Solstitium

Stramm stehn die Uhren. Im Gleichschritt gehn Weiser und Weg. Unter Vollzeug
    segeln die Fahnen vorm Tag über die Stunden hinaus.
Schon stehn die Schalter auf an, sind die Bücher am Ende, entschlossen
    trampeln die Schuhe dahin. Schnell ist der Tag, pfeift die Nacht
jählings um Säulen und Draht, wo kreischend die Straßen ins morgen
    düsen, auf Anfang getrimmt. Alles, was Zahl heißt, rast los.

Meine Oma fährt im Hühnerstall Motorrad …

Liebe REWE-Filialleiter!

Wollen Sie auch, daß Ihren Kunden das Einkaufen bei REWE Freude macht? Wünschen Sie sich, daß Ihre Kunden sich wohlfühlen in Ihren Geschäftsräumen und sich gerne dort aufhalten? Wollen Sie auch, daß Ihre Kunden die Atmosphäre im Laden als wohltuend empfinden, sich entspannen und gerne wiederkommen? Und wollen Sie Verärgerung und Mißmut bei Ihren Kunden vermeiden? Dann haben Sie doch bitte ein Einsehen. Verzichten Sie fortan darauf, den Werbesong „Buttermilch in Flaschen“ in Ihren Filialen abzuspielen. Denn mit seinem immer knapp den Melodietönen ausweichenden Gesang verursacht diese Einspielung höchstes Unbehagen und löst spätestens beim zweiten Hören einen kaum zu unterdrückenden Fluchtreflex aus. Auch den Text möchte man nicht unbedingt unter die Höhepunkte abendländischer Lyrik zählen. Glauben Sie mir: Niemand wird diese Ohrenfolter zum Anlaß nehmen, ins Kühlregal zu greifen. Und seien Sie unbesorgt: Die Stammkunden der fraglichen Molkereiprodukte werden die neue Verpackung schon von alleine entdecken. Machen Sie doch lieber mit einem Plakat darauf aufmerksam, das gibt immerhin keine Töne von sich. Oder verteilen sie einen Flyer an der Kasse. Die Ohren Ihrer Kunden jedoch weiter zu strapazieren, dürfte Ihrem Geschäft in hohem Maß abträglich sein. Täuschen Sie sich nicht: Ästhetisch empfindliche oder auch einfach nur nicht gänzlich unmusikalische Menschen gibt es viele – mehr als sie vermutlich zu denken geneigt sind –, und der nächste Supermarkt ohne Werbespots, handele es sich nun um Buttermilch oder um Spargelsauce oder was auch immer, ist nur eine Straßenecke entfernt. Sie werden sich, wenn sie fortan auf den Song verzichten, keine Feinde, wohl aber eine Menge Freunde machen. Denn von dem falschen Gesinge bekommt man, verzeihen Sie, ein Geschwür im Ohr.
Und wo Sie schon einmal dabei sind: Machen Sie doch das Einkaufsradio am besten ganz aus. Vielen Dank.

Herzlich
Ihr Solminore

Binnenwandern

Man wandert. Man geht, und schaut. Man trägt seine Blicke irgendwo hin, und, wenn man aufmerksam genug war, Landschaften wieder zurück. Striche Bögen, Wolkenbrauen können festwachsen im Inneren, Wurzeln schlagen im Geist und im Träumen, sich verwandeln, bis davon in der Weltgegend, im Außen, das man erkundete, nur mehr eine Art nüchternen Erkennungsrasters bleibt. Wo man war, mit Füßen, Blasen, Schweiß und zusammengekniffenen Augen, das ist ein Ort, an den man nicht zurückkehren kann. Denn man hat ihn mitgenommen. Nur mehr bei einem selbst existiert er und nur dort hat er Dauer.
Und entwickelt sich. Lebt: So wird es unmöglich, sie wiederzufinden, diese Landschaften, vergebens, sie als das wiederfinden zu wollen, wofür in der Erinnerung zwar eine Art Suchanweisung existiert, die wohl wirklich ein Ergebnis liefert: Nur wäre es stets, wohin es auch geht, das falsche. Denn nicht die Erinnerung bleibt immer ein Stück hinter der wirklichen Landschaft zurück, sondern gerade umgekehrt verhält es sich: Die Landschaft bleibt hinter ihrer Imagination zurück, das Bild, von den die Bögen und den Horizonten bis vors Dickicht, die Brombeeren, das Sternkraut, der Baumstoß vor den eigenen Schuhen, das alles kann die einmal eingewurzelte Vorstellung davon nicht wieder erreichen, und umso weniger, je öfter der Wanderer sich betrachtend durch sie bewegt und den inneren Räumen Nahrung davon gegeben hat.
Wir möchten so weit gehen zu sagen: Die Landschaft existiert ausschließlich in der Erinnerung. Und dort existiert sie auf ihre verträumte, nicht ver- sondern geklärte und doch unklare, wandelbare Weise, voller Bezüge, reich an Verweisen, in sich selbst verschlungen, in fortlaufenden Verschachtelungen fortstrebend, in Kammern gegliedert, die einander enthalten und entäußern und dabei mehr sind als sie selbst, summend von Bedeutungen … So daß man, wenn man einen Ort wieder aufsucht, der einmal jene innere Landschaft ausgelöst und ausgetrieben hat, fassungslos ist darüber, daß da ja gar nichts stimmt.
Eine Landschaft ist im Kopf entstanden, die man in der Welt wiederzufinden sich anschickte; eine Landschaft, die gleichermaßen aus Büchern wie aus Hügeln und Tälern, ebenso aus Geschichten, Gedanken, Hoffnungen, Projekten besteht wie aus Fels, Stein, Weg, Aussichten und Panoramen. Doch die Schwünge und Bögen, die Winkel und die Quellen, die Wege und Strecken der inneren Landschaft sind in der Welt nicht auffindbar, ihnen entspricht dort nichts; sie sind eine Geschichte, während das, wohin man reisen, wodurch man schreiten kann, nur Raum, Fläche und Ausdehnung ist. Und vielleicht begründet sich darauf der Drang zum Schreiben: als eine Sehnsucht nämlich, das Innere ins Außen zu tragen und dort Landschaft werden zu lassen, eine solche Landschaft, die wir schon immer mit uns herumtragen und die wenn überhaupt nur auf dem Papier (und im Geist des Lesers) Wirklichkeit werden kann.

11. Dezember 2117

Der nächste Venustransit.
Ein Datum, das schon jetzt feststeht, und du weißt, du wirst nicht mehr dabeisein. Manchmal tapert man so blind durchs Leben, daß man heulen könnte. Halley habe ich erlebt und das Glück gehabt, im richtigen Jahrhundert auf der Welt gewesen zu sein für ein noch selteneres Ereignis. Das Glück, aber nicht die Wachheit. Angesichts der Seltenheit des Ereignisses denke ich jetzt, vielleicht wäre es doch wert gewesen, mal hinzuschauen, 2004 oder eben gestern. Dabei ist es mir da ja noch gleichgültig gewesen. Erst mit dem Bewußtsein post festum kommt der Verlust. Ein reines Versäumnis, abstrakt, pur, kristallin, absolut, gerade weil es nichts Begehrenswertes oder auf private Weise Teures ist, das man verloren hat. Die Darstellung der reinen Unmöglichkeit. Nichts, was sich nachholen, richten, mit viel Fleiß doch noch schaffen ließe. Es ist außerhalb der Reichweite. Es ist außerhalb der letzten Grenzen deiner selbst. Du tust einen Blick auf eine an einem bestimmten, absolut sicher eintretenden Ereignis verankerte Zukunft, die dich nicht mehr enthält. Die eigene Begrenztheit so deutlich ablesen zu können wie an diesem Datum, an diesem Unverrückbaren – Tag, ja, Stunde stehen bereits fest, und das tun sie schon seit Jahrmilliarden –: das hat etwas Vernichtendes. So lange du lebst, wird ein Venusdurchgang nicht mehr zu beobachten sein. Und gestern hättest du noch eine Chance gehabt. Mit deinen eigenen Augen. Jetzt bleiben dir nur noch Bilder, geliehene Augen und Erinnerungen, Bilder, die zu einem anderen Geist, zu einem anderen, wacheren, Leben gehören.