Noch einmal Haariges

Vor einigen Tagen wieder ein Gespräch über das Achselhaarproblem, und wie schon bei früheren Gesprächen fand O., und hier gebrauchte sie die STANDARDFORMULIERUNG, nein, das hätte sie immer schon so gemacht. Seit der erste Flaum in ihrer Axilla sichtbar und kenntlich geworden sei, habe sie ihn sofort entfernt. Ich entgegnete, daß vielleicht ihre Generation die erste gewesen sei, die mit der Ausmerzung haariger Stellen angefangen hätte; die Älteren (Frauen meiner eigenen Generation und Ältere) hätten sich dann angesichts der jugendlich glänzenden Achsel der viel Jüngeren sich plötzlich barbarisch und unschön empfunden und unter Attraktivitätsdruck, der immer von den Jüngeren ausgeht, zum Nachahmen aufgefordert gefühlt, so daß sich die Unsitte von den gerade pubertierenden Mädchen allmählich über die jungen Erwaschsenen schließlich auf alle Frauen durchgesetzt habe. Die Jüngsten seien, so meine Idee, Vorbild für die Älteren gewesen. Nein, widersprach O. vehement, umgekehrt sei es gewesen, sie selbst habe es ja auch nur den anderen abgeschaut, beispielsweise bei ihrer eigenen Mutter (eine Generation vor mir), die es ihrerseits auch schon immer so gemacht habe.

Jetzt frage ich mich, ob meine Wahrnehmung oder ihre schräg ist. Ich glaube ja, daß es einen allgemeinen Künstlichkeitstrend gegeben hat, irgendwann auf dem Weg von den 90ern zur Jahrtausendwende. Es gehen ja auch heute Frauen nicht mehr ohne Büstenhalter aus dem Haus, derweil es noch nicht so lange her ist, daß manch eine ihn auch mal nicht trug, wenn sie ihn störend oder unbequem fand oder sie zu faul war, ihn anzuziehen. Oder bin ich einfach nur merkwürdigen Frauen begegnet? Das mit der Behaarung indes konnte man ja auch an wildfremden Frauen beobachten, ohne entschuldigen Sie … darf ich mal … zumindest im Sommer.

Merkwürdig, das alles. Andererseits auch nur eins von vielen Phänomenen derselben Gruppe. Das verweist auf das Modephänomen, auf das Phänomen der Stilgemeinschaft, der Kunstepoche. Warum finden auf einmal Scharen von Menschen Plateauschuhe geil? Oder weiße Slipper? (bäh) Wie konstituiert sich das gemeinsame Empfinden, daß nun Albertibässe schick seien, oder doppelpunktierte Rhythmen? Es kann ja keine Eigenschaft der Dinge selbst sein, weil ein und derselbe Gegenstand, je nachdem, in welcher Zeit man ihn betrachtet, schick oder schnöde sein kann.

Bleibt noch das Phänomen des Vorbilds. Aber das bringt neue Erklärungsschwierigkeiten mit sich.

Wissensblabla

Was mir zunehmend auf die Keimdrüsen geht, das ist dieses ständige Gerede von irgendwelchen neuen Gesellschaften, in der wir jetzt angeblich leben, der Informations-, der Wissens-, der Global-, der Blablagesellschaft … Nerven kann auch, daß aus diesem Umstand immer verschiedene Forderungen und Folgerungen gemacht und gezogen werden, die alle darauf hinauslaufen, daß ja in der modernen globalen Blablagesellschaft die Dinge fürderhin soundso … niemand mehr sich berufen … nicht mehr ausruhen auf … ständige Flexibilität … und was der Dinge mehr sind. Besonders in Rage bringt mich der Begriff Wissensgesellschaft. Reizwort, rotes Tuch. Bringt mich in Rage wie Lebensqualität und Globalisierung. Gott ja, Wissen, sicher. Was aber , bitteschön, soll es damit jetzt wieder auf sich haben oder was ist daran neu? Liebe Vorhutintellektuelle, verschont mich mit diesem Scheiß. Was sich ändert, sind immer nur Oberflächen und Eisbergspitzen. Oder was glaubt ihr? Wissen kann man nicht essen. Das ganze Wissensgedöns kann man gut und gerne in die Tonne kloppen, das ist spaßig, klar, aber macht nicht satt. Das Wissenswirtschaftsgedöns und globale Netzwerkblabla nützt uns gar nichts, wenn der Bildschirm hell, der Magen aber leer ist. Was glaubt ihr eigentlich, wovon wir leben? Von Wissen und vom Webzwonull? Luft und Liebe, wie? Sind das die Spintisierereien einer Generation, die als Kind geglaubt hat, Kühe seien lila und gäben Kakao?
Da können wir noch so wichtige Dinge zu erledigen haben zwischen Dax und Dow-Jones, da können wir noch so fiebrige Aktivität an den Tag legen an Wallstreet und auf der Datenautobahn, und ob wir jetzt mobil vom Strand aus eine furchtbar wichtige Konferenz übers Händie abhalten oder unser Geld mit Mouseklicks verdienen, es gilt weiterhin, was schon den Alten klar war. Drei Dinge. Non esurire, non sitire, non algere. „Nicht hungern, nicht dürsten, nicht frieren.“ (Seneca, Epistel 4) An unseren Grundbedürfen ändert sich vorläufig nichts, dürfen wir annehmen. Und es sind Grundbedürfnisse, eben weil sie das wichtigste sind, die Basis. Der Rest kommt irgendwo dahinter, weit dahinter. Das Wissen aber, das diesen ganzen aufgebrachten Stimmen zufolge schon so wichtig ist, daß sich unsere Gesellschaft danach benennen darf, was ist daran so besonderes? Wie man Wolle spinnt, wie man ein Feld bestellt, wie man Brot backt, wie man ein Haus baut, ist überall und seit Jahrhunderten bekannt, das Wissen darüber verfügbar. Brot wird man auch in hundert Jahren noch essen, Häuser wird man immer brauchen und im Winter ist man froh um einen Pullover. Ich sage nicht, daß das schon alles ist. Nein, das wahre Leben geht los, wenn für all das gesorgt ist. Aber eben erst dann, und insofern man von den Grundlagen spricht, sind wir immer noch eine Bauerngesellschaft und werden es auch immer sein. Falls wir nicht eines Tages es dahin bringen, vom Dudelknopf im Ohr satt zu werden.

Origami

Raum für schreitende Pferde
über den Himmel hin, genug
Platz für die Wimpern, und die Fingerspitzen
für die Bauchhärlinge, die Picknicklöffel
Karos im Gras, jeden Augenblick ein Ballon kann
hängenbleiben am verwirrten Horizont.

Pflanzstädte, gesegnet mit herzvollen
Bestrebungen, erheben sich unter
klappernden Augendeckeln, nähren
sich von Wasser und blitzendem
Stein, machen kristalline Symbiosen.

Eine Fälschung am Wegesrand, so
üben die Blumen den Zirkus, und da:
Pappkameraden schielen über die Hecken
Spanner und Vogelvoyeure! Jemand muß sich
das ausgedacht haben,
ein Pappenheimer und
erfindungsreicher Garten-Clown.

Eine Singdrossel tut so als ob …
eine Amsel singt wie … die Dotterblume gleichsam …
Dornen, wie wenn …
Ja, so. Vergleiche: sind wieder zulässig, gehascht
wird wieder nach Worten und Bilder für alles Gebild
so viel an uralter Neuheit, vom Himmel
bröckelt der Putz.

Selbst Steine drängen zum Licht
aus der zähen Scholle, Knetblumen
die eine Kinderhand in die Hecke warf
leuchten in multibunt, natürlich die Fliegen,
haben ihre glitzernden Flugbahnen
aus dem Tuschkasten nachgezogen

Brunnen stehn offen,
in ihrem Inneren
schaukeln Stücke entwendeten
Himmels, das Wasser
lacht über einen ganz neues Witz,
zuletzt üben am Dachstuhl
die Tauben Dauerküssen.

So grün, das kann doch nicht,
so gelb die Tulpen, unmöglich,
die Farben sind doch geklaut
Himmel, Horizonte, Häuser von
Kinderhand gekrakelt, Malen
nach Zahlen, überm Bach verläuft
die frische Tinte, Wasserblau in Himmelblau,
das braucht man nicht zu üben.

Die Luft ruft Vögel auf
den Laufsteg, drüben
sägt es und klopft es
noch an den Kulissen, hörst du
von ferne die Schüsse des Salats,
die Wasserlilien sind mit Feuchten Schatten
leichbekleidet am blankgeputzten Weiher,
neigen, ein wetterfestes Origami,
die geschminkten Köpfchen.

Einem angetrunkenen Akrobat
gleich balanciert die Sonne auf
einer schrägen Fichte dahin.
Schüchtern haben sich die Schatten
wieder an die Füße der Wanderer geheftet.
Noch zaghaft, und so wacklig, daß sie Mühe haben, Schritt
zu halten, vorwärts Marsch, auch am Huf der Rehe
kleben sie, schon sicherer, am schwierigsten aber
nachzuhalten über den Boden sind
die Muster der Stare und
die Schwingen der Kraniche, die fliegenden
Pferde zumal am Himmel, der auch nicht
stille steht.

Von Vernunft des Unpraktischen

Die Entscheidung gegen etwas Praktisches und für etwas Schönes ist eine Wahl, die ihrer eigenen Vernunft gehorcht, einer ästhetischen Vernunft nämlich.
Es ist nicht praktisch, täglich fünf Stunden Violine zu üben; es ist nicht praktisch und überdies unbequem, zwei Stunden stillzusitzen, um eine Mahler-Sinfonie zu hören; es ist ziemlich unpraktisch, Monate und Jahre am Schreibtisch zuzubringen, um einen komplizierten Roman zu schreiben. Noch viel unpraktischer ist es, im Alter von 4 Jahren zu lernen, auf den Zehenspitzen zu stehen, um Ballettänzer zu werden. Unpraktisch auch, in Platten aus Teig feine Schichten aus Butter einzuwalzen, um einen luftigen Blätterteig herzustellen. Völlig unpraktisch, Jahre mit dem Studium des Altgriechischen zu verbringen, nur um ein Fragment der Sappho goutieren zu können.
Praktisch wäre es, keine Bücher zu schreiben, keine Musik zu komponieren, den eigenen Wortschatz auf 500 Wörter zu beschränken, Chinesisch statt Latein zu lernen, kein Instrument zu beherrschen, nicht zu singen, nicht zu tanzen und immer zu McDoof zu gehen, wenn der Hunger zwickt. Cola ist praktisch, Chardonnay schwierig. Doch wer das Schöne will, kommt um das Unpraktische nicht herum. Das praktische Leben ist öde. Es ist banal. Das schwierige Leben aber ist nicht banal, niemals langweilig, und manchmal ist es sogar schön. Manchmal wiegt nämlich ein einziger Vers der Sappho Jahre des Griechischlernens auf.

Warum ich niemals ein Mobiltelephon haben werde

Immer wieder das gleiche Argument. Fange ich an, über die Unsitte des mobilen Telephonats zu wettern, bekommen ich mit schöner Regelmäßigkeit vorgehalten, das Händie sei „schon praktisch“. Dann folgt meistens eine lange Liste von Situationen, in denen das Händie Unfälle vermieden, Lebensbünde gefördert, Menschen gerettet, Karrieren erst ermöglicht habe, undsoweiter undsoweiter, ein unentbehrliches Ding. Wie aufregend das Leben geworden sein muß,denke ich dann jedesmal. Früher gab es nicht so viele Katastrophen oder auch nur Mißgeschicke, wie heute durch das Händie tagtäglich vermieden werden. Haben wir besser aufgepaßt? Sind die Fälle im voice recorder einfach besser dokumentiert? Irgend etwas ist da doch faul im Staate Nokia.

„Ja, hallo ich komme fünf Minuten später“. Der Tagesablauf mancher Menschen ist offensichtlich derart straff organisiert, daß eine Ungenauigkeit von fünf Minuten schon ein Telephonat erfordert. Mußte man früher dringend von unterwegs telephonieren, weil man sich wirklich verspätet hatte, so ging man in eine Telephonzelle, und man ging dort nur hin, wenn es wirklich sein mußte. Fünf Minuten später? Dafür wäre früher niemand in die Telephonzelle gegangen. Fünf Minuten hätte jeder als durchaus zumutbare Wartezeit empfunden. Heute muß man ja schon telephonieren, scheint es, um mitzuteilen, daß man pünktlich ist. Würden heute sämtliche Gespräche, an denen ein Mobiltelephon beteiligt ist, in Telephonzellen geführt, reichten die Warteschlangen davor um ganze Häuserblocks. Ist unser Leben so viel komplizierter geworden, daß wir einfach mehr zu sagen haben? Wohl kaum, wenn man mal darauf achtet, was die Gesprächspartner einander so mitzuteilen haben:

Die mobile Telephongemeinde, so der Augenschein, besteht nämlich in der Mehrzahl aus verirrten Individuen, die einander ständig mitteilen müssen, wo sie gerade sind. Man achte mal darauf, wie hoch der Anteil der Gespräche ist, die mit “Ich bin jetzt in” anfangen. „Ich bin jetzt im Zug.“ “Ich bin jetzt in Sprockhövel.” “Ich bin noch in der Mathestunde.”. Ich frage mich, wen das interessiert. Habe ich sonst noch was mitzuteilen? Leider ja: „Ich liebe dich Schatzi.“ Wie schön für Schatzi. “Ich hab gerade mit Hansjörg Schluß gemacht.” Tja, schade für Hansjörg. Das beste auf dem Gebiet des Scham- und Schmerzfreien Telephonierens in der Öffentlichkeit trug sich in einem bis unters Dach überfüllten Nahverkehrszug zu: “Ich sachet dir jetzt unter vier Augen: Der Detlev macht die Arbeit schwarz, ne. Aber hasse gezz nich gehört, ne.”
Unter vier Augen, aha.
Aus der Tatsache, daß die eine Hälfte der mobil geführten Gespräche entweder aufschiebbar oder so intimer Natur ist, daß sie besser zu Hause geführt würden (oder beides); und daraus, daß die andere Hälfte nur dazu dient, einander den Standort mitzuteilen, verschluderte Vereinbarungen nachzuholen oder nur durchzugeben, was man am anderen Ende sowieso bald selbst merken wird, („Ich bin grad beim Henker, ich fürchte wir sehen uns dann doch nicht mehr.“) darf man den Schluß ziehen, daß 99 % aller derartiger Gespräche schlichtweg überflüssig sind, und, gäbe es so etwas wie eine Ästhetik des telephonischen Schweigens, unbedingt vermieden werden müßten.

Diese Ästhetik gibt es wohl, aber sie scheint nur rückwirkend gültig zu sein. Alle telephonieren, aber keiner will es später gewesen sein. Jeder quatscht, was Atem, Stimmbänder und Akku nur hergeben, aber auf die Nerven fallen immer nur die anderen. Verblüffend jedenfalls, was die Leute so alles mit ihrem Telephon machen. Man könnte meinen, das Telephon sei zum Telephonieren da. Aber nein, weit gefehlt. Telephonieren? Ich doch nicht: „Ich hab zwar ein Händie, aber ich brauche es fast nie.“ Aha. Wozu hast du es dir dann angeschafft? Auch war ich immer der Ansicht, das ach so Praktische beim Mobiltelephon sei, nun ja, die Mobilität. Irrtum: „Ich hab zwar auch ein Händie, aber ich lasse es immer zu Hause.“ Erstaunlich, wo doch zu Hause auch noch ein Festnetztelephon vorhanden sein dürfte. Man fragt sich, wozu diese Leute zwei Telephone haben. Zum Stereoquatschen? Nicht auszudenken! „Also, ich habe zwar ein Händie, aber ich verwende es nur als Wecker.“ Donnerwetter! Ein richtiger Wecker war wahrscheinlich zu teuer. Und auf die Anmerkung, das Ziffernblatt dieser Uhr sei ja so klein, da könne man ja die Zeit kaum ablesen, entgegnete der Uhrmacher seelenruhig, um die Uhrzeit abzufragen, brauche man keine Uhr, dafür habe man ja das Händie.
Ach so, ja, natürlich.
Verblüffend auch der aberwitzige Zufall, daß mein Bekanntenkreis genau aus der verschwindenden Minderheit derer besteht, die nicht in der Öffentlichkeit telephonieren. Oder wie ist es sonst zu erklären, daß die Telephonierer immer die anderen sind?

Womöglich hätte ich gar nichts gegen diese strippenlosen Quasselstrippen einzuwenden, wenn sich seit ihrem Aufkommen so etwas wie eine Mobiltelephonkultur etabliert hätte, so etwas wie die Tischsitten gepflegten Telephonierens aufgekommen wären, in der so einleuchtende Regeln Geltung hätten, wie die, sich kurz zu fassen und zum Gespräch nach draußen zu gehen. Und überhaupt nur in solchen Fällen zu telephonieren, wo man früher einen öffentlichen Fernsprecher in Gebrauch genommen hätte – dann nämlich, wenn es wirklich gar nicht mehr anders geht. Ich wäre sehr viel gelassener (ich möchte nicht behaupten, ich hätte vielleicht selbst eines), wenn den Benutzern von Funktelephonen das ganze ein bißchen peinlich wäre. So wie eben mal auf Toilette. Dafür sucht man ja auch ein stilles Örtchen auf. Es gäbe weder eine Tinnitomanie noch könnten 200 g Blech und Kunststoff jemals Statussymbol werden. Niemand würde damit herumfuchteln, bis jeder der Umstehenden es gesehen, niemand würde es solange klingeln lassen, bis jeder den originellen (von geschätzten 50 % der Bevölkerung benutzten) Klingelton bewundert hätte. Man fuchtelt ja auch nicht mit der Klopapierrolle herum, und wenn die noch so bunt bedruckt ist. Indes sind wir, Ach! von einer Ästhetik der sparsamen Nutzung, einer Ästhetik des telephonischen Schweigens, jedenfalls weit entfernt.

„Wo treffen wir uns jetzt? Am Barbarossaplatz oder am Südbahnhof?“ Kann man das nicht vorher abmachen, Herrgott? Aber schon praktisch, das Händie. Wirklich? Um noch in letzter Minute die Frage zu klären, für die offensichtlich bislang keine Zeit war, nämlich, ob man sich nun am Barbarossaplatz oder am Südbahnhof verabredet habe, braucht es ja zunächst überhaupt so ein Dings, so ein Mobilfunkteil, so ein Händie. Ich muß in einen Laden gehen, unter Hunderten von Typen eine Entscheidung treffen, mich mit einem blasierten Jüngelchen auseinandersetzen, der mir eine Flut von englischen Fachausdrücken an den Kopf wirft; muß Verträge und Anbieter miteinander vergleichen, Sonderkonditionen und Vergünstigungen ausfindig machen, und schließlich die jeweils neuesten Gadgets und Extras durchschauen. Ich gerate in Entscheidungsstreß, muß viel Kleingedrucktes lesen, eine Menge Werbung über mich ergehen lassen, und ganz so billig, wie es einem die Anbieter alle weismachen wollen, ist der Spaß ja nun auch wieder nicht. Dann brauche ich einen Vertrag oder ein Telephonguthaben, muß mir die Zeit nehmen, herauszufinden, wie das Ding überhaupt funktioniert und mir eine Menge aberwitzig langer Nummern merken oder sie abspeichern. Schließlich darf ich es nicht zu Hause liegenlassen, sondern muß (zusätzlich zu allen anderen Dingen, die das moderne Leben für unerläßlich hält, Schlüssel, Portemonnaie, Fahrausweise, Kundenkarten etc) daran denken, es mitzunehmen, darf meinen Zugangscode nicht vergessen und außerdem muß der Akku betriebsbereit sein. Und dann, endlich, kann ich mich an Barbarossaplatz oder Südbahnhof verabreden. Praktisch, wie? Aber noch bevor es soweit ist und ich das Gerät endlich betriebsbereit in Händen halte, haben zahlreiche schlaue Köpfe jahrelang ihre Geisteskräfte in Erfindung und Entwicklung stecken müssen, sind Millionen und Abermillionen an Investitionen geflossen, mußten Sendemasten aufgebaut, Funknetze eingerichtet, Satelliten ins All geschossen, internationale Vereinbarungen getroffen und eine Menge Gesetze erlassen werden. Und das alles nur, weil man es nicht schafft, vorher zu klären, wo man sich treffen soll. Praktisch, wie? Eine einfache Verabredung wäre wahrscheinlich zu schwierig gewesen.

Das mobile Telephon erhöht unsere Verfügbarkeit, flexibilisiert unsere Terminplanung und beschleunigt den Tagesablauf. Verloren gehen dabei die Pausen, die Sammlung, das Nachwirken. „Wieso können wir uns nicht sehen, Gerlinde hat doch abgesagt?“ Verloren geht so etwas wie Überschaubarkeit. Hier fällt etwas aus, da wird ein neuer Termin rasch eingeschoben. Nur keine Zeit verlieren! Paula sagt ab, weil sie gerade einen Anruf von Gert … Sabine will doch lieber erst morgen … Hansjörg fragt an, ob ich nicht … klar, sind ja zwei Termine freigeworden, muß nur noch schnell Max bescheid geben, daß es etwas später …
Die Hölle. Wohl dem, der unerwartete Pausen als willkommene Ruheinseln wahrnehmen und daraus Kraft schöpfen kann. Wie drückte es Max Goldt einmal aus, als er über rote Ampeln philosophierte? Er nehme „den Zeitsnack gern.“
Verloren gehen Verbindlichkeiten und die Fähigkeit, zu planen. Verloren geht aber auch die Unerreichbarkeit. Wer unerreichbar ist, der hat es heutzutage ja so gewollt, und das kann fluchs in einen Vorwurf münden: „Du hattest dein Händie ja nicht an!“ Empörung, Entrüstung! Du bist deiner Pflicht, erreichbar zu sein, nicht nachgekommen! Mit der Freiheit mobiler Erreichbarkeit geht paradoxerweise ein Stück Freiheit verloren: Wer früher unerreichbar war aus Gründen, die jenseits seiner Einflußnahme lagen, der ist es jetzt freiwillig – und muß sich dafür verantworten. Die Freiheit, sich für oder gegen Kommunikation entscheiden zu können, ist eben keine, da die anderen Kommunikation erwarten und pikiert sind, wenn man etwas tut, das von der anderen Seite als brüsk und abweisend empfunden werden muß: Wenn man sich verweigert. Den nächsten Schritt in dieser unheilvollen Entwicklung kann man sich leicht vorstellen: Die Dauererreichbarkeit. Wir telephonieren dann nicht mehr, sondern sind onwave so wie wir jetzt online sind. Jeder kann jeden jederzeit orten und telephonisch ansprechen, jeder weiß von jedem, wo er ist und wer er ist, und wehe dem, der da sein Telephon ausschaltet und sich entzieht. Das wäre dann so, wie sich heute eine Maske aufzusetzen, bestenfalls unhöflich, wahrscheinlich aber vor allem eines: verdächtig.

Wie den Computer oder das Auto, so nutzen wir auch das Mobiltelephon nicht klug. Wir schreiben Briefe mit dem Computer, deren Layout jeden professionellen Setzer vor Neid erblassen ließe (wofür wir aber auch zehnmal so lange brauchen wie früher für einen sauberen, aber einfach gestalteten Brief mit der Schreibmaschine), bekommen aber eine Sehnenscheidenentzündung, wenn man uns zumutet, mal eine kurze Notiz mit der Hand zu verfassen; wir scannen Bilder, um sie später wieder auszudrucken; wir kommen mit dem Auto überallhin und wundern uns, ist es mal kaputt, daß man ja nirgends mehr hinkommt: alles autogerecht draußen vor der Stadt; wir sparen Zeit und immer noch mehr Zeit, weil wir mit dem Computer oder dem Fahrzeug schneller sind, aber die Zeit nutzen wir, so scheint es, nur, um noch mehr Zeit zu sparen, bis wir gar keine mehr haben: sind wir mit der Rechnung schneller fertig, lehnen wir uns nicht zurück, sondern schreiben noch eine; da unsere Städte infolge des Verkehrs als Lebensräume ruiniert sind, brauchen wir die Ursache eben dieser Zerstörung, das Auto, um in die Naherholungsgebiete auszuweichen; später fahren wir dann, da man uns zu mehr Bewegung rät, ins Fitneßstudio, statt einfach öfter mal zu Fuß zu gehen. Und nicht zufrieden damit, mit dem Mobiltelephon gerade nur diejenigen Notfälle aufzufangen bei denen wir uns vor seiner Erfindung ein solches gewünscht hätten, weiten wir seinen Einsatz auf Situationen aus, in denen wir früher nicht im Traum das Bedürfnis nach Kommunikation gehabt hätten. An welche Einsatzmöglichkeiten hätte man denn vor 20 Jahren gedacht, wenn man sich so einen Kommunikator vorgestellt hätte? Doch wohl an Raumschiff Enterprise, an die Wirklichkeit gewordene Science Fiction, Hilfe holen nach dem Verkehrsunfall, Knöchel gebrochen beim Wandern, Reifenpanne, Raubüberfall, aus der Wohnung ausgeschlossen, mit Fieberattacke ans Bett gefesselt. Aber die Realität, die uns jetzt eingeholt hat, sieht ja ganz anders aus. Klar ist so ein Ding in Notfällen nützlich. Nur wird es kaum in Notfällen gebraucht, weil Notfälle glücklicherweise selten sind; und trotzdem sieht man mehr Leute auf einer 10-minütigen Busfahrt in ihren Kommunikator sprechen oder schreiben als die Enterprise-Helden in einem ganzen Kinofilm. Und bei denen kann es bekanntlich wirklich mal eng werden. Ach, denken wir, wo es doch schon mal da ist, da könnte ich doch – und schon sitzt man in der Falle, und das Telephon beherrscht uns, statt wir unseren Terminkalender.

So schafft sich, ebenso wie das Auto und der Computer, das Mobiltelephon seine eigene Notwendigkeit selber. Wenn keiner mehr glaubt, Verabredungen einhalten zu müssen, weil man ja jederzeit sein Zuspätkommen ankündigen und den anderen von der Last vergeblichen Wartens befreien kann, bekommt derjenige, der sich der mobilen Kommunikation entziehen möchte, angesichts dieser Unverbindlichkeit fluchs den schwarzen Peter zugeschoben. Ist ein Termin geplatzt, so heißt es: „Selber schuld, du hast ja kein Händie, sonst hätt ich dich angerufen.“ Daß der, der so spricht, nicht zur vereinbarten Zeit erschienen ist, wird großzügig übersehen. Ich war nicht erreichbar, also bin ich selber schuld, egal, ob ich pünktlich gekommen bin und mich an die Vereinbarung gehalten habe. Am Ende muß ich mich noch auslachen lassen dafür, daß ich brav wie ein Wachhund eine halbe Stunde gewartet habe. Andere warten wahrscheinlich nicht einmal fünf Minuten. Deswegen geben die Leute ja auch ständig durch, daß sie fünf Minuten später kommen. Will ich diese Situation vermeiden, muß ich eben erreichbar sein. Praktisch? Nein. Es ist nicht praktisch, ein Mobiltelephon zu haben. Es ist unpraktisch, keines zu besitzen. In einer Welt ohne Dauererreichbarkeit würde man Termine so planen, daß man sie einhalten kann. Oder besser: So ist es Tausende von Jahren tatsächlich gewesen. Kaum zu glauben. Eigentlich schon immer, bis etwa Mitte der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Klar ist das Händie unabdingbar, wenn sich niemand mehr an Termine hält. Und es hält sich niemand daran, weil es ja Händies gibt. Also sind Händies notwendig, weil es sie gibt.
Eins aber ist das Mobiltelephon bestimmt nicht: Schön. Das Händie ist häßlich, laut, blöde, vorwitzig, arrogant, banal, nervtötend, aufschneiderisch, schrill, dummdreist, stressend, quengelig, anmaßend, unausstehlich, nachtragend, stur, plärrend, egoistisch. Es ist eine Zumutung. Man braucht es, ja. Aber es ist nicht da, weil man es braucht.
Man braucht es, weil es da ist.

(Editorische Anmerkung 2016: Ich habe immer noch keins.)

Aachener Weiher

Einmal standen sie am Aachener Weiher. Weiden ließen dort vom Ufer aus die Schleppen ihrer Zweige ins Wasser schleifen. Ihre Bögen formten ein Dach, eine Höhle, über derenen fahlgrüne Wände milde Spiegelungen vom Wasser aufsteigend die silbrigen Blattunterseiten entlangglitten. Es hatte aufgehört zu regnen, doch der Himmel war trüb geblieben, und keine Sonne stieg aus dem stumpfen Wasser. Sie standen gestützt aufs Geländer und sahen den Enten zu, die zu ihren Füßen unterhalb des Brückengeländers kreisten. Das Schweigen zwischen ihnen begann sich zu einem Baum auszuwachsen, als heftiges Flügelschlagen ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Draußen auf dem Wasser, inmitten davonstrebender Wellenringe, tat ein Erpel etwas sehr Merkwürdiges: Er war halb auf eine der Enten hinaufgerutscht und -gesprungen und -geflattert und versuchte nun, mit dem Schnabel ihren Kopf unterzutauchen, hack hack hack, was ihm auch mehrfach gelang. Gewalttätig und häßlich war das. Vorher hatten die zwei Vögel noch ein lustiges Spiel miteinander gespielt und mehrmals rechts, links, rechts mit Hals und Schnabel seitlich aneinander vorbeigepickt.
Neben ihm aber stand die Frau, die er begehrte, unbeweglich wie das Schweigen, das ein Baum war, und bot seiner Verlegenheit keinerlei Halt.
„He“, rief er endlich verzweifelt dem Erpel zu, nachdem der Kopf der Ente schon gänzlich unter Wasser geraten war, „he, du sollst sie doch nicht ersäufen …“
Worauf die Frau, die er begehrte, sich ungerührt zu ihm umdrehte und mit halblauter Stimme sagte:
„Was soll er sie dann?“

Zum Welttag des Buches: Anmerkungen

Die Bücher haben uns überholt.
Mehr Bücher zu produzieren, als man zu lesen vermag, kann dreierlei bedeuten. Erstens, schnell war es vorbei damit, daß ein einzelner Mensch, wenn er lange genug lebte und die Schwierigkeiten in der Beschaffung und Information meisterte, die gesamte literarische Produktion der bekannten (bzw. der Latein oder Griechisch sprechenden) Welt nicht nur überblicken, sondern auch lesen und begreifen konnte. Die aktuelle Produktion, sowie alles, was bislang überhaupt geschrieben worden war. Der Punkt, wo dem Leser die Menger der insgesamt vorhandenen Bücher über den Kopf wuchs, dürfte schon in der Antike selbst erreicht worden sein. Da wurde zum ersten Mal der Einzelne von den Büchern überholt, unaufholbar: Die Bücherzahl im Wachsen, die Lebenszeit im Schwinden begriffen, libri multi, vita brevis.
Heute, zweieinhalb tausend Jahre später, haben wir uns mit so vielen Büchern umgeben, daß, selbst wenn ab sofort kein weiteres Buch mehr erschiene, die Menschheit für Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte, Lesestoff hätte. Und, da ja, die uns nachfolgen, den ganzen Stapel frisch nachzuarbeiten haben, müßte man eigentlich gar keine Bücher mehr schreiben. Ja, womöglich haben wir mit der Produktion von Büchern schon einen Punkt erreicht, wo sie uns zum zweiten Mal ein- und überholen, wenn es nämlich stimmt, daß wir nicht einmal mehr gemeinsam die Menge an entstehenden Büchern stemmen könnten.
Das bedeutet etwas Trauriges und Beunruhigendes: Einige bleiben ungelesen. Und zwar, weil ja ständig noch weitere Bücher nachwachsen, für immer.
Die dritte Welle der Überholung wäre dann erreicht, wenn die Menge der für immer ungelesenen Bücher die Menge der gelesenen oder noch lesbaren übersteigt. Man stelle sich mal die stumme Flut an Personen, Welten, Landschaften, Ereignissen vor, wie sie, unentdeckt, ungeschaut, verborgen hinter haus- und turmhoch gestapelten Buchdeckeln, ja, was? existieren? Latent sind? Abrufbereit warten? Liebesaffären, Verrat, Intrige, Freundschaft, verrückte Erfindungen, traurige Entdeckungen, glitzernde Waghalsigkeiten. Reisen zum Andromedanebel, sprechende Austern, Barackensiedlungen in den Slums von Köln, die Reisebeschreibungen des Pseudo-Apollodor. Wälder, Städte, Straßen. Sprechende Pudel, denkende Gartenpfosten, Zauberer, tiefste Vergangenheit und unsere eigne Zukunft. Wahres, Falsches, Geträumtes. Nacht der drei Monde, die Veilchen des letzten Sztumbanen … Verschlossen hinter Buchdeckeln, vom banalsten Liebesgestöhn bis zum Stein der Weisen, absichtlich oder unabsichtlich zu entdecken.
Angesichts einer solchen ins Unermeßliche wachsenden Geschichten- und Weltenflut darf man wohl sagen, daß sich unsere eigene, sogenannte wirkliche Welt immer kleiner ausnimmt und bedeutungsloser, marginal im Wortsinne, eine Randnotiz zu einem gigantischen Roman der Romane, eine Fußnote im 135.811.374.374ten Erzählband, eine in Parenthese geäußerte Vermutung in irgendeiner Essaysammlung, wo war sie noch gleich …? Ein Geschmier, das man zuerst für Pennälergekrakel hält, ein Anhang zum ersten Prolog des Inhaltsverzeichnisses, immer kleiner und winziger wird die sogenannte wahre Geschichte, entpuppt sich als Nebensache, gerät zwischen fremde Seiten, rutscht nach unten, bis sie irgendwo in der Flut der Publikationen verschwindet, drei Punkte, ein Auslassungszeichen …
„Hast du das gelesen?“ – „Was?“ – „Na, dieses Büchlein hier …“ –„Nee, keine Zeit, du weißt schon.“ – „libri multi …?“ – „… vita brevis…“