelzüge umändern, anmalen oder gleich abschaffen, sie würden auch davor keinen Halt machen.

Hürxberg am Ellerntubel, 14.9.2018

Unruhige Nacht: Die Katze, auf die ich aufpassen sollte, traf, was hätte verhindert werden sollen, mit der Nachbarskatze zusammen. Die Flurtür hatte aufgestanden, warum? Weil ich einen kaputten Staubsauger nach draußen bringen mußte. Warum? Weil das Rohr heiß wurde und zu rauchen begann. Heiße Luft stieg davon auf und ließ ein über den Stuhl gehängtes Handtuch flattern. Vielleicht sollte ich das Ding aufschrauben, damit im Rohr voneinander gelöst würde, was jetzt in chemisch brisantem Kontakt geraten war? Aber in meinem Schraubendrehersatz fand sich kein passender Kopf. Mit solchen Fragen war ich beschäftigt, als der verhaßte Nachbar aus der Tür trat und mit ihm die fremde Katze.

Morgenkaffee in Hürxberg auf der Matratze. Die vertrauten Bücher im Arbeitszimmer meiner Mutter, freundlich lächelnd nicken sie mir aus dem Regal zu, man kennt sich, wie Stammgäste in einem Café sich kennen, einander zur Kenntnis nehmen und wohlwollend in Ruhe lassen. Im Radio läuft ein Stückchen für Klavier von Arvo Pärt, Für Alina. Damit muß man sich beizeiten auch mal beschäftigen.

Der Rest des Kaffees geht runter mit Vivaldis Distelfink, von dem ich nur den zweiten Satz bemerkenswert finde. Es wird langsam hell, vom Fenster sehe ich, wie Artisten gleich die Fichten am Kehrang vom Zeltdach des Nebels steigen. Die Eltern schlafen aus, ich drehe eine Runde durch den Lieblingswald.

Fensterkreuz

Nachts Regenrauschen, zu erschöpft, das Fenster zu schließen, soll es halt reinregnen, wenn es sein muß. Nach einer Stunde Wachliegens den verbleibenden Schlaf eingesogen wie ein Verdurstender das trübe Wasser einer eingetrockneten Pfütze. Ein Schlaf, der Dunkelheit durch die Poren ausströmen läßt, ein Schlaf am tiefsten Grund eines Schachts, an dessen anderem, fernem Ende unerreichbar der Wecker schrillt.

Wieder ein Tag. Wieder ein Tag auszustreichen aus dem Kalender verbleibender Lebenstage. Was könnte nicht alles passieren an diesem Tag, wofür böten sich diese vierundzwanzig Stunden nicht alles an. Nichts von alledem wird geschehen. Sondern immer etwas anderes, immer das andere.

Wieder ein Tag, an dessen Ende ich dich nicht werde gesehen haben. Wieder ein Tag, an dessen Ende ich dich nie wieder werde geküßt haben können. Ein weiterer Tag auf der wachsenden Halde der Tage ohne uns.

Fensterkreuz

4:45. Erste Meldung im Radio: Flugausfall wegen eines Streiks bei einer Billigfluggesellschaft. An solcher Auswahl wird erkennbar, worauf es dieser Gesellschaft wirklich ankommt. (Hierzu sei zur Lektüre empfohlen: Rüdiger Safranski, Zeit. Was sie mit uns macht und was wir aus ihr machen. Darin das dritte Kapitel, „Die bewirtschaftete Zeit“)

Nachts beim Klogang über ein Regal erschrocken, in dem ich für eine Sekunde nichts anderes als ein menschliches Skelett erblicken konnte. Merkwürdig ist, daß ich über das wirkliche Skelett, das aus beruflichen Gründen im Wohnzimmer der Freundin steht, noch nie erschrocken bin. Ich habe den Knochenmann aber auch noch nie für ein Regal gehalten.

Zehn Kilometer weit brauche ich die Stirnlampe, ehe es hell genug ist für Waldwege. Bei der Pinkelpause, Kilometer fünf, am Golfplatz, mache ich sie kurz aus. Ehe ich weiterlaufe, Kopf in den Nacken: ein Funkelndes Positionslicht am Ende eines Kondensstreifens. Als würden am Himmel Glasfaserkabel verlegt, flicken die Flugzeuge Orion was ans Zeug.

In den Sturmkapseln am Feld findet sich nur etwas eingetrockneter Wind vom Vorherbst. Der läßt sich zwischen zwei Fingern zerreiben. Die große Bundesstraße atmet im Dunkeln wie ein Tier.

Ein Traum fällt mir wieder ein, oder besser: wer darin auftrat. J.Kl. und A.Kl., ehemals A.R. Man fragt sich ja, welcher Nachtmahr jetzt auf diesem Ei gesessen hat. Kommt eigentlich alles Unerledigte früher oder später in den Träumen zurück? Findet es dort seine Erledigung, seinen Abschluß? Oder erledigt sich das Unerledigte auch einmal selbst? Dafür träumt man aber auch zuviel Erledigtes. Worum ging es? Um getäuschtes Vertrauen, worum sonst.

Dieses Kind ist jetzt auch schon fünf Jahre alt.

Einer anderen Freundin schreibe ich noch. Sie sei nicht sichtbar in all ihrem geschäftigen Alltag mit Kindern. Ich schreibe ihr von einem Moment vor über zwanzig Jahren, und ob ich, hätte ich damals einen Blick auf meine eigene Zukunft werfen können, entsetzt gewesen wäre. Es ist nun diese Zukunft meine Gegenwart, und sie ist, wie sie ist. Sie war gewiß nicht unter den erträumten Zukünften, allerdings auch nicht unter den vorstellbaren, dafür wußte man zu wenig. So etwas wie das hier hätte man sich nicht in den kühnsten Visionen ausdenken können. Meine nachträgliche Hoffnung nur, schreibe ich der Freundin, das Entsetzen wäre nicht allzu groß ausgefallen.

Marmorierter Himmel in Faserweiß und Blau, die Früchte des Apfelbaums unterm Vereinshaus klein und hart, wie müde Fäuste vor schlaftrunkenen Augen.

Fensterkreuz

Vor dem Wecker wach. Der klingelte in dem Moment, wo ich dachte, es ist so still draußen, es muß noch mitten in der Nacht sein.

Geträumt von einem Abschied, der seltsam unzeremoniell ausfiel, obgleich es einer auf lange Zeit war. Mit einem Freund durch ein von zahlreichen Wanderern belebtes Gebirge gegangen. Nicht nur sieht man Farbe im Traum, es ist auch möglich, im Traum kurzsichtig zu sein und beispielsweise die Fichten auf einem entfernten Berghang nur verschwommen zu sehen.

Ein über lange Minuten sich entfernendes Flugzeug, wie ein Echo jener Gebirgslandschaft im Traum. Kaum realer: die Radiostimmen. Was auch damit zusammenhängt, daß der Inhalt der Nachrichten immer absurder wird.

Und ich Teil dieser absurdern Welt. Da hat selbst das Kaffeekochen etwas Traumverlorenes an sich. Eine Unsicherheit, ein Zögern, als sei das alles, die Flugzeuge, die ersten Schritte vorm Fenster, das Schimpfen von Amseln, ein Bus in der Seitenstraße, das Klirren von Porzellan in der Küche, nur halb zu glauben.

 
Das Gefühl, daß da eigentlich ein ganz anderes Leben für mich reserviert gewesen ist.

(“Dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.”)

Frühschwimmen

Kurz nach sechs, das leere Becken ist wie mit grauer Wandfarbe gefüllt, Wolkenfarbe, Nebelfarbe, blutleerer Himmel, das Wasser glatt und scheinbar flach, aufgewölbt, darunter liegen die Markierungen wie bei einer Landebahn, nach oben strebend, als wollte sie heraus aus dem Becken. Über allem der leckgeschlagene Vollmond. Es ist weder Nacht noch Tag, weder Morgen noch Abend, es ist eine Zeit außerhalb der Zeit, in der die fünfzehn Schwimmer sich hier versammelt haben. Über dem Einlaßhäuschen brennt ein Scheinwerfer, auf dem Gelände ist es duster wie in einem Park im Herbst, wenn zum ersten Mal die Laternen wieder angehen.
Harte Kühle der Steinplatten, unter den Duschen fehlt der Wasserkorridor, die Bänke sind taunaß. Wolkenlos, es soll ein warmer Tag werden, aber jetzt, fröstelnd am Beckenrand stehend, scheint es unmöglich, daß aus dieser Traumwurzel je etwas anderes sprießen könnte als wieder und wieder derselbe Traum, in dem ich, Gott weiß, wieso, nachts mit fünfzehn anderen Schwimmern im Freibad bin und als letzter am Beckenrand stehe, während alle anderen sich schon ins Wasser gelassen haben und hartnäckig, verbissen fast, ihre Bahnen drehen. Läge der Spiegel still, wie er es eben noch tat, sähe man den Mond darin stehen. Jetzt ist die Oberfläche gekräuselt, aber obwohl soviel Betrieb herrscht, ist es still, fast vollkommen still, so still, daß man hinter den geschlossenen Pommesbuden und den Kabinen und den Weißbuchenhecken am Zaun gedämpft den Berufsverkehr auf der Trierer Straße hören kann, das einzige, was normal scheint an diesem Morgen, was aber gleichsam entrückt ist, einer anderen Welt angehören muß, die die Welt der Schwimmer in ihrem dämmrigen Becken nicht zu berühren scheint.
Brille ab, Schwimmbrille auf, und im nächsten Moment schon auf der Kante sitzen, Beine im Wasser, und obwohl nichts wirklicher ist als die Kälte, die im nächsten Augenblick über die Schultern stürzt, bleibt alles wie ein sonderbarer Traum, weniger unter der Wasseroberfläche als über ihr, und fast scheint es, als sei es unter Wasser ein wenig heller, als käme der Morgen langsam aus dem Becken gestiegen und müßte sich an Land erst einmal orientieren. In diesen Morgen ragen die schwingenden und zappelnden Beine der noch über Wasser in Träumen befindlichen Schwimmer herein, wie unter der Decke die Glieder eines Kindes, das sich freigestrampelt hat.
Grund gleitet vorbei, gut sichtbar, Staub eines langen, hellen Sommers liegt in den Fugen, von den Markierungen hat sich an einem Ende eine Ecke gelöst. Beim Atemholen abwechselnd der graue Himmel und die Bäume der Liegewiese, auf der Rückbahn umgekehrt. Ich habe die Bahn ganz am Rand belegt, so kann ich mit gutem Grund nicht ausweichen. Das ist mir lieber so, auch wenn es bedeutet, daß ich mich bei jeder Hinbahn zwischen Treppe und Beckenrand quetschen muß. Zehnmal Treppe, zwanzigmal die gelöste Ecke, zehnmal von jeder Seite, dann bin ich fertig, ich stemme mich aus dem Becken, taumele zur Bank, dann zähneklappernd nach Handtuch und Brille gefummelt, und am Beckenrand entlang zu den Duschen gestakt, am ganzen Körper unkontrollierbar zitternd, schwankend, wie eine Fliege am Saum eines wackelnden Glases entlang. Der Mond ist noch nicht unter- die Sonne hinter den Ahornbäumen noch immer nicht aufgegangen. Man zieht sich schweigend um, die Kabinen benutzt niemand, wir sind ja unter uns. Das Drehkreuz steht offen. Das Wasser aus den Ohren geschüttelt und heimwärts in den Tag, wo hinter versperrten Ladentüren eben die Lichter angehen.