Drei Greifvögel, einander umkreisend: Mal werden sie so schmal, daß sie in den Falten des Lichts zu verschwinden scheinen, dann tauchen sie wieder auf aus dem Blau wie Messer aus einem Tuch. Unten branden die Äcker an den Himmel, treiben eine leere Viehtränke bis zum Horizont. Dort steht sie auf einem wackligen Schatten. Vertäute Inseln liegen im Fluß, die der Strom zu Tropfen aus Jade schleift. Man muß sehr still sein und warten, dann hört man, wie Gelächter abseits der Wege leise zerplatzt, gleich einem Bonbon unter der Zunge des trägen Nachmittags. Kühl von Schatten fallen unterdessen die Küsse durchs Laub, verschwiegen wie Fledermäuse, während ein bemoostes Mäuerchen den Grund für sein Grübeln längst vergessen hat. Eine Stunde zieht die andere empor, aufs Treppchen, auf den Pavillon, zu den Balustraden des Tags, der Strom macht Pause, die Hügel sind Linien, die beim Zeichnen einschliefen, du hast Butterblumen unterm Kinn, die Viehtränke ist umgefallen, und oben, ganz oben kreisen weiter die drei Vögel, beweglich und stationär wie Bojen in starker Strömung.

Heimat an Flüssen (2)

Die Ströme in der Heimat waren vergiftet, schwimmen konnte man dort nicht. Am Ufer roch es komisch, wir schauten in die trübe Brühe und widersprachen nicht, wenn unsere Eltern mahnten: In Flüssen schwimmt man nicht.
Flüsse waren für Lastkähne und für Chemieabfälle, für Mensch oder Tier waren sie nicht. Selbst auf den Kiesbänken war es nicht geheuer. Wo in Buchten Strudel auftraten, bildete sich Schaum, und von den Weiden hingen, wenn ein Hochwasser gewesen war, Strähnen eines grauen Schlamms. Es roch komisch, und die Kiesel waren alle von einem gelblichen Staub ummantelt. Wenn ich einen davon aufhob, hatte ich hinterher das dringende Bedürfnis, mir die Hände zu waschen. Nicht einmal die Füße wollte man ins Wasser halten, ja, nicht einmal Schuhe und Socken ausziehen, wenn man über den Ufersand ging. Mitleidig schauten wir auf die mickrigen Muschelschalen im getrockneten Schlick. Was waren das für arme Tiere gewesen, die in diesem Gift ihr Dasein gefristet und ihr Leben ausgehaucht hatten. Dick, viskos, stockend schien uns die Flüssigkeit, in deren Tiefe der Grund nach wenigen Zentimetern trüb wurde und versank. Braun war die Farbe dieses Elements, das mit Wasser nicht mehr viel gemein hatte. Wer in diese Brühe hineinfiele, würde, selbst wenn er nicht gleich sterben müßte, sich in ein Ungeheuer mit Schuppen verwandeln. Er bekäme eine Rückenflosse oder wenigstens Schwimmhäute zwischen den Zehen.
In diese Brühe fiel eines Tages während eines Kindergeburtstages ein Junge. Es war Sommer und warm, und ohne, daß jemand bemerkt hätte, wie es passiert war, lag der Junge auf einmal bäuchlings und mit allen Klamotten am Körper im seichten Uferwasser, lachte und planschte vergnügt mit den Beinen. Ich dachte, nun müsse er ganz gewiß sterben, so wie die Muscheln gestorben waren. Später fände man seine bleichen Knöchelchen aus den Kieseln herausstaken wie Schwemmholz. Die Bestürzung der Erwachsenen hielt sich in Grenzen und galt insbesondere den durchnäßten Kleidern. Du bist vielleicht einer, sagten sie kopfschüttelnd. Begriffen sie nicht, daß der arme Junge sterben mußte? Vielleicht taten sie nur harmlos, um ihn zu schonen und ihm die letzten Stunden leichter zu machen.
Auf dem Rückweg hielt ich Abstand von ihm und wich selbst noch den feuchten Platschern aus, die seine Füße auf dem staubigheißen Asphalt hinterließen. Ich hatte das dringende Bedürfnis, mir die Hände zu waschen, und bedauerte den Jungen wie man einen Gezeichneten bedauert, der noch nichts ahnt von seinem Unglück: Noch lachte er, noch spritzte er mit Tropfen nach den andern; noch war er sogar stolz auf seinen Schabernack; und doch war es nur eine Frage der Zeit, bis ihn das Gift kriegen, seine Haut schrumpeln würde, Blasen bekäme und es aus wäre mit dem Lachen.
Anderntags aber saß der Junge wieder in seiner Schulbank, als ob nichts vorgefallen wäre. Er trug frische Kleider, und seine Haut war heil. Ein paar Tage noch beobachtete ich ihn scharf, ob er vielleicht Schuppen bekäme oder ihm eine schöne Rückenflosse zwischen den Schulterblättern wachse. Aber nichts dergleichen geschah, und ob er Schwimmhäute zwischen den Zehen bekommen hat, habe ich nicht gesehen.

Heimat an Flüssen

Komm, wir gehen an den Fluß.
An der Hand von Vater und Mutter den Riesenschiffen zusehen, wie sie den Strom hinabgleiten oder hinaufstampfen. Schau nur, sie haben Wäsche aufgehängt. Eine Radarantenne dreht sich darüber. Dreht sich und dreht sich, und dann ist das Schiff vorbei. Auf der Brücke, hinter den winzigen Scheiben, ist kein Mensch zu sehen. Ratlos bückst du dich nach Kieseln, geh nicht so nah ans Wasser. So viel Verlorenheit in der Kinderbrust. Auf den Kieseln hockt der Tod. Du wischst dir die Hände an der Hose ab. Es riecht, es riecht nach Fremde. Die Häuser, sind zu groß, lassen sich nicht fassen, die Fabrikfassaden, an denen der Blick sich abarbeitet, abgleitet, abstürzt. Buntes, abgeschliffenes Glas liegt zwischen den Wurzeln der Weiden. Die Möwen hängen mit traurigen Schwingen in der Luft; sie gleichen den seltsamen Vögeln, die in deiner eigenen Brust ihre verlorenen Bahnen ziehen. Warum sind diese Vögel schrecklich? Und wie wird man den Strom wieder los, dessen Ufer bis ins Kinderzimmer reichen, dessen Wintermorgen bis in die Nacht dauert, bis in den Traum. Bis zu den Vögeln in der Brust, mit ihren traurigen, verlorenen Schreien, als schrien sie noch den Möwen nach, den schwebenden Tieren mit ihren grausamen Augen.
Klein ist der eigene Schatten geworden, die eigene Dunkelheit auf den Kieseln rund um das Bunte der Gummistiefel, kleiner und kleiner, bis er in den Mittag voller harter Klänge entkommt.
Das Wasser spiegelt nichts; braun ist es und noch weniger als braun. Träge fließt es dahin, löst alle Farben in sich auf und vernichtet sie, so daß alle Ufer, das jenseitige wie das hiesige, kiesige, stromauf, stromab, tot und verdorrt scheinen.
Stampfen und Stampfen. Der Hafen drüben ein Kreischen von Rost. Endlos der Strand. Eine Brücke aus Seilen häkelt stumm an Entfernungen und Richtungen. Und doch kommt nichts vom Fleck. Alles steht. Der Nachmittag steht, die Möwen, das Wasser. Dorthin kann man nicht gehen, aber die Entfernung ist brüchig, sie hält nicht. Angst kommt in dir hoch. Am Horizont hängt Rauch und Dampf an dünnen Fabrikschornsteinen über einer Ferne, in der alles fremd ist, und die dich in ihre Fremdheit hineinzieht, bis du dir selbst fremd geworden bist, ein Fremdkörper unter fremden Dingen, der schlaffe Ball, die zerkratzte Colaflasche, die Verpackung eines Keksriegels, von deren Farben nur grün und blau geblieben sind. Fremde und verfremdete Farben. Vielleicht wußten die Möwen davon, kannten sich aus mit ihrem Fremdsein, fraßen die Fremdheit der Dinge in sich hinein. Brotrinden, Steine und Staub. Nester aus Heimatlosigkeit. Zerbrochene Muschelschalen. Sperrweite Schnäbel, abgehärtet von Schreien. Unbeirrt lag alles entfernt und zugleich so nah, daß es dich erschreckte, waren die Strecken überspannbar zu dir, bis alles in weiter Ferne bedrohlich geworden war und ins Nahe reichte, wie ein Feuer, eine ferne Flamme, schon der Anblick eine Gefahr, ein Fraß an der Seele. Fremd waren zuletzt noch deine Träume, dein Schlaf, wenn die Autobahn jenseits der Häuser gleich Flammengebraus durch die Nacht hallte, und da war es, als habe jene Hängebrücke über den Fluß alle Fernen zusammengespannt, daß kein Geheimnis mehr blieb in der Welt und die Zukunft schon angebrochen war.

Ströme, Strömung, stromern

Ein Licht, in dem die Uhren langsamer gehen und die Ströme träge im Kreis fließen. Du steigst niemals in denselben Fluß? An einem solchen Tag würdest du immer wieder aufs neue im selben baden. Du würdest dich naß machen mit den wiederholten Spiegelungen von Spiegelungen, und uraltes Licht von den Fingerspitzen wegschleudern. Du würdest waten in Geflüstertem und Anvertrautem, Gestöhntem und Gekichertem, Zettel mit zerlaufener Tinte, wo jemand seine Angst notiert und in den Strom geworfen hat. Irgendwo glauben sie, die Liebe festschließen zu können und dem Wasser den Schlüssel überantworten. Man will hoffen, daß das Wasser im Kreis fließt; wie soll sonst die Liebe immer neu beginnen?

Wie träge Schiffe auf dem Ozean schweben die Züge für Ewigkeiten zwischen den Bahnhöfen; am Ende sind sie alle doch pünktlich. Ins Licht wachsen die Wälder, Augen und Zungen hängen voll Laub. An den Füßen tummeln sich Mäuse; in allen Taschen trägt man süße Schatten mit sich herum. Auf so viele Arten kann etwas trocken sein. Samtig und kratzig und staubig, Alphabete des Knisterns. Fransige Lippen und spröde Wangen und warme Risse an den Händen. Küsse mit süßer Restfeuchte am tiefen Grund. Wie kühl sonnenhelles Haar ist. Wie flüssig dein Schatten über dem Wasser, mit Hut. Reife Früchte, Schoten mit Buchstaben darin, platzende Hülsen und Häutchen um die Seele von Nüssen. Zweifarbige schillernde Tugenden, bitter schmeckt der Herbst, und gut. Ein Sonnenstrahl kommt an den Serifen eines Blattrands zur Ruhe. Buntes stiefelt durchs Laub, das trägt Stock und Hut und ein Liedchen auf den Lippen: Nicht im Lenz, wie die meisten glauben, sondern im Herbst fängt alles an.

Zwischen den Schläfen geht der Himmel auf. An den Wimpern hängen die Hügel fest, Kastanien rollen vor dem Fuß davon, und in den Lüften über allen Stirnen: Ein Flugzeug mit Gebrumm. Um von Horizont zu Horizont zu gelangen, braucht es einen ganzen lang hingesponnenen Nachmittag. Da sind die Züge alle schon eingefahren, haben sich die Wege verirrt und verknäuelt und kennen deinen Namen nicht mehr. Die Nacht ruft sie zurück in die Schatten und sammelt alles Verstreute wieder ein. Aufgerollt und eingeschmiegt die Richtungen, Winkel und Fernen, der Kies, der Sand und Stimmen. Darin findet sich wohl auch dein Name wieder, irgendwo, versteckt, kichernd in einem uralten Holunderstrauch.

Fern von hier, an deinem Haus, war der Strom auch schon derselbe.