nach den stürmen der letzten wochen endlich wieder so ein licht, das einen an den haaren packt, einem das kreuz geradestreckt und den kopf in den nacken zieht. der himmel ist so groß wie er sonst war und bietet wieder platz für vögel, baumkronen und weidende schwäne.
in einen tropfen gekrümmt findet sich alles, bis in die allerersten tage hinab. vielleicht wären wir glücklich gewesen in jenem raum, auf den alles deutet, ohne ihn benennen zu können. eine farbe gaukelt es vor, rindenstücke, mulch, warmgeäderter granit. man dreht sich um, aber es waren nur die eigenen schritte. vielleicht hätte wir gemeinsam erste um erste stunden aus der zeit gehoben, zahlreich und mächtig genug, uns mit geschichten zu nähren und in die zukunft zu tragen; hätten uns angesehen, und erstaunt übereinander gelacht und weiter fleißig neue zukünfte füreinander erfunden. oder auch nicht: mag sein, wir hätten aus der ersten stunde solange gezehrt, bis alle unsere zeit zerschlissen, dünn und endlich so durchsichtig geworden wäre, daß wir uns selbst nicht mehr darunter erkannt hätten. vielleicht wäre alles nur noch ein nachhall gewesen und unser auseinandergehen die einzige form, das schöne zu bewahren für immer. ich weiß es nicht. niemand weiß es.
der tropfen schmilzt in der morgensonne. der himmel packt mich am kragen. über den gräserdunst schweben die pferde. alles ist nachhall.
den kopf aus dem himmelsschauer nehmen, mit dem daumen die kastanien in der pfütze umrühren, eine unreife nuß zerdrücken. blinzeln, und wieder über die unerbittlichkeit der zukunft staunen.
Monat: August 2008
Sommerepigramme II 8
Frauen wandelten oft an den Rändern trauriger Gärten,
wo jede Hüfte aus Stein schloß einen Pakt mit der Zeit.
Zwischen den Fingern ein Licht, so still, als spielte ein Wasser,
um ihre moosige Stirn, bis sie zu Laubwerk zerfiel.
Umziehen
Da bin ich also. Vor dem Fenster ein neuer Hof, und die Pappeln dahinter, riesenhaft schwarz und ruhig, geben noch nichts preis, sind noch, wie sie sind, bei sich, unverwandelt. Das merkwürdige ist: Bald werden es nicht mehr einfach nur Pappeln sein, bald werden es die Pappeln sein, täglich geschaute Bäume, in die man hineinträumt (ohne sie zu sehen), von denen man sich seufzend abwendet, die man in einem heiteren Moment anstaunt, wenn der Wind im Sommer (dem nächsten), ihre Blätter silbrig wird umschlagen lassen, mit jenem Rauschen, das nur alleinstehende Pappeln zustande bringen, und das immer ein wenig nach Regen und Meer klingt; oder Bäume, die Bäume, in deren nebelgelben letzten Blättern man die Kindheitsstimme des Herbstes für Augenblicke wiederfinden wird.
Schon jetzt ist ihr schwarzes Rauschen durchs geschlossene Fenster zu hören.
Wie zur Anprobe nun also die erste Nacht. Von den Balkonreihen gegenüber dringt ein Band Fensterlicht, das die Büsche unten in dunklen Rauch aufgehen läßt. Auf den Dächern der geparkten Autos schimmert es leise. Vollmond. Es ist keineswegs ruhig, aber die Geräusche sind andere, sind als Wohngeräusch fremd, aber sonst vertraut, Autoverkehr freitagabends, das Anrauschen und Wiederverklingen von Reifen und Motor. Fernes Hintergrundsgebrumm. Anonyme Geräusche einer Stadt, die lebendig ist, keine Störung, kein Lärm, nur ein sanftes Lärmen. Es erinnert mich an Erstnächte und Erstmorgen in einem Hotel inmitten einer fremden Stadt, in einem fernen Land. So klingt es in den Hauptstädten griechischer Inseln, so braust es nachts in Rom, Athen, Barcelona und anderswo, so braust es nach tagelanger Zugfahrt, ganz gleich, wo man ankommt. Das ist schön. Ankommen ist schrecklich. Angekommensein ist schön.
Es ist merkwürdig, sich vorzustellen, daß dies alles einmal vertraut sein wird, vom Schlüsselgeräusch über den Geruch bis hinein in die feinsten Druck- und Widerständswahrnehmungen von Tür, Fenster, Wasserhahn, vertraut bis zum Nicht-mehr-Wahrnehmen. Wie wird es sein, heimzukommen (ja, hier ist jetzt zuhause) zu Kaffee und Erholung nach dem Arbeitstag und alles so vorzufinden, wie es immer war – als wäre es immer schon so gewesen?
Umziehen
Manche Schmerzen sind dem Nomaden fremd. Er vermeidet es ja, allzu viele Feuer übereinander in den Grund zu brennen, den Bast vom Baum zu wetzen, Fußspuren zu hinterlassen im feuchten Mergel. Und so wie er nicht auf den Ort abfärbt, kerbt sich der Ort nicht in ihn.
Diese Winkel aber, die unbewegten Buchrücken mit den Staubhäubchen, die Tapeten, die Tischkanten, der exakte Fall der Schatten am Mittag. Die Wände, um wie vieles sind sie schon herumgewachsen, um Zapfen und Schneckengehäuse, um Muscheln und Gynoecea, um Kristallsplitter und Wachsstalagmiten, um etliche An- und spätere Abwesenheiten, um Federn, Hölzer, Schiffe, und um so manchen Traum.
Vieles haben sie gesehen am Tag, mehr noch vernommen bei Nacht und es für sich behalten, um es mir später, wenn ich wieder allein war und der Mond wieder bei mir, in die Stille hinein zurückzuflüctern. Die Augen dieser Wände, nicht nur gesehen haben sie, nicht nur Bilder empfangen, sondern ihr Sehen ist ein Senden, von Fäden, Tastern, Gespinsten. Viele Geschichten haben sie erlebt, ihr Aufblühen, ihre Dramatik, ihren Verfall, sind um viele Häute, Düfte, Haare und später um deren Verschwinden herumgewachsen, bis nichts mehr blieb als ein Name, den sie immer noch erinnern, ja erneuern:
Zuviel habe ich ihnen zugemutet, indem ich sie zu Zeugen machte, zu Bewahrern und Behütern, zuviel aufgebürdet und ihnen übertragen, was meine Aufgabe gewesen wäre, um frei zu bleiben im Raum meiner Erinnerungen, unabhängig von den Orten, die dieses Erinnern nun gespeichert, gebündelt und reflektiert haben. Ich habe meine Erinnerung entäußert, bis sie mir nicht mehr gehört und ohne den Ort, den ich nun verlassen muß, geschmälert, verblaßt, verworren ist.
Indem man erinnernd ihm diese Dinge überläßt, tappt man als Seßhafter in die Falle des Ortes. Man lädt ihn auf; man übergibt ihm die Erinnerungen; man wirft die inneren Bilder an seine alles verschlingenden Wände, und er, er läßt sich durchdringen und verfärben, bis wir meinen, er gehört uns. Und dann müssen wir fort, jemand vertreibt uns, jemand zieht uns woanders hin, und wir begreifen: nicht der Ort hat uns gehört, sondern wir dem Orte. Wir haben uns ihm überlassen. Der Ort bestätigt uns unsere Existenz, indem er unser Dasein und was uns widerfährt, uns zurückspiegelt. Wir sind, weil es den ort gibt. Wir sind, was der Ort ist.
Diese Schmerzen sind dem Nomaden fremd.
Weil kein Ort ihn, sein leben, seine kostbare Existenz, zurückspiegelt, kann er sich auch nicht auf diese Bekräftigung seines brüchigen Daseins verlassen. Also bekräftigt er sich selbst seine Existenz, oder findet sie vom Himmel, den Sternen, dem Staub, der gestampften Erde seines Weges wiedergespiegelt, die seine Heimat sind; oder er nimmt diese Brüchigkeit mit einer Demut an, mit der der Seßhafte immer seine Schwierigkeit haben muß.
Ich bin kein Nomade. Wohin immer ich gehe, wandere, reise, sind an jedem beliebigen Ort meine Wege, mein Aufenthalt, ja meine ganze Existenz auf einen zweiten Ort bezogen, den ich Heimat nennen will. Nach ihm ist alles ausgerichtet, nach ihm bemißt sich jede Richtung, nämlich in ihrer Eigenschaft, von jenem zweiten Ort zurück- oder weiter von ihm wegzuführen. In der Fremde bin ich ein anderer als der, der ich zu Hause war und wieder sein werde. Ich kann mich zwar fast überall heimisch fühlen, aber nirgends daheim. Zudem bin ich ein zutiefst territoriales Wesen. Ich brauche verläßliche Grenzen, die mich abschirmen, unsichtbar machen und bergen, ein Versteck, wo ich mich unentdeckt, unverletzlich und sicher fühlen kann. Das ist auch der Grund, warum mir die Geräusche, die mich seit so vielen Monaten gequält haben, erst der Mofaheini, dann der Trommler, dann der Kocher, dann das Gequatsche im Hof, warum mir diese Anwesenheiten so sehr haben zusetzen können: Weil sie eine latente Bedrohung waren und in meinen Ohren stets eine unmittelbar bevorstehende Territorialverletzung anzukündigen schienen: Dauerspannung. Ich brauche gewisse Mindestabstände (je nach Kontext sind das andere), um mich sicher zu fühlen; werden diese Abstände von anderen Menschen unterschritten (und sei es auch nur virtuell), fühle ich mich sofort äußerst unwohl. Auch dies ein Grund, warum das Reisen für mich immer eine Tätigkeit (eigentlich ist es ja ein Zustand) von ambivalenter Wertigkeit sein wird, ein Zustand im Spannungsfeld von Abenteuerlust, Neugier und Bewegungsdrang einerseits und der tiefen Verunsicherung des In-die-Welt-geworfen-Seins, der schutzlosen Existenz weitab aller Deckungsmöglichkeiten andererseits.
Natürlich fängt man sofort an, in einen neuen Ort hineinzuwachsen, oder der Ort in einen selbst, eine unmerklich langsame Umgestaltung, des Ortes wie der eigenen Befindlichkeiten und Gleichgewichte, mit der man sich den Ort zur Heimat erhebt. Aber vom ersten ungewohnten Gewicht des neuen Schlüssels bis zu jener Verschmelzung mit einem Umfeld, das man Heimatgefühl nennt, dauert es seine Zeit. Bis es soweit ist, werde ich manchmal, wenn ich zur Morgenstunde wach liege und die Wehmut mich anfällt, den Nomaden beneiden um sein Daheimsein im Heimatlosen, um sein Zelt, den Himmel, die Sterne und den Wüstensand, die, wo immer er schläft, seine Wände sind, seine Heimat, die ganze Welt, seine immergleichen Spiegel.
wind
beim gang durch die grünanlage fiel wieder der wind auf.
durchsetzt mit möwenschreien, die eigentlich sittichschreie sind, kam er heran aus einer rufweiten ferne jenseits der häuserzeilen, ließ pappellaub silberhell umschlagen, rappelte in den zäunen, scheuchte vögel aus dem weißdorn, hieb schluchten in die wolkenberge und brachte von ganz nah das meer mit: so sturmklar und frisch, daß man in ihn hineinrufen, ihm einen abzählreim vorsagen, ein rätsel aufgeben mochte, ihn einen augenblick verhalten in der hohlen hand, daß es wie orgelpfeifen darin brausen würde, ehe man ihn wieder zum blankgefegten himmel entließ.
Sommerepigramme II 7
Zwischen die Säume geblitzt von Weg und Kleidern die Füße:
Sohlen der Frauen, im Takt, schlugen die Stunden ins Licht.
Geschichten, wie sie das Leben schreibt
Ich habe nie begriffen, was an geschichten gut sein soll, „wie das leben sie schreibt“. soweit ich weiß, schreibt das leben vor allem banale geschichten, solche, die kein verleger drucken würde. nehmen wir beispielsweise das ende einer der letzten diktaturen europas, das land spielt keine rolle, da gab es eine friedliche umwälzung, der regierungspalast wurde von einer fröhlichen menschenmenge gestürmt, der regierungschef war damit faktisch abgesetzt; niemand griff ein, das militär nicht, die polizei nicht, kein schuß fiel, niemand kam zu schaden, und als die bürger sich stunden später verblüfft die augen rieben, war eine regierung, ein system und eine ära zu ende. so weit so gut. aber jetzt kommt das wahrhaft schöne, das, was dieses ereignis zu einer geschichte macht, oder gemacht hätte, wenn es wahr wäre: es hieß nämlich bereits wenige stunden später, die bewegung der am fuß der treppe wogenden menge die stufen hinauf und ins innere des palastes hinein sei durch ein kleines kind ausgelöst worden, das sich aus der hand seines vaters befreit hatte und, die kühnheit seiner schritte nicht ahnend, die stufen erklommen habe, so daß der vater ihm nachgesprungen sei; und dieser bewegung hätten sich sogleich einige und schließlich viele spontan angeschlossen, bis im schneeballeffekt der palast regelrecht gestürmt worden sei.
eine schöne geschichte, wie gesagt, wenn sie wahr wäre. denn nicht das leben hatte sie geschrieben, sondern irgendein nach geschichten hungernder geist (der sich vielleicht an eine schlange und ein blankgezogenes, in der sonne blitzendes schwert erinnert hatte); jedenfalls konnte sie so nicht bestätigt werden. so schön ist das leben nun einmal nicht, und deshalb, warum sonst, braucht es geschichten, als entwurf einer wahreren welt. und das schöne ist: diese innere wahrheit kann niemals angezweifelt werden. vielleicht hat es das kind auf den treppenstufen des palastes gegeben, vielleicht nicht. daß aber die schlacht zwischen Artus und Mordred durch ein leichtfertig gezogenes eisen ausgelöst wird, oder daß Philemon und Baucis in bäume verwandelt werden, ist unbezweifelbar „wahr“. indessen wäre aber eine geschichte, in der der böse wolf von rotkäppchen geküßt und in einen schönen prinzen verwandelt wird, nicht „falsch“ (in welchem sinne denn auch?). man könnte nicht ausrufen, „das stimmt doch gar nicht!“, höchstens „die geschichte geht anders“, was nicht dasselbe ist. insofern ist jede geschichte wahr, sobald sie erzählt wird. deshalb ist, auf ihre weise, auch die geschichte vom kind auf den stufen des regierungspalastes wahr, dann nämlich, wenn man sich die geschichte vom kind auf den stufen des regierungspalastes erzählt; sie ist so wahr, wie es eben nur eine geschichte sein kann. nicht eine, wie das leben sie schrieb. sondern wie man sie sich manchmal für das leben wünscht.