Kaffee

Der erste Kaffee am Morgen, seit Jahren geliebtes Ritual. Der geschützte Raum am Saum zwischen Tag und Nacht, wo beides noch gleich möglich ist, Dunkelheit und Licht, alle Wege offen, Schlaf oder Wachsein, Traum oder Wirklichkeit ununterscheidbar. Das Schweigen von der Straße her. Die leisen Stimmen aus dem Radio. Das in sanftes Lampenlicht getauchte Zimmer, tröstlich in seiner Vertrautheit, als habe es mit seinen Möbeln und Büchern und Zetteln und Krims und Krams auf mein Wachwerden gewartet. Und der bittere, je nach Lage der Dinge verheißungsvolle oder beruhigende oder lockende oder anfeuernde Duft aus der Tasse, der schwarze Geschmack mit dem irden-warmen Abgang, bald: dieses innere Leuchten, das nur eine gute Dosis Methyltheobromins hervorrufen kann, die gute Laune, Göttergedanken: Was wäre ich ohne Kaffee? Ein Normalsterblicher, der morgens aufstehen muß.

Die erste Tasse Kaffee, die beste des Tages. So heiß, so dampfend, so schwarz gelingt keine zu einer anderen Tageszeit, ausgenommen höchstens spät nachts. Aber wer, der seines Verstandes mächtig, würde nachts Kaffee trinken? Die Nacht ist zum Schlafen da, der Morgen, na ja, zum Kaffee. Der Kaffee ist ja überhaupt der Grund für den Morgen. Irgendwo habe ich gelesen, dem Trinker schmeckt das letzte Bier der Nacht am besten. Das stimmt doch nicht! Es ist das erste Bier, das am besten schmeckt, und es ist der erste Kaffee des Tages, der unvergleichlich besser ist als jeder andere.

Das Klemmlämpchen am Bett taucht das Zimmer in mildes Licht. Ich stelle die dampfende Tasse (gestrichener Löffel Zucker, keine Milch) auf den Nachttisch, schlüpfe zurück in die noch warmen Decken, lege mir den Rechner auf die Knie. Es ist fünf oder sechs, ich bin als erster wach, ich bin allein in meiner Kapsel, die beiden Straßen, vorne und hinten ums Eck, schlafen noch. Stille ist manchmal nur zu erreichen, indem ich wach bin, wenn es kein andrer ist. Nur von fern, überbracht von freundlichen Stimmen, dringt die Welt durchs Nadelöhr des Radios an mein Ohr, jederzeit auf Abstand zu halten, filterbar, ausblendbar, beherrschbar. Ich nehme den ersten, brühheißen Schluck und beginne zu arbeiten.

Nicht beherrschbar: die Zeit. Aber in dieser Hülle aus Licht, in dieser Kapsel aus Schweigen, in der man wie unter einer tiefen See am Meeresgrund ruht, in dieser vom Kaffee, vom Ritual herausgehobenen Stunde, in der solche Gedanken möglich sind, die mir zu keiner andern Stunde einfielen: läßt sich die Zeit umgehen, indem man ihr durch die Wiederholung ein Schnippchen schlägt und diese Stunde oder zwei herauslöst aus dem verbundenen Strom, so daß sie jeden Morgen als die gleiche Abmessung, die gleiche Aussparung von Ewigkeit wiederkehrt. Wiederkehrt, sich, erneuert und erfrischt, wiederschenkt, dieselbe, die nicht vergeht. Ich fange das Gestern, das Vorgestern an genau demselben Punkt heute wieder an, knüpfe wieder an den Faden an, kehre heim auf eine Insel, in der, so lange ich will, immer dieselbe Stunde bleibt, fünf oder sechs, am Saum zwischen Tag und Nacht.

Stillen (1)

Wie ein Gestrüpp fühlt sich an, was sich in all den Jahren, seit mir das Schreiben zur Gewohnheit geworden, an Worten angesammelt hat. Nichts davon verschwindet ja wieder, jedes einzelne Wort, jedes Syntagma, jede Kongruenz, jede flektivische Konstruktion bleibt bewahrt. Und nicht nur bleibt sie bewahrt, bleibt sie als Gedächtnis auf Festplatten, CDs, Flashspeichern oder Servern, auf Briefpapier, in Kladden und unzähligen Notizzetteln: Ich kann den Rechner ausschalten, die Kladden schließen, die Zettel wegsperren, jedes Stück Papier in Schubladen verschwinden lassen: Die Worte bleiben da. Sie bleiben in mir. Schlimmer noch: Sie enthalten immer schon weitere Wörter als projizierte Möglichkeiten, junge Triebe am äußersten Rand des Wurzelfilzes. Warum überhaupt schreiben? Sollte ich nicht lieber etwas anderes tun? Ich habe das Gefühl, zu ersticken an all den Wörtern. Und mit jedem Wort, das ich schreibe, wird alles noch schlimmer. Ich fühle mich überwuchert, umwachsen von Gestrüpp, das mich lähmt, und mit jedem Wort verheddere ich mich noch heilloser. Ich gehe spazieren und formuliere. Ich sitze auf der Kloschüssel und wende Worte. Noch beim Einschlafen kann ich es nicht lassen, gibt es keine Stille, keine Freiheit von Wörtern. Keine Freiheit von Zeichen.
Es wird immer so weitergehen. Noch mehr und noch mehr Wörter. Manchmal verspüre ich den Impuls, das Gestrüpp mit Stumpf und Stiel auszurotten.
Ich sehne mich nach einem weißen Blatt.
Nach einem weichen, schwarzen Bleistift.
Ich sehne mich danach, Blatt und Bleistift zu betrachten: Wie der Schatten der Maisonne vom Stift schräg einen Schatten aufs Papier zieht; wie das Papier im flachen Licht rauh erscheint, wie mit feinem Salz besprenkelt; wie der Schatten um den Stift herumgleitet, während die geschärfte Graphitspitze aufschimmert, wieder erlischt. Die winzigen Holzsplitter. Der leuchtende Lack. Die scharfen Ränder des Papierbogens.
Im Nacken ein Buchfink, der nicht weiß, was er tut, wenn er singt, so daß ich es hören kann.
Ich sehne mich danach, zu schauen und zu hören und keinerlei Worte zu haben für diesen Augenblick.

Kritzel

Ein Morgen wie ein Buch, in das man nicht hineinfinden will. Schon die ersten Minuten verwirren. Figuren tauchen auf um zwei Augenblicke später wieder verschwunden zu sein. Wenn sie sprechen, tun sie das nicht miteinander. Andere wechseln den Namen. Wieder andere das Gesicht. Die Architektur eines Wohnzimmers erschließt sich nicht, die Landschaft eines Flußtales ergibt keinen Sinn, so vermischt aus Nahem und Fernem sind ihre Merkmale. Ereignisse bewirken ihre eigene Ursache. Stunden werfen mir Namen zu, die sich an keinem Gesicht festmachen. Zurückgebogen in sich selbst, verknäuelt in Schleifen, an den Rändern ins Ungangbare flimmernd, führen die Wege nicht hinaus, nicht hinein, nicht her, nicht hin. Der Blick kann ihnen nicht folgen, fällt aus der Spur, während sie die Dimensionen wechseln.
Mühsam lege ich Wörter aus, klopfe Silben fest, schnüre Sätze zusammen, braue brüchige Stege, die mir diesen fremden Morgen mit Eigenem gangbar machen. Ein Buch, das ich in ein fremdes Buch hineinschreibe. Atemzüge aus Papier. Blicke aus Tinte. Meine Herzschlag: Ein Palimpsest.

Lange Zeit sind die Wörter nach mir schlafengegangen

Die Stimmen waren also verstummt, oder der Knabe schlief darüber ein, wie sie sich entfernten. Jedenfalls muß er geschlafen haben, denn irgendwann war wieder Morgen und das Haus hell. Der Wind kam vom Meer und brauste in den Föhrenwipfeln. In den Wald konnte man weit hineinlaufen und noch weiter hineinsehen. Nadeln brachen unter den Schritten. Moos leuchtete an Schattenrändern, und süße Heidelbeeren. Es gab Pfade und Wildnisse. Von überall war das Haus sichtbar, oder die See, oder der Himmel. Der Wald hatte Sandkrusten, Grenzen, Ränder. Die Stimmen waren verstummt. Der Wind, der in den Wipfeln brauste, er wußte nichts von ihnen. Zur Nacht hatte er gefehlt.

Im Knaben klangen sie noch nach, aber nur mehr als ein Echo. Das ließ sich nicht nachsingen. Das kam falsch heraus, wenn mans versuchte. Das war wie mit „Ein Männlein steht im Walde“, das seine Schnüß nicht so richtig konnte. Und weil das so traurig war und alles, was sich nachmachen und nachholen ließ, auch gar nichts mehr zu tun haben wollte mit jenen anderen Stimmen, ihren Zauber nicht wiederbringen sondern nur weiter entrücken konnte, daß der Verlust noch schmerzhafter fühlbar wurde, versuchte es der Knabe nicht mehr, hoffte nur, die Eltern, die doch alles wußten, hätten es auch gehört, seien ihrerseits am Fenster gestanden und könnten es ihm jetzt erklären, es ihm nachsingen mit ihrer Schnüß, ihn dort hinführen, wo das hergekommen war, es ihm wiederbringen und in seine Hände geben, in seinen Besitz. Doch die Eltern konnten zwar singen wußten aber von nichts. Und der Knabe verstand da zum erstenmal das Versprechen und den Trug, die Machtlosigkeit und die Macht der Sprache; wie schlau sie war, und wie sie den Dingen der Welt nicht entsprechen wollte. Daß es etwas anderes auf sich hatte mit ihr; daß sie nur sich selbst entsprach und aus sich heraus Welten machen konnte, soviele sich nur denken ließen, Welten, in denen Frauen in strahlenden Gewändern und einem Licht in den Händen nachts singend durch einen Wald tanzten, während ein Knabe sich die Nase am Fensterglas nach ihnen plattdrückte: Das sollte er erst viel später lernen, als die Erinnerung an jene Nacht längst selbst nur mehr aus den Worten zu leben begonnen hatte, die er dafür finden würde.

Binnenwandern

Man wandert. Man geht, und schaut. Man trägt seine Blicke irgendwo hin, und, wenn man aufmerksam genug war, Landschaften wieder zurück. Striche Bögen, Wolkenbrauen können festwachsen im Inneren, Wurzeln schlagen im Geist und im Träumen, sich verwandeln, bis davon in der Weltgegend, im Außen, das man erkundete, nur mehr eine Art nüchternen Erkennungsrasters bleibt. Wo man war, mit Füßen, Blasen, Schweiß und zusammengekniffenen Augen, das ist ein Ort, an den man nicht zurückkehren kann. Denn man hat ihn mitgenommen. Nur mehr bei einem selbst existiert er und nur dort hat er Dauer.
Und entwickelt sich. Lebt: So wird es unmöglich, sie wiederzufinden, diese Landschaften, vergebens, sie als das wiederfinden zu wollen, wofür in der Erinnerung zwar eine Art Suchanweisung existiert, die wohl wirklich ein Ergebnis liefert: Nur wäre es stets, wohin es auch geht, das falsche. Denn nicht die Erinnerung bleibt immer ein Stück hinter der wirklichen Landschaft zurück, sondern gerade umgekehrt verhält es sich: Die Landschaft bleibt hinter ihrer Imagination zurück, das Bild, von den die Bögen und den Horizonten bis vors Dickicht, die Brombeeren, das Sternkraut, der Baumstoß vor den eigenen Schuhen, das alles kann die einmal eingewurzelte Vorstellung davon nicht wieder erreichen, und umso weniger, je öfter der Wanderer sich betrachtend durch sie bewegt und den inneren Räumen Nahrung davon gegeben hat.
Wir möchten so weit gehen zu sagen: Die Landschaft existiert ausschließlich in der Erinnerung. Und dort existiert sie auf ihre verträumte, nicht ver- sondern geklärte und doch unklare, wandelbare Weise, voller Bezüge, reich an Verweisen, in sich selbst verschlungen, in fortlaufenden Verschachtelungen fortstrebend, in Kammern gegliedert, die einander enthalten und entäußern und dabei mehr sind als sie selbst, summend von Bedeutungen … So daß man, wenn man einen Ort wieder aufsucht, der einmal jene innere Landschaft ausgelöst und ausgetrieben hat, fassungslos ist darüber, daß da ja gar nichts stimmt.
Eine Landschaft ist im Kopf entstanden, die man in der Welt wiederzufinden sich anschickte; eine Landschaft, die gleichermaßen aus Büchern wie aus Hügeln und Tälern, ebenso aus Geschichten, Gedanken, Hoffnungen, Projekten besteht wie aus Fels, Stein, Weg, Aussichten und Panoramen. Doch die Schwünge und Bögen, die Winkel und die Quellen, die Wege und Strecken der inneren Landschaft sind in der Welt nicht auffindbar, ihnen entspricht dort nichts; sie sind eine Geschichte, während das, wohin man reisen, wodurch man schreiten kann, nur Raum, Fläche und Ausdehnung ist. Und vielleicht begründet sich darauf der Drang zum Schreiben: als eine Sehnsucht nämlich, das Innere ins Außen zu tragen und dort Landschaft werden zu lassen, eine solche Landschaft, die wir schon immer mit uns herumtragen und die wenn überhaupt nur auf dem Papier (und im Geist des Lesers) Wirklichkeit werden kann.

verworren

Ich glaube, für eine wirklich schön verworrene Geschichte ist mein Geist einfach nicht verworren genug. Und verworren sollen sie sein, die Geschichten, heißt es nicht Seemansgarn spinnen? Und verheddern sich die Nornen nicht in ihrem eigenen Faden? Überhaupt, der Faden. Text bedeutet auch nichts andres als “Gewebe”. Dieses mag seine Ordnung haben, in der umfassenden Draufsicht. Aus Sicht eines einzelnen Fadens aber und seiner Umgebung herrscht ein schönes Durcheinander, in dem dennoch alles einander zusammenhält.

Das Unübersichtliche als Aufgabe. Die Kunst, sich selbst zu überraschen. Die Ordnung so gestalten, daß sie unordentlich aussieht. Dafür braucht es nicht einen verworrenen Geist, sondern mindestens zwei.

Die Lieben, die wir schreiben

Den Stunden nachfühlen, ihrem schleppenden Gang. Eselsohren in den Minuten, daß man sie leichter wiederfindet. Die Gleichnisse zerbröckeln, den bedruckten Rest vergestern. Am Fluß, wo du ein Paar warst und ich nicht. In der Bahn, wo der Mut nicht reichte zum Knaben und der Ägypterin, und der Sommer zu groß war für die Zeitungen, die Zukunft zu groß für uns. Schleppender Zunge in den Tag hineingehechelt. So getan, als wäre alles Alles. Dabei war’s schon fast aufgebraucht. Was sollte auch danach noch kommen. Nachschriften. Kommentare zu dem Tag, in dem wir einmal zu Hause waren. Ein verhaltenes Lächeln über einen Tisch, das war schon an der Grenze zu einem ganz anderen Tag. Der nichts mehr davon enthielt. Den wir zu vergestern vergaßen. Erst später, nachdem Jahre geseufzt hatten, erinnerte sich eine Notiz an jenes Gesicht, und es war, als spräche ein verlorengegangenes Ich zu mir selbst. Ach, die Amseln am Abend. Die nie genug bekommen konnten. Die alles hatten.
Neue Namen, alte Wünsche. Spitzen wir die Bleistifte, ziehen wir die Uhren auf, lassen wir die Dämmerung ins Haus. Kehren wir noch einmal zurück zur Zukunft, die uns aus den Augen verlor. Am schönsten sind die Lieben, die wir selbst schreiben.

Noch einmal Nacht. Abgerungen den Glocken des Schlafs. Träume von Hunden und elegischen Distichen fallen dem Wachbewußtsein später wieder ein, da ist die Nacht ohne Halt von den Scheiben gerutscht. Vögel halten sich versteckt, die Kamine haben die Fäuste in den Taschen vergraben. Ein seltener Gott heißt Vergnügen. Die Sprache baumelt von einem buntbemalten Apfelbaum.
Zeit, Feuer zu machen und einen Topf mit Kieseln zum kochen aufzusetzen.

VIA NOVAESIANA 13.9.2011

Schreiben in den Spinnfäden des frühen Morgens. Schreiben gegen diese Spinnfäden. Schreiben und warten. Warten und denken. Das Haus ist still wie ein Tier. Wie nur schlafende Löwen still sein können, alle Kraft und Gefahr in die Träume aufgespult. Die Nacht hockt vor dem Fenster, ihre Klauen am Glas. Und die Worte wagen sich heraus wie schüchterne Mäuse. Wenn man nicht aufpaßt, sind sie gleich wieder futsch. Verhuscht in den Spalten der Müdigkeit.

Arbeitsprotokoll

6:00 Nachrichten und Kaffee laufen. Während ich Wasser nachgieße (die Nachrichten laufen von alleine), fällt mir ein, daß ich mich gestern nach dem Umweg durchs Gebüsch nicht nach Zecken abgesucht habe. Ich hole das nach. Griechenland droht der Staatsbankrott. Interessant, wo man überall Bettfusseln findet.

6:05 Daniel Finkernagel begrüßt die Zuhörerschaft zur Sendung Mosaik. Finkernagel ist einer meiner Lieblingsmoderatoren. Keine Zecke. Kaffee fertig. Tag fängt gut an.

6:07 Erstmal E-Mails checken und Internet-Nachrichten.

6:10 Habe den Eindruck, daß die Mosaik-Sendung über die Jahre immer unruhiger geworden ist. Melancholische Gefühle streifen mich. Ich vermisse Landwirtschaft heute („die Sendung über Lebensmittel für morgen“). Man könnte eine Anfrage an Radio Eriwan machen. Natürlich wäre die Antwort klar: Im Prinzip ja. Aber sowas geht heute nicht mehr. Mir fällt auf, daß es von recht vielen Dingen heißt, sie gingen heute nicht mehr. Wahlweise heißt es auch, sowas könne man heute nicht mehr machen. In der Grundschule die Termini Substantiv, Adjektiv, Verb einführen. Kann man heute nicht mehr machen. Werbung für Zigaretten und Alkohol im Fernsehen zeigen. Kann man nicht mehr machen. Die Kinder unbeaufsichtigt auf die Straße lassen. In der vierten Klasse eine ungekürzte Ganzschrift lesen. Einfache Chemikalien wie Natronlauge oder Salzsäure in der Drogerie verkaufen. Atomkraftwerke bauen. Geht alles nicht mehr. Frische Sprossen im Salat: Kann man heute nicht mehr machen.
Die Menschen werden immer einfältiger, hat man den Eindruck. In ein paar Jahren, male ich mir aus, sagt man im Germanistikseminar immer noch „Tunwort“.

6:20 Zwei Absätze geschrieben. Gewagte Sprache, aber wer wagt, der gewinnt. Kaffee fast leer. Träume von einer zweiten Tasse.

6:30 Kulturnachrichten. Ich habe den Eindruck, daß überall nur gequasselt wird. Das Mosaik setzt sich aus immer kleineren Steinchen zusammen. Ständig wird irgendwo unterbrochen, Design im Dasein, Unfug mit Fugen, Migranten des Wortschatzes, das Radio ist zu einer Kultur der Unterbrechungen und Häppchen geworden, so eine Art akustisches Fingerfood.

6:35 Habe die zwei Absätze wieder gelöscht. Sowas kann man heute nicht mehr machen.

6:39 Jemand sagt, Regisseur A oder B habe einen Film realisiert. Ich bin beeindruckt. Realisiert hat er den Film. Nicht einfach gedreht, was hemdsärmelig, oder gar nur gemacht, was ja schon schludrig wäre, nein realisiert. Das klingt doch gleich ganz anders. Nach Idee, nach Einfall, nach Genie.

6:40 Bin in der Frage, was man heute machen kann, ratlos und realisiere einen Zweitkaffee.

6:50 Was ich schon immer geahnt habe, heute wird es offenbar: Händels Violinsonaten sind belanglos.

6:55 Ich frage mich, was die Macher von Mosaik bewogen hat, als letzte Musik vor dem Journal ein Vokalstück zu spielen. Was soll das sein, eine Erziehungsmaßnahme?

7:09 Noch unverständlicher ist mir, warum seit ein paar Tagen im Journal vor dem Wetter ein Fußballreporter in einer der frühen Stunde absolut unangemessen extatischen Tonfall Spielergebnisse des Vortages zusammenfaßt. Absurd scheinen mir in diesem Zusammenhang vor allem die Stadion-Hintergrundgeräusche. Es wird sich um sieben Uhr in der Früh wohl kaum um eine Live-Einblendung handeln. Nervensäge.

7:10 Kaffeeflash. Habe einen Absatz geschrieben, der mich nicht weiterbringt, und der das Problem, alles Vorformulierte im Plot unterzubringen, nur verschiebt. Ferner die Frage, wo die Erzählerlüge von dem, was in Echt passiert ist, abzweigt. Schwierig, Was ist überhaupt in Echt? Auch darum, fällt mir ein, wird es gehen in dem Roman.
Ein Musikstück wird angekündigt, Finkernagel gönnt sich wieder mal ein improvisiertes Rätsel. Der Komponist wird charakterisiert als ein sehr religiöser Mensch, der eins seiner Werke gar „dem lieben Gott“ gewidmet habe. Einfach! Das ist derselbe, der gegen Ende seines Lebens Buch über die täglich verrichteten Gebete geführt hat.

7:17 Nehme mir vor, über meine Kaffees Buch zu führen. Bruckners Streichquintett ist wie seine Symphonien, nur leiser.

7:30 Auch die Sätze haben ähnliche Spieldauer.

7:35 Kersten Knipp ticht uns frich die Kultur-Presse-Schau auf. Habe noch einen Absatz geschrieben, von dem ich weiß, daß ich ihn wieder löschen werde. Die Gedanken schweifen ab. Ich kann mich nicht konzentrieren. Entweder es fehlt an Koffein, oder ich habe zuviel davon im Kreislauf. Verdammte Sucht.
Gut wäre für die Lügenversion des Erzählers eine ménage à trois, oder die Ankündigung einer solchen. Ein Ereignis, das sich später, wenn die Wahrheit ans Licht kommt, als heimlicher Wunschtraum erweist.

7:43 Dreißig Seiten an der ménage-à-trois-Szee geschrieben. Kurzes Writer’s High. Muß aufpassen, daß die Phantasie nicht mit mir durchgeht.

7:44 Kirche in WDR 3. Zur Einstimmung singt der Troisdorfer Kinderchor den Choral zu vier Stimmen, „Herr Jesus will mich decken“ von Johann Gottlieb Sauertopf. Dieses Salbadern um kurz vor acht könnten sie mal wirklich abschaffen. Und dafür wieder Landwirtschaft heute senden.

7:54 Der Radiowecker schaltet sich zum Glück aus, bevor zum ersten Mal das Wort Gott fällt. Überlege mir, wie es wäre, einen Worterkenner zu haben, der automatisch die Lautstärke dimmt, sobald das Wort Kirche oder Jesus oder Kürzlich erzählte mir ein Freund fällt. So eine Art Kirchenscanner. Das wär mal was.

7:15 Die Phantasie ist mit mir durchgegangen. Habe die 30 Seiten ménage-à-trois-Szene wieder gelöscht.

7:20 Könnte die ménage-à-trois-Szene ja auf dem Blog posten. Haha.

7:25 Kaffee ist aus. Radio ist stumm.

7:30 Cursor blinkt erwartungsvoll.

7:31 Cursor blinkt erwartungsvoll.

7:32 Cursor blinkt erwartungsvoll.

Handelnde Orte

Menschen interessieren mich nicht. Geschichten interessieren mich. Rätsel. Das Unheimliche. Nicht was Menschen tun, sondern was geschieht. Und Orte. Vielleicht ist es deshalb so schwer für mich, beim Schreiben Personen zu formen. Vom Handelnlassen ganz zu schweigen. Motive sind mir selten klar. Trotzdem fesseln mich Geschichten. Obwohl Geschichten ohne Personen, keine Geschichten wären. Spannend finde ich nicht die Menschen mit ihren Ticks, absonderlichen Bedürfnissen, Antrieben oder Ängsten; der Auslöser für den Wunsch zu schreiben, ist meistens der Ort, nicht der Mensch, ist ein Geheimnis, das in einem Ort verborgen liegt, ist eine Atmosphäre, ist eine Erinnerung, die aus einem Ensemble von Begrenzungen, die einen Ort definieren, aufsteigt, eine Erinnerung, die sich anfühlt, als wäre es gar nicht meine eigene. Aber wessen Erinnerung ist es dann? Vielleicht die des Ortes selbst. Das kann ein ganz trivialer, langweiliger Ort sein. Ein Hof. Eine Straßenkreuzung in einem Vorort. Ein öder Kinderspielplatz mit zusammengestürzter Schaukel. Ein Wellblechverschlag. Seine Besonderheit erlangt er durch die Beziehung, die er zu anderen Orten hat, die ihm gleichen, ihn ergänzen, ihm in der Erinnerung vorausgegangen sind, die ähnliche Ereignisse mit ihm teilen, oder die, obwohl ganz anders gestaltet, die gleiche Stimmung ausstrahlen, und ihn damit als Verwandten erweisen. Oft lösen Orte den starken Impuls aus, über sie zu schreiben zu müssen. Es ist etwas an ihnen, das mir keine Ruhe läßt. Sie wollen etwas von mir. Oder sie zeigen mir, daß ich etwas von ihnen wollen muß. Nur warum, das zeigen sie nicht, das muß ich herausfinden. Sie geben mir ein Rätsel auf, das ich nur lösen müßte, um glücklich zu sein.
Noch nie hat mich ein Mensch auf diese Weise in Bann geschlagen. Menschen sind notwendig, man braucht sie und interagiert notgedrungen mit ihnen, doch lieber käme man ohne sie aus. Man müßte also von Orten schreiben wie man von Personen schreibt. Man müßte nicht die Geschichte an einem Ort, sondern den Ort in einer Geschichte spielen lassen. Mit Menschen als quasi statistenhaften Bedingungen und Umständen: als eine Art dynamisches Setting für den wahren Protagonisten, den Ort.

Werkstatt

Noch ein Versuch, abermaliges Umdeuten. Nicht die Erkenntnis über das Wesen der Frau, sondern das abermalige und letzte Scheitern an dieser Erkenntnis bringt die Geschichte zum Abschluß. Auch bei diesem neuerlichen Weiterdenken war alles schon da, Schlußbild, Handlung, Entwicklung, nur, daß es jetzt eine andere Deutung bekommt. Die Frage ist, wieviel Überraschung verträgt so ein Text? Dabei ist es nicht so wichtig, daß der Leser am Ende nicht mehr weiß, was er eigentlich glauben soll. Die Hauptperson weiß es ja auch nicht. Herrgott, ich weiß es nicht! Vielleicht hätte er (und ich) es wissen können, aber das ist ein konjunktivisches Vielleicht. Und deutet eben wieder auf das große Versäumnis: Die augen nicht aufgehabt zu haben in dem Moment, wo das Sehen notgetan hätte.

Esther

Das schwerste beim Schreiben: Die Kunst des andeutenden Verschweigens. Wie sag ich es ohne es zu sagen?
Nun seit vier Wochen mit einem Brief beschäftigt, an dem ich genau in dieser Frage scheitere. Ich darf es nicht aussprechen. Aber darüber hinweggehen darf ich, will ich, auch nicht. Man muß die Zeilen so gestalten, daß man zwischen ihnen lesen kann, den Freiraum so gestalten, daß er bedeutungstragend wird, daß an den flimmernden Rändern von Gesagtem und Nichtgesagtem die Absicht aufschimmert, in einer Weise, die der Empfängerin alle Deutungsspielräume beläßt. Nichts ausspricht. Nichts gesteht. Nichts vorschlägt, schon gar nicht. Aber auch nichts ausschließt, und: Dieses Offenlassen geradezu hinausruft … ein zeichenloses Zeichen … der Verfügbarkeit.

Unendliche Geschichte

Je länger ich mich mit dieser Geschichte beschäftige (man darf sagen: sehr lange), desto mehr wächst sie, wobei sie wahllos neue Gedanken und Möglichkeiten zu ihrer Verzwirbelung an sich saugt und zu verwerten trachtet. Jede neue Krise ihrer Bewältigung war von der Schwierigkeit ausgelöst worden, einen frischen Gedanken, eine bestimmte als magisch angesehene Atmosphäre, eine neue verrückte Konstruktion, eine weitere aberwitzige Verspinnung dem bestehenden Gerüst aufzupflanzen und im bereits ausgesponnenen Textkörper unterzubringen, bis das so aufgeblähte und überkonstruierte Geflecht unter der eigenen Spannung zusammenbrach und ich wieder ganz von vorne beginnen mußte. Tabula rasa, und dann ging alles wieder von vorne los. Ich konnte und kann mich nicht entscheiden. Jeder neue Gedanke ist so bestechend, daß er unter allen Umständen verwertet werden muß. Auch nur einen dieser Gedanken fallenzulassen hieße, in der Geologie der narrativen Räume eine wichtige Bedeutungsschicht auszuklammern, und damit, so scheint es, die Geschichte zu einem bloßen Ausschnitt eines viel größeren, eigentlich zu erzählenden Ganzen zu reduzieren, das dann immer noch zu erzählen bliebe. Wollte man dem erfolgreich vorgreifen, so erwüchse ein Erzählen von wahrhaft kosmischen Dimensionen daraus: Um zu gelingen, müßte es schlechthin alles enthalten, was je über das Scheitern der Liebe zu sagen war.

Lagrange

festgefahren, toter punkt, beim schreiben, beim nicht-schreiben, beim denken gewiß, vielleicht sogar beim träumen. ich kann nicht zwei worte denken, ohne daß sich sofort das gefühl einstellt: da warst du schon einmal. mentales wiederkäuen könnte man es nennen, nur heraus kommt dabei selten etwas. nur wiedergekäutes, das nicht unbedingt, kaut man es länger wieder, besser wird. ich strampele und ziehe und zerre, aber es ist immer das gleiche lied: voraussagbares, neu geordnetes material, tabellarisches.
diesmal hab ich’s, diesmal hab ich’s, diesmal entkomme ich, dachte der hamster im laufrad.

17. An Claudia (6.7.2004)

Heute morgen ist der Himmel ungewohnt tiefblau. Festliches Sonnenlicht hängt in den Bäumen. Schatten spreizen sich träge und schlaftrunken in Höfen und unter Hecken. Die Menschen scheinen langsamer zu gehen als sonst, als hätten sie mehr Zeit heute, und obwohl ihre Mienen mürrisch sind, können sie nicht verhindern, daß das aufgehende Licht in ihrem Auge blitzt. Als achteten auch Motoren und Getriebe das Fest dieses Morgens, sind die vielen Fahrzeuge leise und unauffällig. Der Kaffee duftet herrlich, die Arbeit ist sowieso erträglich. Daß ich dir schreiben darf, an einem Tag wie heute, ist etwas Wunderbares und Frisches, als hätte ich es eben erst entdeckt: Ebenso wie die Blätter der Bäume erst heute auf den Gedanken gekommen zu sein scheinen, das Sonnenlicht so herrlich zu spiegeln und so wunderbar und blitzblank zu glänzen, ja als sei die Sonne heute überhaupt zum erstenmal aufgegangen.

Wie mußt du an einem solchen Tag erstrahlen, frage ich mich, und muß dich sehen, sofort, dringlichst, unbedingt. Noch schöner muß dein Auge den weiten Morgenhimmel wiedergeben; noch duftender deine Haut schimmern im Frischlicht. Noch schöner deine Füße wandeln auf der sich wärmenden Erde.