Nachvollziehbar

Bislang habe ich nie begreifen können, wie die Massen jubelnd in den ersten Weltkrieg haben ziehen können. Jubelnd! Mit Begeisterung! Unfaßbar.

Klimawandel, Überbevölkerung, Völkerwanderungen, korrupte Regime, korrupte Konzerne, hilf- und planlose, handlungsunwillige oder -unfähige Regierungen, Deregulierung, Überregulierung, undurchsichtige Abkommen, Aushöhlung der Staatlichkeit, Untergrabung der Freiheitsrechte, Zerfall der Solidarsysteme, Umverteilung von Unten nach Oben, Unterwerfung jeder Lebenswelt unter das Diktat der Wirtschaftlichkeit, Umweltkatastrophen, Artensterben, Klimaerwärmung, Energie-, Bildungs-, Beschäftigungs- und Finanzkrisen, Abgasskandale, Kaltschnäuzigkeit und Zynismus der Industrie und ihrer Handlanger, Pleiten, Pannen, Mißwirtschaft, und dann hat auch noch die Bahn Verspätung.

Allmählich glaube ich, eine gewisse Ahnung zu bekommen, wie sich das damals, 1914 angefühlt haben mag. Die aufgestaute Frustration, die nach einer Entladung verlangte. Endlich, endlich, endlich handeln. Und sei es auch nur, um etwas kaputtzuschlagen. Tabula rasa! Und danach fangen wir nochmal von vorne an, from scratch, und ziehen das Ding völlig neu und ganz anders auf. Dann überlassen wir nichts mehr dem Zufall. Dann machen wir alles richtig. Dann planen wir durch.

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Weißt du, sagte ich in einem Gespräch, hier ruft Campact zur Demo auf, dort tritt Digitalcourage mit einer Unterschriftenaktion an mich heran, hier will WeAct eine Spende, dort fordert MehrDemokratiee.V. mich auf, dem Abgeordneten meines Wahlkreises zu schreiben – es ist ganz schön viel, was da ungefragt an mich herangetragen wird, finde ich.
Ja, das nennt man Teilhabe, sagt mein Gegenüber, und mich packt schon wieder die Wut.
Ich will keine Teilhabe, rufe ich aus, ich will in Ruhe gelassen werden, von allen.

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Der Mensch will handeln, und er will die Folgen seines Handelns unmittelbar erleben. Fleischverzicht, Autoverzicht und immer brav im Biomarkt saisonales Gemüse gekauft, und was hat’s gebracht? Nix. Man ruft in ein schwarzes Loch hinein. Hier gespendet, dort unterschrieben, dem Abgeordneten eine Mail geschickt. Was bringt’s? Und selbst wenn dank des Drucks hunderttausender Unterschriften der Hambacher Forst stehen bliebe und das Rettungsschiff wieder auslaufen dürfte, was hat das mit mir und meiner Spende oder Unterschrift zu tun? Nix. Die Dinge passieren, aber sie passieren, gute oder schlechte Dinge, willkommene oder unwillkommene, losgelöst von meinem Handeln oder Unterlassen. Sie passieren sowieso, und der Gedanke, ich habe hier auch mit meiner Unterschrift, blabla, ist rein abstrakt. Ich bin erleichtert, wenn der Hambacher Forst stehen bleiben darf. Aber die Befriedigung bleibt aus, ein Belohnungsgefühl für mein Handeln stellt sich nicht ein. Wie anders wäre das, ein Gewehr zu nehmen und zu schießen? Handeln mit unmittelbaren Folgen. Zwar billige ich das nicht, und bis vor kurzem hätte ich es nicht einmal verstanden. Aber inzwischen ist das Maß der Frustration so voll, daß ich zumindest den Impuls nachvollziehen kann.

0 Gedanken zu „Nachvollziehbar

  1. Uns fehlen gesunde Ventile – denn mit Konsum, so merken wir allmählich, lässt sich nur scheinbar kompensieren. Uns fehlen Werkzeuge, um diese Wutimpulse, diese Hilflosigkeit-Gefühle in etwas zu verwandeln, das nachhaltig wirksam und befriedigend ist.

    1. Nicht nur Ventile, sondern Möglichkeiten, das Lebensumwelt zu gestalten und zu verbessern. Nicht auf dem Weg über Instanzen, Anträge und politische Prozesse, sondern selbstwirksam-unmittelbar. (Nicht daß ich wüßte, wie das in einer globalisierten Welt verwirklich werden könnte.)

  2. Du malst ein Schreckensszenario, aber kein utopisches, leider. Es ist als führe der Mensch, die Politik, die Gesellschaften regelmäßig die Karren so lange in den Dreck bis nur noch Knarren in den Händen bleiben. Ich kann deine Gedankengänge gut nachvollziehen, sie decken sich teilweise mit meinen, auch das Bedürfnis nach Ruhe, nach Frieden, nach gesundem Meschenverstand, und wegen letzterem kaufe ich weiterhin bio, kommt mir kein Gift in den Garten, kaufe ich möglichst kein Plastik, ändern tut das leider wirklich nix, auch wenn ich daran einst glaubte.
    Möge das Schlimmste nicht eintreffen!

    1. Es geht nicht um den Karren, der meiner Ansicht nach seit Ende des Neolithikums im Dreck feststeckt, sondern darum, daß man sich nicht einigen kann, in welcher Welt man eigentlich leben will. Schon ein Ehepaar schafft es ja kaum, Einigung darüber herzustellen, wie die gemeinsame Wohnung eingerichtet werden soll, und an der sprichwörtlichen Methode, die Zahnpastatube auszudrücken oder die Spülmaschine einzuräumen, sollen schon Lebensgemeinschaften zerbrochen sein — wie soll das mit 80 Mio. Bundesbürgern gehen, oder mit 6 Milliarden, die diesen Globus bevölkern? Das ist eine Lebensgemeinsaschaft, die nicht zerbrechen kann. In einer Gruppe von sechzig bis hundert Menschen hat die eigene Stimme noch ein individuelles Gewicht — in einer Stadt, in einer Gemeinde, in einem Nationalstaat hat sie nur noch eine statistisch aufgelöste Wirkung. Und das frustriert. Manch einen so sehr, daß er zur Waffe greift.

  3. Manipulation gab’s schon immer. Das mit der aufgestauten Frustration derzeit verstehe ich schon, allerdings nicht die (rechte) Richtung, in der sie sich manifestiert. Oder doch, denn Merkel, Grüne und sogar die Linke haben ja keine Alternativen zu bieten. Ich wünsche Sahras “Aufstehen” viel Erfolg. Ist nur ein Strohhalm, sollte sich diese Bewegung als genauso manipuliert und tendenziös erweisen, bin ich raus.

  4. Diesen Impulsen darf man nicht nachgeben. Man muss ihnen etwas entgegensetzen, wenn auch nur im Rahmen der eigenen, geringen Möglichkeiten. (Und ich weiß ja, dass Sie eine solche Ermahnung nicht wirklich nötig haben.)

    1. Das fällt mir insofern leicht, als ich die Hoffnung auf mich eh schon aufgegeben habe. (Viel schwerer: Ehrlich sein zu anderen, weil die die Hoffnung auf mich vielleicht noch nicht aufgegeben haben.)

  5. Ich glaube, die Frustration ist da am größten, wo die Erwartung am größten ist. Wenn ich den “perfekten” Menschen erwarte, dann ende ich zwangsläufig in der totalen Frustration. Ohne all die von dir genannten Schrecknisse klein reden zu wollen, hilft eben doch (mir jedenfalls), wahr zu nehmen, was gut läuft und sich gut anfühlt, insbesondere im Vergleich zu früher. Ich kenne aus persönlichen Aufzeichnungen die Lebenswirklichkeiten meiner Vorfahren, Großeltern etc. ziemlich gut, und mache jeden Morgen drei Kreuze, dass ich nicht in den zwanziger, dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts leben musste beispielsweise, oder noch früher. Die Begeisterung über den beginnenden Weltkrieg 1914 resultierte übrigens weniger aus einem Frustrationsstau, sondern aus einem Überheblichkeitsgefühl, aus einem von der herrschenden Schicht genährten Überlegenheitsgefühl, gepaart mit suggerierter Demütigung. Man wollte es den Franzosen und anderen halt “kurz” mal zeigen (niemand konnte sich zu Beginn vorstellen, dass der Krieg länger als ein paar Monate währen würde), wo der Hammer hängt. Ein paar Überlegungen meinerseits – beste Grüße!

    1. Carl Zuckmayer beschreibt die Begeisterung über den Kriegsausbruch in seinen Lebenserinnerungen durchaus als empfundenen Ausweg aus einem feststeckenden Leben. Man vergleiche das auch einmal mit der literarisch übrformten Darstellung in Hesses Demian, die scharf an der Kriegsverherrlichung entlangschrammt.

      Es stimmt schon, was Sie sagen, es tut nicht gut, nur dorthin zu schauen, wo die Probleme sind. Man macht sich unglücklich damit. Der Mensch ist indes ein Tier, das Sorgen hat. In einer Zeichnung mit hundert Grinsegesichtern finden wir in Sekunden das einzige grienende heraus; umgekehrt gelingt das nicht so leicht. Und wir sind bereit, für die Ausräumung eines letzten Risikos enorme Energien aufzuwenden, nur um von 98%iger auf 100%ige Sicherheit zu kommen. Diese Haltungen sind angeboren und für ein Leben in der Savanne unentbehrlich, das kriegen Sie nicht so einfach raus aus dem Menschen.

      Man empfindet immer das als normal, was man nicht anders kennt; wer weiß, wie sich unsere Großeltern und Urgroßeltern gefühlt hätten, wären sie in unsere heutige Welt katapultiert worden. Sie hätten — ganz so wie wir das tun, wenn wir uns vorstellen, wir hätten in deren Welt uns zurechtfinden müssen — zuallererst bemerkt, was sie alles verloren hätten. Vom gesünderen Essen über die sauberere Luft bis zu stabilen Sozialstrukturen.

      1. Nach allem, was wir über Tiere wissen, fehlt es ihnen (möglicherweise!) an Bewusstsein. Will sagen: Wenn wir uns nach Art der Tiere, wie Sie sagen, reflexhaft auf die Sorgen fokussieren, dann kann ich als Mensch, gerade im Wissen darum, mich dazu verhalten. Z. B. mich auf die Dinge konzentrieren, die mir gut tun etc. Ich seh’s also, obgleich ich völlig zustimme dass wir evolutionär gebunden sind, ungleich positiver. Und ja, die Altvorderen würden zunächst bemerken, was sie in der heutigen Zeit nicht vorfinden. Aber ich glaube, die komfortable Spritze beim Zahnarzt würden sie ich ganz schnell zu schätzen wissen. In puncto gesünderes Essen bin ich mir auch nicht sicher, ob man das der Vorfahren so pauschal dem heutigen vorziehen kann (ich würde es nicht – warum sollten wir auch immer länger leben, wenn das Essen immer schlechter wir?), ganz zu schweigen von den Sozialstrukturen. Ein Westeuropäer hat heute sein ganzes Leben lang die Möglichkeit, sich neu zu orientieren oder zu verändern. Und wenn ich von Eltern, früher den Großeltern, so höre, was früher auf dem Dorf so los war, wie Menschen ausgegrenzt wurden, wie die Katholiken gegen die Protestanten gekämpft haben etc., dann zeigt sich mir, dass die Vergangenheit für viele in erster Linie eine Projektionsfläche ist. Alles, was heute schief läuft, muss früher irgendwie besser gewesen sein. Ein Denken, das wahrscheinlich mit den Romantikern zu Beginn des 19. Jahrhunderts in die Welt kam.

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