Die Temperatur am frühen Morgen schwankt von Tag zu Tag erheblich. Während ich am Sonntag noch 26 km lang nicht nur gefröstelt, sondern richtig gefroren habe, ist das heute wieder ein Lauf gewesen, bei dem man ins Schwitzen geriet. Ich weiß nicht, was ich lieber habe. Laufen bei Wärme ist wie waten durch warmes Wasser. Die kalte Luft dagegen legt sich wie Eisen um die Glieder, als trüge man eine Rüstung aus Luft.
Nach Monaten habe ich jetzt endlich wieder eine Auswertungssoftware für meine Laufuhr: Turtle Sport. Nach ein paar Fehlversuchen hat das Programm mir sogar alle seit Mai 2017 nach der Systemaktualisierung und dem anschließenden Abschmieren des Pytrainers aufgelaufenen Runden importiert. Das hätte ich längst haben können. Der Mensch ist manchmal zu träge dazu, sich das Leben besser zu machen.
Merkwürdig, wie man seine Biographie auslagert. Aber jetzt, wo alle Trainings hübsch sauber mit Zeit, Datum, Dauer und Länge sowie mit einer hübschen Karte versehen in ein Verzeichnis eingetragen sind, kommen mir diese Kilometer erst wirklich gelaufen vor, als habe das noch eines Beweises entbehrt, solange sie nur als abstrakte Datensätze irgendwo gespeichert waren. Als wäre das Leben erst dann wirklich gelebt, wenn es irgendwo dokumentiert ist, anschaulich dokumentiert.
Und abermals die Technik: Im Licht der Straßenlaterne kann ich gerade so eben erkennen, daß mit der Laufuhr was nicht stimmt, da ist so ein komischer Hinweisbalken, das wird doch nicht? Doch: Battery low. Press enter. Ich war fest überzeugt, vor dem letzten Lauf, der nur zweieinviertel Stunden gedauert hat, den Akku geladen zu haben. Schon seit einiger Zeit habe ich den Eindruck, daß der Akku allmählich schlapp macht. Laut Herstellerangaben sollte der acht Stunden im Dauerbetrieb durchstehen. Das war zwar noch nie der Fall, aber fünf Stunden waren allemal drin. Alles unter vier Stunden (Marathondauer) wäre unzweckmäßig. Vielleicht habe ich mich auch geirrt, und das letzte Aufladen ist länger her. Jedenfalls schaltet die Uhr nach 15-Komma-Kilometern ab. Aus, Ende. Sechs Kilometer fehlen diesem Lauf, fehlen für immer in meiner Statistik, das wurmt mich. Nicht dokumentiert, nicht gelaufen, so ist das.
Eine Technik, auf die ich verzichten kann, sind die Holzvollernter, die Motorsägen; und überhaupt alle motorisierten Fahrzeuge im Wald. In dieser Hinsicht zumindest sind Fortschritte zu verzeichnen, seit einem Monat ist es jetzt morgens so still im Wald, wie ich mir das fürs ganze Jahr wünsche. Mißtrauisch beäuge ich, was sich mir als frische Schleifspuren und Druckmulden darstellt. Unlängst geschlagene Stämme scheinen das zu sein, die an einem Wegstück aufgestapelt sind, wo bislang nicht gearbeitet worden ist. Gezweig liegt herum, Rindenstücke wie abgedeckte Ziegel, Fichtengrün, vom Weg fort zeigen Radspuren in den Wald. Heute früh drei Stümpfe, deren Schnittflächen noch kaum getrocknet aussahen. Aber ich kann mich irren. Am Telephon vermutet eine Freundin, es könnte an der Waldbrandgefahr liegen, schließlich sind das alles Verbrennungsmotoren, und bei der Trockenheit reicht ein Funke.
Wie dem auch sei, es ist still im Wald. Der Wind ist fortgegangen und hat die Vögel weggebracht, das vertrocknete Laub hängt schlaff von seinen Fahnenstangen, drei Tropfen fallen wie zur Probe und geben gleich wieder auf. Dem Regen ist es zu warm und zu staubig hier unten. Die Hundehalter sind schon unterwegs, als ich, die blinde Laufuhr am Handgelenk schlenkernd wie ein kaputtes Zahlenschloß, aus dem brütenden Wald ins brütende Dorf zurücklaufe.
“Als wäre das Leben erst dann wirklich gelebt, wenn es irgendwo dokumentiert ist, anschaulich dokumentiert.” Das denke ich manchmal auch.
Spannende Gedanken, die ich gerne gelesen habe.