Die Ströme in der Heimat waren vergiftet, schwimmen konnte man dort nicht. Am Ufer roch es komisch, wir schauten in die trübe Brühe und widersprachen nicht, wenn unsere Eltern mahnten: In Flüssen schwimmt man nicht.
Flüsse waren für Lastkähne und für Chemieabfälle, für Mensch oder Tier waren sie nicht. Selbst auf den Kiesbänken war es nicht geheuer. Wo in Buchten Strudel auftraten, bildete sich Schaum, und von den Weiden hingen, wenn ein Hochwasser gewesen war, Strähnen eines grauen Schlamms. Es roch komisch, und die Kiesel waren alle von einem gelblichen Staub ummantelt. Wenn ich einen davon aufhob, hatte ich hinterher das dringende Bedürfnis, mir die Hände zu waschen. Nicht einmal die Füße wollte man ins Wasser halten, ja, nicht einmal Schuhe und Socken ausziehen, wenn man über den Ufersand ging. Mitleidig schauten wir auf die mickrigen Muschelschalen im getrockneten Schlick. Was waren das für arme Tiere gewesen, die in diesem Gift ihr Dasein gefristet und ihr Leben ausgehaucht hatten. Dick, viskos, stockend schien uns die Flüssigkeit, in deren Tiefe der Grund nach wenigen Zentimetern trüb wurde und versank. Braun war die Farbe dieses Elements, das mit Wasser nicht mehr viel gemein hatte. Wer in diese Brühe hineinfiele, würde, selbst wenn er nicht gleich sterben müßte, sich in ein Ungeheuer mit Schuppen verwandeln. Er bekäme eine Rückenflosse oder wenigstens Schwimmhäute zwischen den Zehen.
In diese Brühe fiel eines Tages während eines Kindergeburtstages ein Junge. Es war Sommer und warm, und ohne, daß jemand bemerkt hätte, wie es passiert war, lag der Junge auf einmal bäuchlings und mit allen Klamotten am Körper im seichten Uferwasser, lachte und planschte vergnügt mit den Beinen. Ich dachte, nun müsse er ganz gewiß sterben, so wie die Muscheln gestorben waren. Später fände man seine bleichen Knöchelchen aus den Kieseln herausstaken wie Schwemmholz. Die Bestürzung der Erwachsenen hielt sich in Grenzen und galt insbesondere den durchnäßten Kleidern. Du bist vielleicht einer, sagten sie kopfschüttelnd. Begriffen sie nicht, daß der arme Junge sterben mußte? Vielleicht taten sie nur harmlos, um ihn zu schonen und ihm die letzten Stunden leichter zu machen.
Auf dem Rückweg hielt ich Abstand von ihm und wich selbst noch den feuchten Platschern aus, die seine Füße auf dem staubigheißen Asphalt hinterließen. Ich hatte das dringende Bedürfnis, mir die Hände zu waschen, und bedauerte den Jungen wie man einen Gezeichneten bedauert, der noch nichts ahnt von seinem Unglück: Noch lachte er, noch spritzte er mit Tropfen nach den andern; noch war er sogar stolz auf seinen Schabernack; und doch war es nur eine Frage der Zeit, bis ihn das Gift kriegen, seine Haut schrumpeln würde, Blasen bekäme und es aus wäre mit dem Lachen.
Anderntags aber saß der Junge wieder in seiner Schulbank, als ob nichts vorgefallen wäre. Er trug frische Kleider, und seine Haut war heil. Ein paar Tage noch beobachtete ich ihn scharf, ob er vielleicht Schuppen bekäme oder ihm eine schöne Rückenflosse zwischen den Schulterblättern wachse. Aber nichts dergleichen geschah, und ob er Schwimmhäute zwischen den Zehen bekommen hat, habe ich nicht gesehen.
Oh, die Mär kenne ich. Das war an allen Flüssen so. Ich bin mal reingefallen und habe danach zwei Tage gewartet, daß ich krank würde. Seither bin ich von meiner eisernen Konstitution überzeugt.
In glaube, in den siebziger Jahren tat man wirklich gut daran, Flußwasser zu meiden.
Hatte diese Erfahrung etwas von einer Entzauberung der Welt? War etwas danach für immer anders als zuvor? Wunderbar erzählt, nebenbei.
Entzauberung? Nein. Natürlich habe ich nicht wirklich geglaubt, daß dem Jungen Schuppen wüchsen oder er krank würde. Gleichwohl hatte ich ein ungutes Gefühl, wie wenn jemand aus Unwissenheit sich in Gefahr begibt. Daß das Bad im (vermeintlich oder wirklich) vergifteten Fluß keine Folgen hatte, konnte allerdings meine Vorbehalte gegen Flußwasser keinesfalls ausräumen. Ich glaube, ich würde auch heute noch, da es allenthalben heißt, sein Wasser sei wieder in Ordnung, nicht im Rhein schwimmen.