Martin

4 (1) Interea irruentibus intra Gallias barbaris Iulianus Caesar coacto in unum exercitu apud Vangionum civitatem donativum coepit erogare militibus, et, ut est consuetudinis, singuli citabantur, donec ad Martinum ventum est. (2) tum vero oportunum tempus existimans, quo peteret missionem – neque enim integrum sibi fore arbitrabatur, si donativum non militaturus acciperet -, hactenus, inquit ad Caesarem, militavi tibi: (3) patere ut nunc militem Deo: donativum tuum pugnaturus accipiat, Christi ego miles sum: pugnare mihi non licet. (4) tum vero adversus hanc vocem tyrannus infremuit dicens, eum metu pugnae, quas postero die erat futura, non religionis gratia detractare militiam. (5) at Martinus intrepidus, immo illato sibi terrore constantior, si hoc, inquit, ignaviae adscribitur, non fidei, crastina die ante aciem inermis adstabo et in nomine Domini Iesu, signo crucis, non clipeo protectus aut galea, hostium cuneos penetrabo securus. (6) retrudi ergo in custodiam iubetur, facturus fidem dictis, ut inermis barbaris obiceretur. (7) postero die hostes legatos de pace miserunt, sua omnia seque dedentes. unde quis dubitet hanc vere beati viri fuisse victoriam, cui praestitum sit, ne inermis ad proelium mitteretur. (8) et quamvis pius Dominus servare militem suum licet inter hostium gladios et tela potuisset, tamen ne vel aliorum mortibus sancti violarentur obtutus, exemit pugnae necessitatem. (9) neque enim aliam pro milite suo Christus debuit praestare victoriam, quam ut subactis sine sanguine hostibus nemo moreretur.

Inzwischen waren Barbaren nach Gallien eingefallen, und nachdem Kaiser Julian das Heer an einem einzigen Ort bei den Vangionen zusammengezogen hatte, befahl er, einen Extrasold für die Soldaten auszuzahlen. Wie es üblich war, wurde jeder einzeln aufgerufen, und so kam die Reihe auch an Martin. Da dachte dieser, daß nun die Gelegenheit gekommen sei, um seine Entlassung zu erbitten, denn er hielt es nicht für anständig, den Extrasold ohne die Absicht anzunehmen, weiterhin als Soldat zu dienen; und so sagte er zum Kaiser: „Bis heute habe ich dir als Soldat gedient; erlaube mir nun, als Soldat Gott zu dienen. Dein Geschenk mag annehmen, wer für dich kämpft, ich aber bin ein Soldat Christi, ich darf nicht mehr kämpfen.“ Da wurde aber der Kaiser zornig über diese Worte und entgegnete, daß jener nicht aus Gründen des Glaubens, sondern nur aus Furcht vor der Schlacht, die am folgenden Tage stattfinden sollte, aus dem Wehrdienst ausscheiden wolle. Doch Martin blieb angesichts der Drohung nur umso standhafter und entgegnete unerschrocken: „Wenn du meine Entscheidung der Feigheit, nicht dem Glauben zuschreibst, so will ich morgen ohne Waffen mich vor das Heer stellen, und im Namen des Herrn Jesus werde ich, ohne Schild oder Helm, nur mit dem Schutz des Kreuzzeichens, unbeschadet durch die Reihen der Feinde schreiten.“ Der Kaiser ließ ihn in Ketten legen, damit er zu seinem Wort stehe und sich unbewaffnet dem Feind entgegenwerfe. Am nächsten Tag aber schickten die Feinde Unterhändler, die um Frieden baten, und ergaben sich und all ihren Besitz. Wer könnte nun anzweifeln, daß dieser Sieg wahrlich der eines glücklichen Mannes war und ein schönerer Ausgang, als wenn er unbewaffnet wäre in die Schlacht geschickt worden. Natürlich hätte der fromme Herr auch dann seinen Soldaten vor den Schwertern und Lanzen der Feinde bewahren können. Aber damit die Augen des heiligen Mannes nicht durch den Tod anderer verletzt würden, nahm er die Notwendigkeit der Schlacht hinweg. Denn zu keinem geringeren Sieg mußte Christus seinem Soldaten verhelfen, als zu einem, bei dem die Feinde ohne Blutvergießen bezwungen würden und niemand sterben müßte.

(Sulpicius Severus, Vita Sancti Martini, 4)

Aequinoctium

Ätsch, spricht der Herr Solminore, nun gibt es statt Distichen diese.
   Bleibt er den Fasti auch treu, nötigen läßt er sich nicht!

Wenn erst der Sternenfuß tief in den Brunnen steigt,
auf Zehen Spitz der Mond lockend an Scheiben schlägt,
  will ich den Windkrug fort ins Helle
    tragen, zum Zelt deiner fernen Augen.

Lange im Winterschlaf ruhten die Knie uns,
tollkühn von Dunkelheit schwärzte das Haus der Docht.
  Grübelt die Tür noch über Fernen,
    leert sich das Glas, wo du trankst, von Lippen.

Noch stehn die Häuser leer, alle, des kahlen Jahrs.
Kein Zimmer weiß noch, wie, wenn du mich küßt, es braust.
  wie, wenn die Tür du schließt und da bist,
    Lampe und Fenster und Licht sich umdrehn.

Was mir dein Kuß daließ, Feuchtes der letzten Nacht,
wie mich vor Jahr und Tag labte dein nasser Mund,
  zeigten die Spinnen mir im Spiegel,
    wärmte um hundertstel Grad die Stürme.

Wenn erst nur weicher ruht Schatten vom Uhrenturm;
wenn erst der Weg sich schält, abwirft die alte Haut,
  schaff ich ein Fensterglas aus Blicken,
    beicht ich dem Schloß meiner Liebe Namen.

Wenn dann das Zwielicht prägt Vögel in weiche Nacht.
Finger am Quellengrund lösen vom Tag den Bann:
  Komm, wenn das Licht enthüllt die Ströme,
    deute mir’s Lächeln des Finks im Winkel.

(Die Melancholie einer jeden Zäsur. Nie habe ich gelernt, Zäsuren selbst zu setzen, ohne hinterher zu bereuen, daß ich sie gesetzt habe, und mit den Zäsuren, die das Jahr und seine Teile und Feste setzt, kann ich nicht anders als rückwärtsgewandt umgehen: Niemals schaue ich bei einer Zäsur anders als mit Ängstlichkeit nach vorne, und zurück nie anders als mit Traurigkeit.)

Aequinoctium



Füße keine, für Sonne, in Bäumen. Die Schatten der Vögel
     rollen die Flugbahnen auf, bergen sie anfangs des Winds.

Leere des Raums, zu weit für Schall, zu müde für Wolken.
     Quitten lösen das Licht, schal wie ein Luftkuß, vom Laub.

Aequinoctium

Muffig hängt heraus
das Dunkel zum Lüften im
Fenster des Nachbarn

Vögel am Mittag
als lösten die Schatten sich
ab von den Dingen

Eine Wolke steigt
Wind malt mit weichem Pinsel
Amseln an die Wand

Im Gezweig Sonne
die Fruchtspalten der Meisen
Schnitt durchs Augenlicht

Nachts dein Kleid vor dem
Fenster. Schamhaft im Dunkel
knospen die Kirschen

Das Fenster reckt sich
gähnend vor Licht, an Schuppen
sprießen die Leitern

Näher die Schatten
Kopf jetzt an Kopf, ich tauche
durch deinen Kragen

Meine in deiner
halten die Hände unser
Wachsein wie Anker

Als wären wir zwei
nur ein Wort im Gewölbe
lauschender Ohren

Eklipsis lunaris

Wie eine alte römische Münze hängt der Mond am Himmel über der Häuserzeile, eine dünne Scheibe angefressenen Kupfers, erodiert und irgendwie uralt, schrundig, löchrig, dünn, als hielte den Himmelskörper nicht mehr viel zusammen, als könnte man bald durch das abgegriffene Material die Sterne dahinter leuchten sehen. Erst im Fernglas wölben sich seine Meere um den nördlichen Horizont, von wo schon eine Aufhellung wie metallischer Schimmer über den Himmelskörper fliegt, und über den Merkmalen der Landschaft scheint ein schmaler Reif wie Dunst zu liegen. Die südliche Hemisphäre des Trabanten dagegen glüht wie aus eigenem Licht tiefrot, als tauchte er eben aus einer Esse auf.

Langsam scheint er heller zu werden und dabei auszubleichen, aber der Vorgang ist so langsam, daß es auch Einbildung sein könnte. So wie bei einer Sonnenfinsternis auf der Erde gibt es auch bei einer Sonnenfinsternis auf dem Mond eine Dämmerungszone. Als dann aber wirklich eine schmale Sichel erscheint, ist klar, die Aufhellung war nur vermeintlich, jetzt erst bewegt sich der Mond aus dem Erdschatten wieder ins Licht, paradoxerweise nach oben, obwohl er doch untergeht. Aber es ist eben kein Halbmond, es ist Vollmond, dem nur die Erde im Weg steht. Erdrotation und Mondumlauf gehen in dieselbe Richtung (vom Norpol aus gesehen im Gegenuhrzeigersinn), weswegen auch die Mondunter- und -aufgänge täglich um etwa zwanzig Minuten später stattfinden, läuft doch der Mond der Erddrehung und seinem eigenen Auf- und Untergang voraus und verbummelt so seinen eigenen Aufgang.

Es fällt schwer zu glauben, daß der Grund, auf dem man steht, daß die Häuser gegenüber, daß die Stadt Köln, daß die Börde, die Eifel, die niederrheinische Tiefebene, die Nordsee mit ihren Wassermassen, daß die Berge der Alpen, daß alles, was aus meiner kleinen Perspektive „die Welt“ heißen kann, diesen Schatten wirft, einen Schatten dort hinauf wirft zum Mond, daß diese ganze Welt sich als Effekt zeigt außerhalb ihrer selbst, außerhalb von allem, was mir je zugänglich war, ist und sein wird. Als könnte man winken, und droben sähe man, riesig vergößert, den eigenen Arm sich heben.

Aequinoctium



Abends ankern die Türme und ziehen die Glocken ans Ufer.
     Weithin hörbar der Wind, wie er vom Horizont spricht.
Kraniche setzten aus zwei einsame Paare am Feldrain.
     Lang fiel ihr Schatten zum Weg, wo noch der Hagedorn glomm.
Alle Schritte verstummt, am Wegweiser lungern die Steine.
     Unter dem Schatten der Uhr schließen die Fichten den Wald.

Solstitium (und noch ein Bewunderer)

Nacht kommt mit Fahnen und Schiffen, die taglichten Namen des Stromes
     hat sie dem spiegelnden Wind unter die Bilder gekehrt.

Hinter den Rändern von Wolken verbergen sich Bänder und Bögen.
     Buchten fallen ins Land, wo es im Schilf sich verlief.

Schiffsrumpf, dem schwindenden Tag in die dämmrige Falte geschmuggelt,
     taucht als des greisen Gotts Tempel am Hang wieder auf.

Weiden nehmen den Strom und führen in fort zu den Schatten.
     Mondlicht, gekeltert aus den Fels, schenkt ihn den Rosen zurück.

Nicht mag ich satt mich sehn an den Staffeleien der Nymphen:
     an ihrer Brüste Schwung mal ich mich kindischen Greis.

Eins der schwärzeren Szenarien für die Folgen der anthropogenen Erderwärmung ist einigen Experten zufolge, daß der Golfsstrom eines Tages versiegen und ganz Nord- und Mitteleuropa in ein Eiszeitalter gestürzt werden könnte.
Anderen Experten zufolge ist dieses Ereignis im Frühjahr 2018 bereits eingetreten.

Dies natalis

 
Leuchtend der bleibende Ort, als gäb es hier sonstwas zu feiern.
      Fichten, ein Hochsitz und Farn. Wiedererkennbares Hier.

Hier, sagst du, hier. Und der Ort ist durch Jahre derselbe geblieben.
      Wünschtest, es bliebe das Jahr gleich auch am selbigen Ort.

Wünschtest, der Häher, der jetzt seinen Schrei durch die Wipfel geworfen,
      hätte gerufen wie je, kehrte die Stunde zurück.

Ferner der bleibende Ort, die fliehenden Stunden verloren.
      Wünschtest, der Ort blieb bei dir, Fichten, ein Hochsitz und Farn.

Wünschtest, auch du wärst geblieben, der einst hier als Wandrer gegangen.
      Fichten, ein Hochsitz und Farn. Wiedererkennbares Ich.

Solstitium

 
Wieder die bunten Jacken, Gesichter, jung wie Laternen.
      Blühend, wie niemals geküßt, schmeckten die Lippen nach Laub.
Immer kein Antlitz in Pfützen, die Fichten im Schatten von Glocken.
      Zitternd ein Rest noch vom Licht letzten, ach, vorletzten Jahrs.