In einer Anthologie, einem Schulbuch meiner Mutter mit dem Titel „Deutsche Gedichte“, bin ich ihm zum ersten Mal begegnet, als einem, der es verstand, Natur in mir damals völlig neue, wundersame und zaghaft berührende Bilder zu fassen. Ich lernte ihn als einen Meister des Bildes kennen, der mit ein paar Strichen die Stimmung einer Nacht, die Süße eines Frühjahrs, die Leichtigkeit eines Sommernachmittages heraufzubeschwören, festzuhalten, bei ihrem eigentlichen Namen zu nennen wußte. Ich verstand ihn und seinen Blick auf die Welt, so wie ich auch plötzlich ein Bachgemurmel in der Dunkelheit einer Sommernacht auf eine ganz neue Art begriff. Lehrte er mich sehen? Nein, er zeigte mir, was in meinem Blick und meinem Horchen als Verästelung von Wahrnehmungsmöglichkeiten schon eingebettet lag. Er zeigte mir das Innere des Blicks, des eigenen, dessen Vielfalten ich gleichwohl erst viele Jahre später begriff.
Dazwischen verlor ich ihn aus den Augen, ja mich störte seine religiöse Ader, sein Priestertum, seine schwäbische Gemütlichkeit. Daß es auch ungemütlich sein kann mit ihm – auch das lernte ich erst später. Versäumt habe ich es, mich mit ihm näher zu beschäftigen. Von seinen vielen Dichtungen kenne ich nur die allfällig-bekannten. Der heutige Tag soll mir Anlaß werden, meine Neugier auf diesen Dichter, sein Werk, sein Leben von neuem anzufachen. Wer weiß, was er mich noch sehen lehren mag.
Heute jährt sich sein Geburtstag zum 200sten Mal.
Um Mitternacht
Gelassen stieg die Nacht an Land,
lehnt träumend an der Berge Wand;
ihr Auge sieht die goldne Waage nun
der Zeit in gleichen Schalen stille ruhn.
Und kecker rauschen die Quellen hervor,
sie singen der Mutter, der Nacht, ins Ohr
vom Tage,
vom heute gewesenen Tage.
Das uralt alte Schlummerlied –
sie achtet’s nicht, sie ist es müd;
ihr klingt des Himmels Bläue süßer noch,
der flücht’gen Stunden gleichgeschwungnes Joch.
Doch immer behalten die Quellen das Wort,
es singen die Wasser im Schlafe noch fort
vom Tage,
vom heute gewesenen Tage.