Claudia

Ich bin traurig und du fehlst mir; dein Fehlen ist ein lautes Klagerufen und hängt, schwarzes Flattern von Gebetstüchern, in allen Bäumen. Ich möchte nur, daß du da bist und ich dich anschauen kann, schweigend. Und ich fluche auf die Welt, daß selbst dieser kleine Wunsch zu groß ist für sie.

Gestern dachte ich schon, daß es vorbei sei: ich hatte mich müdegefühlt, dachte ich. Du entglittest mir. Ich dachte: es geht auch ohne dich.

Heute ist alles wieder schön und zum Weinen. Ich denke daran, daß uns ein ganzes Leben trennt, unüberbrückbar viele Jahre. Abschiedslärm und schwarzstrickende Auswegslosgedanken sind laut in mir, um mich, fesselnd meine Hände und Füße, meine Schultern verkrümmend, ein Gewebe, so dunkel, daß ich kaum darunter atme.

Einmal kommt ja der Tag, wo alles zerbricht. Ob ich mich entschieden haben muß oder etwas für mich entscheidet, eines wird der Fall sein. Ich wünsche mir, daß es so ausgeht, daß dieser Sommer in meiner Erinnerung schön bleiben wird und ein helles Licht über deinem wiedergerufenen Antlitz liegt.

Tage, nachher (20.8.2004)

Da ist der Ort, umspannt von jungem Ahorn, so früh noch sonnenlos, noch kühl. Radspuren liegen um ihn herum, die sich mit Regenwasser gefüllt haben. Plastiktüten, Flaschen, Zeitungsreste, die von lachenden Stimmen und ruhenden oder feiernden Menschen erzählen, quellen aus dem Mülleimer; Spuren von gestern, Menschen waren hier, haben gelacht und getrunken und gesungen, und wußten nicht, an was für einem hohen Ort sie leichtfertig saßen. Meine Schritte sind noch ganz allein auf der Welt, als ich mich nähere. Leer sind die Wege, die Schatten still, die Morgensonne ungestört. Hier müßte ich jetzt nach links. Ich werde langsamer, drehe den Kopf nach dem Ort hin und meine Füße folgen der Wendung. Vor der Bank bleibe ich stehen. Ich starre das verquollene Holz an, als vermöchten meine Blicke dich jetzt dorthin zu zaubern. Dort saßest du, wirklich und wahrhaftig. Der Ort ist einsam, nicht, weil keine Menschenseele zu sehen ist; nicht weil du hier jetzt nicht bist, sondern weil du hier einmal warst. Ich beuge mich vor und lege die Finger auf das Holz, dort, wo deine Wärme es berührt hat. Es muß doch noch etwas da sein von dir. Es erscheint mir unfaßbar, daß sich das Holz nicht mit Wonne an dich erinnert und etwas von dir aufgehoben hat, um es mir jetzt zu schenken. Damit ich mich daran wärme, bis wir uns wiedersehen. So wie mich der Klang deiner Hand auf meiner Brust, auf meinem Arm, auf meinem Finger tröstet und nachts wachhält. Aber entweder ist der Ort grausam und will nicht, oder er konnte es nicht. Oder der Regen spülte deine Wärme fort von hier, der Wind trug die Erinnerung an dein Lachen davon, die Dunkelheit stahl, was vom Licht deiner Blicke hier vielleicht liegengeblieben war. Meine Finger berühren feuchtkaltes Holz. Ein Zeitungsfetzen raschelt. Über mir rühren sich die Zweige.

Morgen gehe ich einen anderen Weg, nehme ich mir vor, und weiß doch ganz genau, daß ich morgen wieder hier vorbeigehen, wieder die Hand auf das Holz legen, wieder dich oder den Nachhall von dir suchen werde.

Am Morgen nach der Begegnung, 18. August

Messe Wasser mit der Kaffeekanne ab, stelle die mit Wasser gefüllte Kanne auf die Heizplatte der Kaffemaschine, gehe in mein Zimmer und warte gedankenverloren. Nach zwei Stunden Grübelns erinnere ich mich an den Kaffee und ziehe eine Kanne heißen Wassers aus der Maschine. Irgendwas stimmt nicht. Ach so. Ich zähle Kaffeelöffel in den Filter, eins, zwei, drei … als der Filter voll ist, bin ich bei 28. Na gut, ich wollte schon immer mal wissen, wieviele Kaffeelöffel in so einen Filter passen. Das wäre dann also experimentell bestimmt. Dann 20 Löffel wieder herausgeschabt und das Wasser in die Maschine gegossen, das sich, explosionsartig erwärmt, mit Geräuschen, die an den Zahnarzt erinnern, durch die Schläuche preßt. Bleibe diesmal vor der Maschine stehen, bis das von Geräuschdesignern entklungene Gegurgel mir anzeigt, daß alles durchgelaufen ist. Schalte die Maschine aus. Hole mir eine Tasse aus dem Schrank. Entnehme den Kaffeepott der Maschine, zögere. Was wollte ich noch gleich? Ach ja, Kaffee machen! Öffne die Klappe der Wasserzufuhr und gieße den Kaffee in die Maschine. Beklommenes Starren in das ölige Dunkel des Wasserbehälters. Der Meßschwimmer steht in der schwarzen Flüssigkeit auf „3“. Ich löse den Blick und beäuge argwöhnisch die immer noch leere Tasse. Irgendetwas stimmt hier doch nicht. Aber was?

Man sollte Liebenden nicht die Handhabung komplexer Maschinen überlassen. Zumindest nicht unbeaufsichtigt.

Zwei Stunden später: Habe mir in einem Aquariumsgeschäft einen Gummischlauch besorgt. Tauche den Schlauch in die Maschine und den Kaffee, sauge an, gehe mit dem Schlauch an den Lippen und der Zunge in der Schlauchöffnung in die Hocke, wechsle Zunge mit Daumen und tauche dann rasch das Schlauchende in die auf dem Boden stehende Tasse, so daß die Erdanziehung die Flüssigkeit auf dieser Seite des Schlauchbogens nach unten aus dem Schlauch heraus und infolge des bekanntlich in der Natur herrschenden Horror Vacui auf der anderen Seite scheinbar im Widerspruch zu aller Erfahrung durch den Schlauch nach oben und so aus der Maschine durch den gebogenen Schlauch in die auf niedrigerem Energieniveau ruhende Tasse strömen läßt. Zufrieden, in meinem angeknacksten Zustand die Naturgesetze so trickreich zu meinem Vorteil genutzt zu haben, schlürfe ich den mit einem nur ganz leichten Plastikaroma verfeinerten Kaffe.

In meiner derzeitigen Gefühlsverfassung ist ein Teebeutel vielleicht die bessere Wahl.

Ach, Claudia, was machst du nur mit mir?

Sonett an Chronos

Verklungner Orgelton noch wächst im Hellsein,
in das er fiel. Im Schweigen werden reif
die Worte schönen Lieds. Ein Lippenstreif
will lang auf unsrer Haut noch grell sein.

Nach unsrem raschen Abschied mag das Schnellsein
des Händedrucks uns lange noch verwirrn.
Das Lächeln brennt noch hinter unsrer Stirn,
und könnte unsrer neuen Liebe Quell sein.

Was nicht ist, will uns oft noch größer werden.
Was stumm ward, klingt uns lauter in den Ohren.
Und Fehlen kann sich heftiger gebärden,

als frisches Dasein. Und dies ist das schlimme,
daß wir das fehlend Mächtige verloren,
wenn schales Dasein schließlich hebt die Stimme.

An Claudia. Sonntagnachmittag

Ich setzte mich in den Park zwischen die Wege, auf denen Du ein paar Tage vorher gegangen warst, und suchte das Licht nach Deinen Spuren ab, das Gras, ob es sich nicht an Deine Füße, die Mehlbeeren und Birken, ob sie sich nicht erinnerten, daß ihr Schatten an jenem Sommermorgen Deine Schultern, Dein Haar gestreift hatten. An jenem Tag, da Du auch nach mir Ausschau hieltest, wie ich jetzt Deiner vergangenen Anwesenheit, Deinem Hauch nachlauschte. Ein Kieselstein war fortgerollt, ich sah es genau; hatte Dein Fuß ihn berührt? Irgendetwas mußte doch noch da sein von Dir, ein kaum zu erahnender Widerstand gegen das Licht, eine Einkerbung und Spur in den Sonnenstrahlen, die Dein Körper oder Dein Gedanke in den Raum gefurcht hatte. Oder vielleicht ein Duft von Dir, schwebend über dem Staub und schwer zu zerwehen.

Ach, könnte ich selbst eine Spur für Dich hinterlassen und in diesen lichstimmenvollen Sonntagmittag legen. Daß Du mich merktest, wenn Du das nächste Mal in den Park kämest: Einen Schweißhauch, ein Atemgeräusch, ein Augenzwinkern, gespiegelt in einer Pfütze; oder daß meine Gestalt sich der Luft aufpräge und Du mich streifen würdest und fühlen, wie Du durch die allerleiseste Verwirbelung gleitest. Und daß Du etwas dagebliebene Sehnsucht aus meinen suchenden Augen auffingest.

Oder aber in einen Baum wollte ich mich verwandeln, in den Gliedern keine andere Sorge als um Wasser und Sonne, und manchmal die Wonne des leichten Erderzitterns, wenn Du unter meinen Zweigen vorbeikämst. Was für ein Baum würde ich? Ein Ahorn mit seinem frühen Blühn und den gelben Dolden, von den Amselherolden angekündigt? Eine milde Birke, schlank, schön und die Helle zwischen ihren Blättern hin und her werfend? Oder aber eine dunkle Eibe, die der, die in ihrem Schatten schläft, Träume aufgibt und Rätsel.

Schwabbeln

Weils mich schon lange beschäftigt, und mal gesagt werden muß: Es ist schon erstaunlich, daß ausgerechnet diejenige Hälfte der Menschheit (zumindest dort, wo die Menschen genug zu essen haben) sich Sorgen um den eigenen Leibesumfang macht, die sich am wenigsten sorgen müßte – denn weibliche Attraktivität wird von einem bißchen Fleisch mehr auf den Knochen nur unterstrichen, ja, gesteigert, während dies für Männer kaum gelten dürfte. Bei Frauen ist das allseits gefürchtete zuviel eigentlich ein genau richtig. Quellen soll es und schwellen, und schwabbeln und wackeln, so ist es schön. Wem gefällt denn ein Bündel hautumspannter Knochen, jetzt mal ehrlich, wem gefällt das? Und wer hat sich ausgedacht, daß Hungerdürre schön sein muß? Ich verstehe diese hysterische Anbetung der Magerkeit nicht, die derzeit, und nicht erst jetzt, allerorten zelebriert wird. Hat das nicht etwas hochgradig Ungesundes? Ja, ist es nicht gar ein Ablehnen dessen, was Weiblichkeit gerade ausmacht, nämlich, nicht zerkantet und sehnig, sondern rund und voll zu sein? Pulchra enim sunt ubera quae paululum supereminent et tument modice … Abgesehen davon, daß es offener Zynismus ist, die Folgen des Vorzugs zu bejammern, daß man sich täglich mehr als sattessen kann, während auf der anderen Seite des Globus Mangelernährung und Hungertod an der Tagesordnung sind: abgesehen davon also mögen Menschen wie Frau Schiffer in einem abstrakten Sinn „schön“ sein – doch in ihrer Klapprigkeit zum Gähnen unattraktiv.

An Claudia

Du bist fort, und es ist etwas von diesem Sommer abgezogen, was ihn so viele Wochen lang herrlich machte. Leer ist nun das Getöse des Winds in den Pappeln, leer die Geschäftigkeit der Menschen, leer und ohne Hoffnung das Gehen, das Stehenbleiben, das Denken, das Betrachten. Die Luft selbst ist ohne Widerstand, das Licht wird von ihr nicht getragen, es gleitet kalt durch das Blattwerk, glitzert auf den Gewitterpfützen, ist schon verloren, lange, bevor es Abend wird. Ach, Claudia, wie kann es sein, daß du alles in deinen Händen hieltst? Daß aus deinem Wirken und bloßen Dasein ein ganzer Sommer enstand und wuchs und leben durfte? Ohne dich bleibt nur eine Hülle aus Sonnenschein, eine abgestreifte Haut Wind, eine Maske Blütenduft. Es ist August, aber dieser Monat ist nur noch Rest. Vor dem Herbst und dem Dunkel, das ohne dich und das Hell deiner Augen und die Stütze deines Scheitels zermalmend schwer sein muß, vor diesem Dunkel graut mir. Ach, Liebste …

im Radio

Ein Zen-Schüler fragte einmal einen Meister, ob ein Hund Buddha-Natur habe.
Der Meister verneinte.
“Hast du Buddha-Natur?” fragte der Schüler weiter.
“Nein”, antwortete der Meister.
“Aber jeder Mensch hat doch Buddha-Natur”, rief der Schüler verwirrt.
“Das ist richtig”, entgegnete der Meister. “Aber ich bin nicht jeder Mensch.”