Anmerkungen zum Welttag des Buches

Die Bücher haben uns überholt.
Mehr Bücher zu produzieren, als man zu lesen vermag, kann dreierlei bedeuten. Erstens, schnell war es vorbei damit, daß ein einzelner Mensch, wenn er lange genug lebte und die Schwierigkeiten in der Beschaffung und Information meisterte, die gesamte literarische Produktion der bekannten (bzw. der Latein oder Griechisch sprechenden) Welt nicht nur überblicken, sondern auch lesen und begreifen konnte. Die aktuelle Produktion, sowie alles, was bislang überhaupt geschrieben worden war. Der Punkt, wo dem Leser die Menger der insgesamt vorhandenen Bücher über den Kopf wuchs, dürfte schon in der Antike selbst erreicht worden sein. Da wurde zum ersten Mal der Einzelne von den Büchern überholt, unaufholbar: Die Bücherzahl im Wachsen, die Lebenszeit im Schwinden begriffen, libri multi, vita brevis.
Heute, zweieinhalb tausend Jahre später, haben wir uns mit so vielen Büchern umgeben, daß, selbst wenn ab sofort kein weiteres Buch mehr erschiene, die Menschheit für Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte, Lesestoff hätte. Und, da ja, die uns nachfolgen, den ganzen Stapel frisch nachzuarbeiten haben, müßte man eigentlich gar keine Bücher mehr schreiben. Ja, womöglich haben wir mit der Produktion von Büchern schon einen Punkt erreicht, wo sie uns zum zweiten Mal ein- und überholen, wenn es nämlich stimmt, daß wir nicht einmal mehr gemeinsam die Menge an entstehenden Büchern stemmen könnten.
Das bedeutet etwas Trauriges und Beunruhigendes: Einige bleiben ungelesen. Und zwar, weil ja ständig noch weitere Bücher nachwachsen, für immer.
Die dritte Welle der Überholung wäre dann erreicht, wenn die Menge der für immer ungelesenen Bücher die Menge der gelesenen oder noch lesbaren übersteigt. Man stelle sich mal die stumme Flut an Personen, Welten, Landschaften, Ereignissen vor, wie sie, unentdeckt, ungeschaut, verborgen hinter haus- und turmhoch gestapelten Buchdeckeln, ja, was? existieren? Latent sind? Abrufbereit warten? Liebesaffären, Verrat, Intrige, Freundschaft, verrückte Erfindungen, traurige Entdeckungen, glitzernde Waghalsigkeiten. Reisen zum Andromedanebel, sprechende Austern, Barackensiedlungen in den Slums von Köln, die Reisebeschreibungen des Pseudo-Apollodor. Wälder, Städte, Straßen. Sprechende Pudel, denkende Gartenpfosten, Zauberer, tiefste Vergangenheit und unsere eigne Zukunft. Wahres, Falsches, Geträumtes. Nacht der drei Monde, die Veilchen des letzten Sztumbanen … Verschlossen hinter Buchdeckeln, vom banalsten Liebesgestöhn bis zum Stein der Weisen, absichtlich oder unabsichtlich zu entdecken.
Angesichts einer solchen ins Unermeßliche wachsenden Geschichten- und Weltenflut darf man wohl sagen, daß sich unsere eigene, sogenannte wirkliche Welt immer kleiner ausnimmt und bedeutungsloser, marginal im Wortsinne, eine Randnotiz zu einem gigantischen Roman der Romane, eine Fußnote im 135.811.374.374ten Erzählband, eine in Parenthese geäußerte Vermutung in irgendeiner Essaysammlung, wo war sie noch gleich …? Ein Geschmier, das man zuerst für Pennälergekrakel hält, ein Anhang zum ersten Prolog des Inhaltsverzeichnisses, immer kleiner und winziger wird die sogenannte wahre Geschichte, entpuppt sich als Nebensache, gerät zwischen fremde Seiten, rutscht nach unten, bis sie irgendwo in der Flut der Publikationen verschwindet, drei Punkte, ein Auslassungszeichen …
„Hast du das gelesen?“ – „Was?“ – „Na, dieses Büchlein hier …“ –„Nee, keine Zeit, du weißt schon.“ – „libri multi …?“ – „… vita brevis…“

Weg

… und in diesem Moment begriff ich endlich: Ich mußte weg.
Im selben Augenblick ging, wie zur Bekräftigung meines Gedankens, die Flügeltür auf, spiegelte mich kurz mir selbst entgegen, wie ich, leicht vornübergebeugt, immer noch an der Tischkante stand, schwang gänzlich auf und entließ eine energisch mit den Absätzen klappernde Frau, die aussah wie eine Grundschullehrerin, weil sie nämlich eine war.
Sie trug einen karierten Rock, Strumpfhosen und eine graue Bluse, hielt ihr Gesicht hinter einer hand- und buntbemalten, etwas zu großen Holzmaske verborgen (im Maskenbaukurs selbstgefertigt, klar) und hatte auf dem Kopf einen strengen grauen Dutt. Ihre Augen unter der Maske blitzten, während sie mit dem Rücken die Tür aufhielt und den Arm wie ein lebender Wegweiser ins Rauminnere ausstreckte. Dabei schrie sie etwas, das ich nicht verstand, denn hinter ihr schwappte bereits ein Chor piepsender und trotz ihrer hohen Frequenzen erstaunlich voluminösen Kinderstimmen in den Raum. Nie habe ich verstanden, wie Kinderstimmen, hauchschwach bei einem einzelnen Kind, in der Summe auch schon einer kleineren Gruppe ohrenbetäubend sein können. Die Frau mit Dutt machte sich schmal, und da kamen sie auch schon. In Lustigfarben gekleidet, Ringelsöckchen in den Riemchensandalen, trugen sie ihre hellen, nackten Gesichter leuchtend und rot und begeistert vor sich her wie Laternen, die glänzenden kleinen, feuchtrunden Münder in ständig malender Bewegung, während sie einander rempelten und kleine juchzende Schreie ausstießen. Sofort schien sich der Raum zu verengen. Die Stimmen schwirrten und johlten, Füße trappelten, Rücksäcke rappelten, Stühle quietschten über das PVC. Gedränge, Geschiebe, Gestoße. Ein Stuhl fiel um. Der Dutt auf dem Kopf der Buntmaskierten wackelte.
Ob schon Kinder zurückgestuft wurden, schoß es mir durch den Kopf, wenn sie sich schlugen („Zahnersatz kostet uns alle Millionen“) oder Regenwürmer probierten („Vergiftungen gehen uns alle an.“), sich die Knie aufschürften („Ein Beinbruch kann teuer werden! Helfen auch Sie mit, Unfälle zu vermeiden!“), von Brücken sprangen oder was der Mutproben mehr sind. Vielleicht waren auch die Eltern dran.
Eigentlich wollte ich es gar nicht so genau wissen. Ich verließ den Raum. Bevor die Tür zuschwang, fiel mein Blick auf den leblosen Körper der Fliege, wie er vom Luftsog über den Boden geweht wurde. Weit war sie nicht gekommen, dachte ich, und die Verzeiflung griff wieder nach meiner Brust. Im nächsten Moment war ich draußen. Die Stimmen fluteten zurück, flackerten in einem spitzen Schrei noch einmal auf und verstummten.
Das Licht, dick und heiß und wie von Flügelschlägen belebt, blendete mich. Ein schwerer Motor lief nahebei. Die Schatten klebten auf Wagentüren, Wänden und der wüstengrell spiegelnden Fläche des Asphalts.

Ich erinnerte mich an …