In zwei Supermärkten heute morgen erfolglos nach Erdbeeren gefragt und bekomme schon wieder mittelschwere Zornesanwandlungen. Es soll Leute geben, die schon zum Frühstück Erdbeeren verspeisen, was diesen Menschen sicher niemand verübeln wird, die Saison ist schließlich kurz genug, Erdbeeren ein höchst schmackhaftes, weil ausnahmsweise mal reif vorliegendes Obst und gesund obendrein. Die übrigen Bestände an Gemüse und Obst waren ja auch schon da. Ich will aber keinen Rettich oder Broccoli zum Frühstück, ich will Erdbeeren! Der eine Supermarkt fällt mir schon seit längerem unangenehm auf: Eng, übervoll, steht man ewig an der Kasse, drängelt sich durch die Gänge, und außerdem kommt man morgens nicht an die Regale heran, weil alles voller Kartons steht und die Mannschaft mit Einräumen beschäftigt ist. Oft fehlt dann auch dies und das. Erdbeeren beispielsweise. Auch habe ich den Verdacht, daß die günstigsten Artikel immer zuletzt eingeräumt werden, jedenfalls habe ich nie erlebt, daß das teure S**tenbacher-Müesli fehlt, aber mehrmals mußte ich zähneknirschend auf meine anonyme Billigkörnermischung verzichten. Meiner Ansicht nach muß die Ware bei Öffnung des Marktes bereits tipptopp in den Regalen liegen, und zwar alles. Ich kann auch den anderen Fall nicht leiden, wenn abends bereits Stunden vor Geschäftsschluß das eine oder andere nicht mehr zu finden ist. Ich bestehe darauf, daß, wenn ein Markt bis um 22:00 geöffnet ist, dann auch bis um 22:00 jedes einzelne Produkt im Sortiment noch zu haben sei. Wenn sie das nicht hinkriegen, dann müssen müssen sie eben früher schließen und später aufmachen. So.
Aber darum geht es nicht. Es geht darum, daß ich meinen Willen nicht gekriegt habe. Daß ich wieder dastehe wie Rumpelstielzchen und es mir gar nichts nützt, mich entzweizureißen. Daß solche alltäglichen, zahlreich quälenden Instanzen des kleinen Scheiterns einem das große Scheitern wieder allzu deutlich zu Bewußtsein bringen.
Monat: Juni 2009
Achselhaar
Die Revolution fand still und leise statt. Niemand sprach darüber. Niemand protestierte. Die Nachrichtensender wußten von nichts. Keine Talksendung nahm sich des Themas an, keine Zeitung berichtete. Die Menschen schwiegen und schauten weg, wenn sie denn überhaupt bemerkten, was los war. In aller Heimlichkeit vollzog sich die Wende.
Wann genau es passierte, weiß man nicht. Aber es muß sehr schnell gegangen sein. Im Sommer 1997 war noch nichts zu bemerken gewesen, doch als ich im Herbst 1998 von einem längeren Auslandsaufenthalt wiederkam, da war schon alles vorbei und überall stillschweigend beschlossene Sache. Niemand hatte widersprochen. Alle fügten sich.
Fügten sich wem?
Es gehört zu den ungeklärten Fragen der Massenpsychologie, wieso plötzlich Millionen Menschen, die einander nicht kennen, sich nicht absprechen, ihre Meinung nicht austauschen, quasi unabhängig voneinander den selben Gedanken haben können. Wie plötzlich Millionen Frauen im Verlauf eines einzigen Jahres gemeinsam aber jede für sich beschließen: Ab sofort rasiere ich mich unter den Armen. Ab sofort sind Achselhaare bäh. Ab sofort waren Achselhaare eigentlich schon immer bäh.
Staunte man vor diesem entscheidenden Jahr über eine rasierte Achsel, während selbst der üppigste Unterarmbusch niemandes Aufmerksamkeit erregt hätte, so war es jetzt umgekehrt. Achselhaar sah man nicht mehr, und wer es dennoch trug, war eine Ausnahme und fiel auf. Nur ich hinkte meiner Zeit hinterher, weil ich nicht in Deutschland gewesen war, als sich die Verhältnisse änderten. So sprang mir umgekehrt, gleich einem Zeitreisenden, nicht das selten gewordene, für mich noch normale Haar, sondern das plötzliche Fehlen desselben sogleich ins Auge. Es war Winter, und der Anblick entblößter Achseln eher selten. Aber nachdem ich im Frühjahr die dritte, die vierte blanke Axilla erblickt hatte, wunderte ich mich; und mit steigenden Außentemperaturen begriff ich allmählich: Entscheidendes mußte sich während meiner Abwesenheit getan haben.
Gab es eine prominente Vorreiterin? Waren die deutschen Frauen sich plötzlich bewußt geworden, daß in anderen Ländern andere Sitten herrschten? War es ein Komplott der Kosmetikindustrie, die rasanten Absatz an Wachs, Klinge und Depilator erwartete? War es ein fixe Idee gelangweilter Frauenzeitschriftredakteurinnen? Hatte das Gesundheitsamt Bedenken angemeldet? Schwappte wieder mal eine Welle aus dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten zu uns über den Atlantik? Oder war es das alles zusammen?
Ich war erschrocken. Ich kann nicht sagen, was mir besser gefällt, Glätte oder Busch, beides hat etwas. Ich kann es wirklich nicht sagen. Irgendwie finde ich aber, daß Natürlichkeit die Regel, Künstlichkeit die Ausnahme sein sollte. Da ist es mit dem Rasieren weiblicher Haare, wo auch immer sie wachsen wollen, ebenso wie mit Schminken, Färben, Lackieren, oder dem Auftürmen rätselhaft-komplexer Frisuren. Doch meinetwegen: Das Unveränderte ist zwar immer noch am schönsten, aber der Abwechslung zuliebe kann auch geschmeidige Glätte an der einen oder anderen Körperstelle gefallen. Oder praktikabler sein.
Doch störte mich weniger die Tatsache der Achselhaartilgung an sich, sondern was mich so erzürnte, das war die stillschweigende Übereinkunft, mit der so plötzlich auf breitester Front gegen dieses Naturreservat vorgegangen wurde. Denn eine Vorliebe wie jene plötzlich Aufgekommene ist ja nicht voraussetzungslos, und da sie mir in engem Zusammenhang einer allgemeineren Künstlichkeitsanbetung zu stehen schien, und auch, weil so etwas kaum umkehrbar ist, machte mich diese Übereinkunft rasend. Von wem ging das jetzt wieder aus? Reichte es nicht aus, daß diese armen Geschöpfe sich förmlich zu Tode hungerten, nur weil ein paar nekrophile Modehengste das hip fanden? Da schien sich doch wieder einmal die eine Hälfte der Menschheit einem absurden, nicht lokalisier- oder auch nur benennbaren Zwang zu beugen – und glaubte auch noch, sich in Freiheit dafür entschieden zu haben! „Mir gefällt das Haar nicht“. „Nö, finde ich häßlich“. „Blank gefällt mir einfach besser“. „Man schwitzt nicht so“. „Ich brauche weniger Deo“. „Ich würde mich auch enthaaren, wenn es sonst keine täte“. „Aber … das haben wir doch schon immer so gemacht!“
Ja, Pustekuchen.
Wie sehr kann einem die Erinnerung einen Streich spielen? Kann man einen Zwang so sehr verinnerlichen, daß es unvorstellbar scheint, daß er nicht schon immer geherrscht hat? Und wenn es so vernünftige Argumente wie vermindertes Schwitzen und größere Deo-Effektivität gibt: Warum hatten die Frauen dann nicht schon von je zur Zuckerlösung gegriffen?
Aber es ist wohl zwecklos zu jammern. Ja, wenn man genau hinschaut, dann ahnt man: es kommen noch härtere Zeiten. Schon hüpfen die ersten Jungmänner blankachselig im Freibad umher. Demnächst zupfen die sich auch noch die Augenbrauen.
Und am Ende kommt es noch so weit, daß ich mir ein Deo anschaffen muß.
Το Πάθος Χιλιάδες Φορές
Ausflugsstreß
Jeden morgen jetzt ein bis vier schulklassen am bahnsteig: seit ende der osterferien schon in vollem gange, erreicht die ausflugstätigkeit der schulen dieser tage ihren höhepunkt. ich beginne zu begreifen, warum man sich allerorten über das achtjährige gymnasium (großspurig auch schonmal mit G-8 bezeichnet) zu beklagen beliebt. wie sollen die armen schüler das auch alles schaffen, wo sie doch zwischen ostern und den sommerferien so viele ausflüge machen müssen?
Faden
Eine Geschichte wohnt nicht im großen Ganzen. Sie wohnt in kleinen und kleinsten Szenen, Blicken, Worten, Berührungen. In hunderten solcher.
Habe längst den Faden verloren.
Solstitium
Vögel entsangen die Zeit ihrer Fesseln, sie stießen den Tag ins
Immer. Die Sonne am Pol brachte den Himmel zu Fall.
00:44:33
Zehntausend mal das Aufgeben auf den nächsten Schritt verschieben. Zehntausendmal einen schaffst du noch. Zehntausendmal den Schmerz in der Wade ignoriert, literweise Luft eingesogen, nie genug bekommen; zehntausend Schritte lang die Distanz abgewetzt, so langsam wie mit der Feile, mit der trockenen Zunge abgeraspelt, Kiesel für Kiesel den Staubweg aufessen und schlucken müssen, und immer mehr Schritte vor sich angehäuft, steil aufgetürmte Schritte, der Weg hart, eine Mauer, die sich auflehnt, die es persönlich nimmt, die dir gegen die Schienbeine tritt. Sich ein Gedicht vorsprechen, drum, will schon unsrer Sonne Wagen/nicht halten, wollen wir ihn jagen, im Jambus weiteratmen, nicht genug Luft um einen herum, und weiterhetzen. Wollen wir ihn jagen. Zehntausend Schritte hinter einer imaginären Antilope herhetzen, selbst der Gehetzte sein dabei. Und dabei von flotten Mädels ein ums andere Mal überholt werden. Zehntausend Schritte Schande. In die dritte Runde (von vieren) laufen und über Lautsprecher hören, daß schon der erste Läufer das Ziel erreicht hat. Demnächst Siegerehrung. Ein Name über Lautsprecher, der nicht der eigene ist. Denken, beim Weiterlaufen, verdrossen, du bist eine Null, ein Nichts, ein Würstchen. Auf Wurstbeinen weiterlaufen, auf gegrillten Wurstbeinen, was gut zum Geruch paßt, der über dem Ufer des Aachener Weiers liegt, auf verkohlten Wurstbeinen, schließlich auf Wurstbeinen ohne Gefühl, Leberwurst, zum Streichen. Sich wehren gegen die Wahrheit eines jeden Wettkampfs, gegen den Truismus, wer nicht gewinnt, hat verloren. Zehntausend Schritte denken, es geht vorbei und den Weg ein- und ausatmen. Sonne ins Gesicht bekommen, für Momente zu fliegen glauben, bergab jetzt. Drum, will schon unsrer Sonne Wagen. Dreimal die Sambatruppe an der Steigung. Oder war es doch erst zweimal? Plötzlich Panik in der vierten Runde, war das das vierte Mal Samba, bin ich schon durch oder muß ich doch noch eine? Man müßte jetzt die Beine in die Hand nehmen können und einfach hinübertragen. Man müßte diesen Unsinn einfach vergessen. Hinausgewunken werden, damit man die Zielgerade und das Pfeifen der Matte nicht verpaßt, das fehlte noch. Zehntausendmal versuchen, den Unsinn zu vergessen, zehntausend Schritte, zehntausend Meter, vier Mal um den Weiher, sich selbst zuschanden geritten sich selbst besiegt und dennoch verloren haben, das macht, das waren: 00:44:33.
Morgen
wird alles anders!
Worüber die Feuilletons nicht schweigen können …
Oft wird von den Zeitungen der Fehler begangen, Albernes, Triviales, Lächerliches oder schlichtweg Dummes als albern, trivial, lächerlich oder dumm zu bezeichnen. Damit tappen sie in die Aufmerksamkeitsfalle. Indem nämlich etwas in den Feuilletons besprochen wird, das dieselben Feuilletons als Unkultur zu brandmarken sich anschicken, sagen wir etwa die neuesten Ausgeburten bei RTL („Erwachsen auf Probe“), wird es ja erst ins Licht der Aufmerksamkeit gerückt, und darf sich, solcherart ernstgenommen und besprechungswürdig, in den kulturellen Diskurs aufgenommen wissen, gehört nun zu den Gegenständen-die-im-Feuilleton-stehen. Was in der Zeitung steht, ist immer geadelt. Da ist es zweitrangig, ob diesem Buch, jener Sendung, jener Ausstellung, Lob, Tadel oder sogar rundweg Ablehnung zuteil geworden: Durch die Gnade der Aufmerksamkeit wird, was man als Unkultur anprangern wollte, gerade erst zur Kultur erhoben. Damit stellt sich jede Kritik der Verdammung, und sei sie noch so berechtigt, selbst ein Bein. Aber muß ein Feuilleton alles wahrnehmen? Wer dem Dilemma entgehen will, dem bleibt doch eins: Das Ärgernis gepflegt zu ignorieren und aus dem kulturellen Diskurs auszuschließen. Nicht als Abstrafung, weit gefehlt. Sondern weil es den Feuilletonleser, der sich an dieser Stelle lieber eine Buchbesprechung oder eine Theaterkritik wünscht, einfach nicht interessiert. Ich würde mir wünschen, die Zeitungen übten manchmal vornehme Zurückhaltung und wählten sorgfältiger, was sie überhaupt einer Erwähnung für wert erachten wollen. Damit träfen sie eine Entscheidung und zeigten Profil. Hätte nicht wenigstens eine Zeitung zum sogenannten Jahrtausendwechsel schweigen können? Oder zur Fußballweltmeisterschaft? Manche Dinge, will mir scheinen, wären in den illustrierten Wochenzeitschriften besser aufgehoben.
Sollte andererseits, was in diesem Fall nicht abwegig scheint, der Unsinn ein gefährlicher sein, dann muß wohl die Stimme erhoben und kritisch kommentiert werden; das ist in diesem Fall aber eher Aufgabe des Kinderschutzbundes, nicht der Feuilletons.
Aufgefallen:
Die älteren Schwulen, die jeden Morgen einander und den öffentlichen Bücherschrank in der Poppelsdorfer Allee belauern. Der hoffentlich haltlose Verdacht, sie könnten die Funde später in ihren Antiquariaten verkaufen.
Träume
Alle paar Nächte jetzt diese Träume. Machen traurig und wild, machen verlegen und ängstlich, stimmen zärtlich und verwirren, und die Vögel, beim Erwachen, hören sich an, als seien sie wo übriggeblieben. Die Abgliederung von Fenster, Bettpfosten, die Schatten alles so exakt, daß man daran verzweifeln könnte, unausweichlich.
Wo waren wir und wer war sie? Wo ist sie jetzt? Wo, zum Teufel, bist du selbst? Das Zimmer, die Sachen, in denen dein Schweiß noch steckt und nach gestern riecht, die Trauer abgelegter Textilien, und auch nur deine eigenen, jetzt bist du einfach nur hier, hier, am trivialsten aller Orte, und es ist zum Heulen, während doch gerade noch, zu nah und unerreichbar für jede Uhr, unmeßbar, du festverwoben warst in Herzvollstes. Da war eine … Eine, die dir Geheimnisse verriet. Eine, die dir Geständnisse machte. Du, ich muß dir … Ich glaube, ich bin ein bißchen … Glücksbangigkeit. Alina D., Anna E., oder wen sie im Traum sich deuteten. Wirwirwir. Spazierwege handinhand. Kein Kuß, das Versprechen eines Kusses. Und immer die Schuld. Das Schonversprochensein, das allem entgegensteht.
Alles schon erlebt, und der Traum hält dir das noch einmal hin, das ist das Schlimme. Wie du dieses Gefühl kennst, erlebt hast, dachtest, bis zur Neige. Nie genug, siehst du jetzt ein, während du in die sauren Klamotten steigst, unerlöst und zurück auf das riesige Kissen starrst, wüstenleer.
Nach einem solchen Traum ist der ganze Tag überzuckert. Trifft man dann auf ein Diesseitslächeln, die Frau in der Wirklichkeit, nicht auszudenken, da schießt einem heiß das Blut ins Gesicht, man starrt und bringt kein Wort mehr heraus. Obwohl sie auf dieser Seite der Träume nichts mit dir zu tun hat. Sie ist dir fremd wie nur je eine. Oder war es gerade deshalb, weil?
Auf dem Kalender, du warst
Auf dem Kalender du warst
voller Farben man mußte umzukringeln
gehabt haben, anzuworten sich und einander
der Abend brach sich an den Gladiolen, einst war
jetzt auf dem Kalender.
Du verschwandest als
die Straßenbahn noch zum alten Bahnhof fuhr,
man das Brötchen nach Pfennigen maß.
Vorwärts, rückwärts die Zahl ergab
Sinne zuviel. Woran es fehlte, war Sinnloses,
so ein Gekritzel mit Stiften, Zehen
oder Fühlern, waren Buchstaben auf Stein wie
von der Wimper gemalt, waren
Spuren, in Borke gebrannt, Fleckzeichen aus
Spucke so leicht nachzulesen wenn
man den Blick der Libelle einnahm,
eh es die Sonne wegbrannte. Und Singen im Dunkeln.
Wann sie die Straßenbahn umgeleitet, die neuen
Münzen geprägt, die Fabrik abgerissen, den
Pflaumenbaum gefällt haben, der Kalender weiß es nicht mehr.
Was aber plötzlich fehlte:
Schnecken über Warzen laufenlassen,
Weidenflöten schnitzen, Limoblubbern.
Sandgeriesel, Förmchenformen. Strand der aufbricht, wo
du den Bauch vorwölbst, so was, ein Erdbeben, riefst du,
und deine Zehen kamen herausgewackelt
und hast später dann gesungen im Dunkel, Fuß an Fuß
Krümeliges zwischen zwanzig Zehen, und die Haut
satt vom Himmel, den hatte sie ausgetrunken,
der Abend brach sich in deinem Nabel
und da hat das Dunkel gesungen
mit deinen Lippen, gezwitschert vielleicht
war’s auch die Amsel, hielt mich
der ferne Mond mit deinen erkühlten Händen
und was die Tausendfüßler mir mit deinen Fingern,
kein Kringel sagt’s dem Kalender, kein Käferblick hebt sowas auf.