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Ich bin wohl einer von denen, die selbst einer verlorenen Sache immer noch die Treue halten, und sei es auch aus reiner Halsstarrigkeit, sogar dann, wenn ich selbst es war, der das zu Fall gebracht hat, dem ich jetzt, halsstarrig und überflüssigerweise, die Treue halte. Wen kümmert’s und was hoffen wir davon zu haben, jetzt oder dereinst? Liegt es in unserer Natur? Können wir nicht anders? Erst zerschlagen wir alles, dann bauen wir einen Tempel den Scherben, der Asche, den Briefen, die wir selber geschrieben haben, und die wir jetzt lesen, wieder und wieder, solange, bis das Papier so dünn geworden ist, daß die Buchstaben spinnwebfein in der Luft hängen und zu wackeln beginnen, wenn man keine ruhige Hand hat.

Nein, liebe Hersteller des E*e*a-Bio-Wertkost-Müslis, Spelzen im Müsli sind kein Zeichen von Natürlichkeit, schonender Verarbeitung oder ökologischer Verantwortung, sondern ein Zeichen schlampiger Arbeit und mangelnder Sorgfalt, sonst gar nichts. Versuchen Sie nicht, mir etwas anderes weiszumachen und Ihre Schlamperei mit dem Öko-Deckmäntelchen zu tarnen. Federn oder Schalen sind auch natürlich; trotzdem haben sie auf dem Brathähnchen und in der Nußmischung ebensowenig verloren wie Spelzen in der Flockenmischung.

Allmähliches Umkreisen der wirklich schwierigen Szenen. Ich schreibe um den heißen Brei (in dem Fall sogar die heiße Liebe) herum und lege Kreis um Kreis an Ausweichmaterial um das Noch-zu-Schreibende, den Kern, das Gravitationszentrum. So gruppiert sich die Geschichte allmählich aus lauter infinitesimalen Annäherungen um ein Nichts herum, um ein noch zu füllendes, alles entscheidendes Nichts. Je näher ich aber komme, desto mehr bleibt noch. Sich zu zwingen, täglich zu schreiben, das kann die unerwünschte Wirkung haben, daß man Beliebiges zusammenstoppelt, nur um irgendwas zu sagen. Auf diese Weise kann es bis zur ersten Berührung noch etwas dauern, vom ersten Kuß (den es nicht geben wird, oder wenn, dann ist es ein anderer) oder gar weiteren ersten Dingen ganz zu schweigen.
Nicht daß ich beabsichtige, in diesen Punkten allzu explizit zu werden, ohnedies.

Die Stadt: Dachschicht

„Dämmerung glitt über die Dächer. Auf den Schindeln lag gegen Westen noch ein wäßrigtrüber Schimmer, der die Dächer zu transparentem Glänzen brachte, die Flächen milchig emporhob und verdünnte, und bis an den Ostrand dieser Steinflächenlandschaft das Relief Ziegel für Ziegel schuppiger und deutlicher hervortreten ließ, ehe er abriß und gegen den dunklen Nachthimmel fortbrach. Ziegelsteine und Schornsteinrohre verklammerten sich mit dem Himmel, ihr Kupfer ermattet und schwarz und drauf und dran, in die Silhouetten der Dächer zurückzuschrumpeln. Ein leichter Wind kam auf. Gerüche von vergangenen Sommern stiegen herauf, Duft ohne Blüte, Wasser ohne Tiefe, süßer Moder. Plötzlich ein Tapsen, ein Scharren, das Fiepen eines Vogels: Eine Katze, ein zuckendes Federbündel im Maul, erschien im Ausschnitt des Fensters. Sie verhielt kurz, und Vogel wie Raubtier starrten R. einen langen Augenblick an, Räuber und Opfer gleichermaßen wie erschrocken über das Unerwartete, das da in ihr uraltes Drama hereinkam. Die Katze wartete lange Sekunden, während derer der Vogel völlig stillhielt; sah mit jenem gelassenen Schrecken, wie nur Katzen ihn hinkriegen zum Fenster, und huschte dann übers Dach davon. Erst bei der letzten Bewegung begann auch der Vogel wieder zu zucken. Aus der Straße tönten hallende Stimmen herauf, die Laternen hatten da einen Milchsee ausgebreitet, der die Backsteinmauern der gegenüberliegenden Gebäude mit weißlichem Schein anhauchte. Der Rand eines beleuchteten Werbeplakats ragte ein kleines Stück aus der Tiefe. Von dort, gedämpft und in der Luft hin- und hergerissen, drang Marschmusik von Blechbläsern, ein schleppendes Ostinato, spitze Flötenschreie, darin das Gejammer einer Klarinette, ein quitschtrauriger Lärm, der sich langsam entfernte, noch einmal aufheulte, erstarb. Eine Autotür schlug zu. Ein Motor sprang an.
Da fühlte R. plötzlich eine tiefe Sehnsucht in sich aufwachsen, wie nach einer vergessenen Melodie, die ihm in diesem Augenblick, während eine Stimme unten mit anderen lachte, aus dem Vergessen heraus unerkannt zugeblinzelt hatte. Eine Stimme rief. Ein Tuch wogte aus dem Fenster gegenüber. Die Silben eines Traumes wirbelten auseinander, eine Katze trug einen Vogel im Maul, und ein aufgeflackertes, gerade wieder entschwundenes Wort ließ eine dürre Wehmut zurück. Drüben, in einem anderen Fenster, bauschte sich ein Vorhang.
Er zog die Gardine wieder vor.
Als er später im Bett lag, kam es zurück. Es war plötzlich wieder da, wie die Silben eines Wortes, das sich aus einem Traum herausschälen will; ein Flackern der Ränder des Bewußtseins; warm und aufmerksam und verheißungsvoll, wie der Blick einer Frau mit einer wundervollen, den Mund freilassenden Maske, die, quer durch einen Raum voller belangloser Menschen, dich und nur dich trifft und treffen wollte. Und so wie der Blick sich, kaum erwidert, abwendet um nicht mehr oder vielleicht doch noch einmal zurückzukehren, so floh diese Sehnsucht vor ihm.“
Ich sah auf. „Hast du etwas gesagt? Ich habe doch etwas gehört. Aber gelacht, gelacht hast du doch! Oder geweint wenigstens?“
Nichts. Die Gardine bauscht sich. Aus den Fenstern, schwer von Nacht, trat mir mein Spiegelbild entgegen.

Aus unruhigen Träumen (ein Auto, ein fremdes Land, Gefahr von Anschlägen, von Kugelhagel) erwacht zu unbestimmtem Unwohlsein. War es Übelkeit? Atemnot? Eine Art von Beklemmung, als hätte ich abgestorbene Luft geatmet. Das Zimmer, das Fenster, die Nacht totenstill, warm, unbeweglich.
Ich riß das Fenster ganz auf, atmete mehrmals tief durch, reckte mich und legte mich vorsichtig wieder hin. Ein Weilchen blieb ich noch wach, prüfend, ob die Übelkeit wiederkäme, schlief dann aber schnell wieder ein.
Später ein weiterer Traum. Nicht daß ich je solche Träume gehabt hätte, als ich wirklich eine Abschlußarbeit schrieb. Träume, in denen ich am Tage einer Premiere nicht eine einzige Zeile Text konnte, hab ich auch immer erst Jahre nach der Aufführung geträumt. –
Wann denn der Termin für die Anmeldung sei? frage ich im Traum einen Kommilitonen.
Ach, da könne man immer vorbeigehen, das ganze Jahr durch.
Nein, nein, wann denn die Frist sei?
Im April sei das gewesen für den Wintertermin; das paßt mir gar nicht. Ich überlege. Dann muß ich den Sommertermin nehmen. Das heißt, es wird April, Mai 2009. So lange noch!
Ich tröste mich mit dem Gedanken, daß ich ja, angemeldet oder nicht, schon einmal anfangen könnte zu schreiben, da ist der Traum zuende und ich erwache.

Provinzbahnhöfe (1)

Man fragt sich, wer dort wohl wohnt. Ein Fenster mit Gardine. Eine Blumenampel, quietschrote Pelargonien. Wer lebt da, zum Winken nah, auf Augenhöhe mit den Oberleitungen, mit dem Rattern und den zuckenden Blitzen unter den Füßen?
Ein Alltag in der Ausnahmewelt des Reisenden: Auch hier gibt es Mülleimer und Kioske, Werbetafeln und das Geflimmer auf Bildschirmen. Auch hier gibt es einen Supermarkt, der Teppichvorleger verkauft und Grillanzünder und Katzennahrung, auch hier gibt es Nach-hause-Wege und Briefschlitze.
Bahnhöfe wie einer Spielzeugwelt entstiegen, mit einer Ortstafel in wilhelminischen Lettern, Holzbänken im Schatten und einem hübschen Bahnwärterhäuschen, erbaut in Zeiten, da man ein solches Gemäuer noch liebevoll mit Gesimsen, Türmchen und Mauerbögen über den Fenstern verzierte. Zwischen Bahnsteig, Garten und Straße steht es, mit einem Fahrradladen im Erdgeschoß und Mietern im ersten Stock. Die Namen heißen Bensheim, Goarshausen, Welgesheim-Zotzenheim oder Urft. Schlichtländliche Einsilbigkeit. Haltepunkte im scheinbaren Nirgends, aufgewürfelte Häuser in einem Schnitt zwischen Äckern oder Wein, wo es über Gräben silbrig distelt und auf den Umfriedungen Katzen in der Sonne dösen. Hart steigt darüber das Tal an, der Fluß heißt Lahn oder Ahr oder Rhein, und das Licht ist staubig von Feldern. Im Wartesaal ist es kühl im Sommer und eisig im Winter. Der Putz bricht von den Wänden. Abfahrtpläne wellen sich hinter trübem Glas, verlieren ihre Farben und ändern sich jahrzehntelang nicht. Vielleicht gibt es sogar noch einen Schalter, wo hinter einem Doppelglas mit Drehdurchreiche ein Bahnwärter Kaffee kocht. Sommers tritt man aus dem dämmrigen Raum mit verhallendem Schritt in die Sonne, da flimmern die Schienen der Ferne entgegen, und anstelle einer Halle wölbt sich über den Geleisen ein von Schwalben durchzuckter Himmel.

De Melancholia Panica

Gezielte Übermüdung, um mit der panischen Melancholie (also der Schwermut, die den Gott Pan manchmal befallen muß) fertig zu werden. Nach Mitternacht ins Bett, morgens um sechs raus. Kaffee trinken (vier satt gehäufte Teelöffel auf einen Becher, schwarz, etwas Zucker), schreiben, Radio hören, Amselgeflöte in sich sickern lassen. Nebenwirkung: Irgendwelche ermüdeten Synapsen, die sonst das freie Strömen von Syndesen und Syndyaden, numinoser Nebulae, fluider Phainomena, subtiler Sibilantia und anderer somnambuler Akrochoreographien verhindern, das Kurzschließen von gegensätzlichen Ufern blockieren und so alles in farbloser Voraussagbarkeit halten, diese Synapsen geben jetzt auf, so daß die Kobolde der Hirnrinde anfangen, loszugackern, Vergrabenes aus Klein- und Stammhirn an Oberflächen quillt, wo es sonst nix zu suchen hat, und ein Dauerfeuer über das Corpus Callosum hinweg einsetzt, daß es nur so knistert zwischen den Welthälften, mit anderen Worten: Genau. Denn das ist es schon. Andere Worte. Neues. Ungedacht-Gedachtes. Qietschendes, Reibendes, Funkelndes tritt ins Bewußtsein und ist plötzlich da, war es eigentlich schon immer.
Aber das, wie gesagt, ist Nebenwirkung.
Wer müde ist, denkt anders. Nicht für jedes Denken braucht es Konzentration, manchmal ist sie sogar hinderlich. Der Ausgeschlafene denkt in starren Bahnen, ihn lenken die abrufbereiten Erfahrungen und eingespielten Muster. Lenken ihn — aber führen ihn auch leicht in die Irre, oder in einen Kreis. Der Wache empfindet aber auch die Schwermut stärker, sie betrifft ihn, sie fordert ihn heraus. Für den Ermüdeten ist sie erträglich, die Schwermut, sie ist da, aber sie will nichts. Bei Schlafentzug sind die Empfindungen verfeinert, aber insgesamt abgedämpft, heruntergefahren und weichgezeichnet, das Grobe und Scharfe geht einen nichts mehr an, alles wird erträglich. Kummer wird zu einem kosmischen Prinzip, an dem man nur wie zufällig teilhat. (Man könnte stolz darauf sein); Sehnsucht wird fast in Schönheit verwandelt; ein Verlust läßt sich literarisch zerdenken und mit Sinn behaften, matter Liebeskummer einfach wegwachen. Heimweh wird sanft und geschmeidig und in die Vorfreude der Heimkehr verwandelt.
So verwandelt sich auch die panische Schwermut, dieser träge, süßliche Sommernachmittagsschmerz, Baumharz, Zikaden, Feigen und Salz und schöne Frauen, das plötzliche Bewußtsein, an einem amoenen Orte zu sein, und dann kann man ihm nichts abgewinnen, an einem Ort, der so schön ist, daß ihm alles fehlt, was froh machen könnte, ein Ort, der gleißt und schmerzt. Da ist es ein Glück, übermüdet sein zu dürfen, und dieses wahrnehmende Selbst – das Selbst, das denkt, „dies ist ein schöner Ort“, den Sitz der Melancholie – einfach zu verdünnen und transparent zu machen durch eine Schläfrigkeit, die so genau ausgemessen ist, daß man gerade noch widersteht. Das mildert die Schärfe des Seins, glättet die Flächen, stumpft die Kanten ab und legt über die schroffen Tatsachen den leuchtenden Mantel des Tagtraums. Fast ein Glück, gerade noch bei Bewußtsein und noch nicht im Schlaf, ein Wandeln an der Grenzfläche, akrypnobatisch, nach beiden Richtungen blicken zu können, in beider Abgrund, des Wachens und des vergessenden Schlafs, und dazwischen zu fühlen nach den leuchtenden Wörtern.