Wutimbauch

Töpfe klirrn, Schranktürn krachn zu, der Spülschwamm seglt, Spülnaß verschleudernd, ins Beckn, Tassn und Gläser scheppppern aneinander, das Handtuch klatscht mit Wucht und feuchter Wonne auf den Stuhl.

Scheiße.

Und ich merke, wie es sich langsam, aber stetig in mir zusammensammelt, das Himmelarschundzwirndonnerwetter, und wie ich so richtig und aufrichtig und geradeheraus stinkwütnd werde auf dies und das und auch jenes. Am meistn vielleicht auf mich selbst, daß ich Idioooot wieder einmal so unsäglich dumm war, blindlings und tapfer in die schönstn Hoffnungn hineinzusegln, ohne zu sehen, ohne zu fragn, ohne überhaupt irgendetwas wahrzunehmen außer meiner eignen Faszination, meinem eignen selbstbezüglichn –

Gefessltsein.

Ich will schon zu einer Replik ansetzn (Stoff gäbs genug), da kommts mir plötzlich unsäglich albern und kindisch vor. Und wie immer bei solcher Gelegenheit verkrieche ich mich in mein Schnecknhaus, heuchle Milde und Gleichgültigkeit, tue distanzierter als ich bin und halte mal wieder meine Klappe.

Alles andere wäre sowieso peinlich und dem ohnedies schon erheblich angeknack–stn Selbstwertgefühl in allehöchstem Maße –

abträglich.

Vorlesen

Etwas, das mir geblieben ist aus Kindertagen. Das Entzücken, eine Geschichte zu hören, eine Geschichte vorgelesen zu bekommen. Dem Unmittelbaren des Stromes von Wörtern und Sätzen ausgesetzt zu sein, die eine echte Stimme formt … und keinerlei Kontrolle zu haben über Geschwindigkeit und Pausen, ganz der eigenen Aufmerksamkeit anheimgegeben und vertrauend: Wieviel echter war das, als es das Lesen heute ist. Wie groß dieser Bann doch war, kaum daß die magischen Eingangsworte aufklingend ihren Zauber zu verströmen begannen … Und wieviel kunstvoller, weil entfernter, weil entrückter, weil traumhafter, als es ein ähnlich uneingreifbares Medium, der Film, je sein könnte. Manchmal noch geht es mir heute noch so, daß ich einen Text erst dann richtig zu schätzen lerne, nachdem ich ihn gehört habe.

Ohrwurm

Geht mir jetzt schon den vierten Tag im Kopf herum. Wispert zwischen den Schläfen. Läßt sich nicht abschütteln, überdecken, tilgen, wegreden, ablenken. Ist da und summt.

θα κεράσεις απ’το μέλι των ματιών σου

In die Räume Risse Ruhelosigkeiten hinein bleibt nur: Antwortworte verketten und weben und mir erflüstern und vorsagen, und hoffen, daß die Tage anders werden.

Auf einem Friedhof entdeckt. Da stehen wir, lesen und staunen in die Sonne hinein. Das ist mal wieder tiefschön und wundertraurig. Jede Bemerkung wäre überflüssig gewesen. Leider war ich leichtfertig und ein Knittern kam durch den Augenblick. Trotzdem … trotzdem was?

Trost

Unsterblich duften die Linden –
was bangst du nur?
Du wirst vergehn, und deiner Füße Spur
wird bald kein Auge mehr im Staube finden.
Doch blau und leuchtend wird der Sommer stehn
und wird mit seinem süßen Atemwehn
gelind die arme Menschenbrust entbinden.
Wo kommst du her? Wie lang bist du noch hier?
Was liegt an dir?
Unsterblich duften die Linden. –

(Ina Seidel)

Nachmittag

Die Sonne schneit ein vorletztletztes Mal auf Gräber. Licht zerwühlt Gelblaub. Blätter schlürfen an den Schritten. Leere Gießkannen stehen in blauer Einsamkeit, starren ins nadelgeschmückte Wasser, woraus ihnen ihr Spiegelbild traurig entgegensteigt. Schwarzgekleidete Trauer wartet hinterm Tor: Doch Lachen fegt alle Stille hinweg, und das Licht darf jubeln und willkommen sein. Alles ist nah und betastbar. Alles ist Jetzt und will den Augenblick sprengen. Vorher ist Nachher ist wieder vorher, ehe sich alles in einem Wirbel verabschieden darf und als Erinnerung Schönheit wird. Die Gräber umkreisen sich. Die Blicke verstecken sich bald, bald springen sie umeinander wie junge Hunde. Und da ist plötzlich schon immer alles ganz einfach. Überall lächelt es. Und die letzten Fremdheiten trugen die Marienkäfer fort nach Nimmerland.

Ein Streif und eine Berührung unter Wolle hier und Wolle da. Schritte laufen aufeinanderzu nebeneinanderher. Nichts war vorher, und die Stunden haben den langsamen Schwung ihrer Herzen eben begonnen.

Schlampermäppchen

Gerade beim Stöbern in verschiedener Autoren Mottenkisten hier fündig geworden. Ich lese das Wort, stutze, und dann verstehe ich, und eine verschüttete Welt öffnet sich. Ein einzelnes Wort führt mich zurück in eine tintenbekleckste Holzbank. Ich habe Sand in den Sandalen und Filzstiftkleckse an den Fingern, und die Hefte und Stifte und Bücher duften fremd und aufregend und ein bißchen gefährlich. Frau Mayer-Ullmann dirigiert, und 30 Kinderkehlen plärren: „Auto fahren, Auto fahren, heute wolln wir Auto fahren“ Eine neue Seite vom „Fehlerteufel“. Eine neue Seite im Lesebuch, groß und bunt und zur Eroberung freigegeben, wie ein fremdes Land. Hefte, Ordner, rauschendes, glattes, sinnlichweißes Papier, Plastikumschläge, Schulranzen. Und: ein Mäppchen. Man kann es aufschlagen, und darin schimmern, wie Schmuckstücke auf Samt, Stifte, Füller, Radiergummi, sogar ein kurzes Lineal.

Eigentlich langweilig. Ich weiß nicht mehr, wo ich dann das andere zuerst sah, wer es hatte, wem es gehörte, wer es haben durfte, das verruchte Ding, die Verführung zur Sünde, der Feind jeder blitzenden Ordnung, herrlich und wild und viel schöner als der öde aufgereihte Schmuck der Stifte. Wie konnte ich das vergessen! Der Inbegriff aller Arten, seine Stifte zusammenzuhalten. Die ungestillte Sehnsucht meiner ersten Schuljahre und laut den Erwachsenen Anfang aller Verwahrlosung. Schlamperei eben. Was für ein schönes Wort: heute, wo ich eines habe, ohne verwahrlost zu sein, hätte ich gar keinen Namen mehr dafür gehabt. Jetzt weiß ich ihn wieder.

Das Schlampermäppchen!

Traum vom Weltuntergang

Es hatte sich angekündigt. Etwas war geschehen, auch wenn man noch nichts davon merkte, nicht sogleich, etwas Endgültiges, war geschehen oder geschah gerade irgendwo, oder würde zwangsläufig, unausweichlich, geschehen. Keine Massenpanik, keine Flüchtlingsströme, keine Plünderungen, keine Aufrufe zur Umkehr, zum Sündenbereuen. Alles geht seinen Gang. Gleichzeitig ist alles anders, verschoben, falsch, alsobnichtswäre. Eine Kulisse? Dumpfe Angst, eigentlich eher das Gefühl, jetzt alles aufgeben zu müssen. Nicht der Tod steht bevor, sondern eine gräßlich veränderte Welt.

Später ein glühender, hitzewabernder Ozean. Daraus steigen glutflüssige Stränge zitternd und langsam, wie Schlangen oder Schleimpilze aus Öl, empor. Tropfen lösen sich aus der leuchtenden Masse, ein gelbliches Magma. Der Ozean kocht. Über dem Gezitter der aufstrebenden Fäden flimmert Glutdunst. Dunkler Himmel, violett, fast schwarz. Es ist ganz still, eine schweigende Hölle.

Später im Wasser. Ich schwimme. Da sind noch andere Menschen mit mir. Rotbraune Flächen aus irgendeiner Säure schwappen träge auf der sanften Dünung. Jemand sagt, daß es Säure ist. Ich weiß nicht, ob ich es berührt habe. Ich spüre nichts.

Dann an Land. Ein felsiges, kahles Ufer. Ich klettere barfuß über Klippen. Andere Menschen sind auch da. Überlebende? Da liegt ein Stein mit so etwas wie einer Inschrift. Ich freue mich. Irgendeiner lacht aber wütend über mich, will den Stein, den Text darauf, weghaben. Für mich ist er ein Überbleibsel, eine Erinnerung, eine Hoffnung. Ein Bewahren. Der andere weist mich ruppig darauf hin, daß das ein christlicher Text sei, in einem Ton, der mir sagt, daß mir das doch klar sein müsse. Und wirklich, da ist ein Symbol, ein Fisch? Ein Kreuz?

Später wieder die Kulisse. Ein Reisebüro. Die Welt gleichzeitig vor und nach dem Weltuntergang. Oder der Weltuntergang des einen Traumes stiehlt sich heimlich in den nächsten Traum, und bildet einen düsteren Hintergrund. Ich will verreisen, gleichzeitig ist mir klar, daß es Wahnsinn ist, jetzt ans Reisen zu denken. Am selben Tag will ich fliegen, nach Griechenland. Aber es ist alles ausgebucht, kein Hotelbett mehr frei, den ganzen August. Aber ich will ja kein Hotelbett, ich will nur den Flug. Nein, sagt man mir und sieht nicht einmal zu mir hin dabei, auch Flüge gebe es keine mehr. Da beschließe ich mit schwacher Hoffnung, zum Flughafen zu gehen und es dort zu versuchen. Ich verlasse den Schalter des Büros und zwänge mich unter enormen Schwierigkeiten mit meinem Gepäck durch eine sperrige Glastür.

Den reisenden Eltern

Das Haus erwacht, wenn alle Stimmen ruhen
und eigene Gedanken läßt es weben.
Dem Schlüsselklappern will es widerstreben,
und jeder Raum zuckt fort von fremden Schuhen.

Der Dämmerflur hängt voll von Katzenblicken
die starren leer und spiegeln euer Fehlen.
Ihr Glanz im Dämmer schwebt, indes die Kehlen
der Amseln stehn voll Gold. Die Stunden ticken

in ihrem Sarg aus Zeit. Die Uhren zeigen
auf tote Augenblicke, die sich mehren.
Der Ahorn brennt. Im Grase faulen Feigen.

Dem Dielenspiegel les ich ab die Leeren
die ihr uns daließt, Taubsein, Ruß und Schweigen
und andre Geister, denen ich muß wehren.

Trennung

Als ich zuletzt in dieser Wohnung war, leuchtete unten hellrot der Baum.

Es war alles anders. Nicht ich war derjenige, der Schmerz zugefügt hat. Diesen Schmerz tragen wir beide, und zu ändern ist da nichts. Es tut mir jetzt zwar weh, aber immerhin bin ich nicht der Bösewicht und Schmerzbringer, und niemand haßt mich oder ist befreiend-wütend auf mich.

Trotz all der Ichweißesnichts, die gestern zwischen uns hin- und hergingen glaube ich, sie weiß es ganz gut. Und ich eigentlich auch. Nur ist mir das alles merkwürdig zuvorgekommen. Und schlimm für mich ist, daß es nicht die Beziehung ist, an die ich nicht mehr glaube, oder die ich als unspannend oder ausgelaugt empfinde, sondern nur ein Klitzekleines, wenngleich sehr Wichtiges, wo ich Mangel fühle; sie aber ist vollkommen glücklich in diesem Klitzekleinwichtigen. Dort wo ich unzufrieden bin, ist sie beglückt. So daß sich unsere Zweifel an uns aus zwei ganz unterschiedlichen Quellen speisen. Und für mich ist es jetzt so, daß gerade das, was warm und stark in mir ist, unerwidert bleibt. Und ich fühle mich, obwohl ich es doch war, der verlassen wollte, jetzt selbst fürchterlich verlassen.

So fühlt es sich also an, dachte ich, so fühlt es sich an. Am Bahnhof langes händeringendes Warten, der Zug hatte Verspätung, dann kam er, dann stand er eine halbe Stunde und hatte „technische Probleme“; ich stand im überfüllten Gang und litt; es hieß, dieser Zug werde jetzt abgerüstet, und das Erlöschen des Lichts bedeute keine Gefahr. Ich dachte, daß das jetzt zum Lachen sei. Statt dessen dachte ich an E.s Lachen, an Vergangenes, das jetzt Geschichte war, Fahrten in die Eifel, Abende zu zweit, Kekskrümel im Bett, Kuchenbacken, Aufderterrassesitzen, Weisenkindervonnebenanbeobachten. Mir wurde mir ein bißchen übel. Dann ging das Licht aus, dann wieder an, und dann knirschte es laut im Zugdach, und dann gab es Hammerschläge, die sicher auch keine Gefahr bedeuteten, aber es gab keine Durchsage mehr, und dann ertrug ich es nicht länger und stieg aus. Wartete unschlüssig, immer und immer mit dem rohen Wüten in meiner Brust, während sich die Fahrgäste nicht entscheiden konnten, ob sie den nächsten Zug nehmen sollten oder weiter warten, und ein- und ausstiegen, bis der Zugführer einen Brüller losließ, man wolle jetzt abfahren, rein oder raus!. Plötzlich entschlossen ging ich fort. In mein Institut, dort noch ein Telephongespräch, danach war es viel besser. Später noch zu ihr, wo wir einen keuschen Abend mit noch mehr Gespräch verbrachten.

Es ist leichter jetzt. Aber die Unmöglichkeit ist schwer zu ertragen. Ich sehe aus dem Fenster, ehe ich, ich weiß nicht für wie lange, gehe. Blätter wirbeln wie Geistertiere über den Platz. Ersterben, bleiben liegen, regen sich wieder. Der Baum hat all sein Laub verloren in der Woche, in der ich nicht da war. Ich spüre mein Herz schlagen. Es schlägt und schlägt und schlägt, und es erscheint unbegreiflich, daß es jemals damit aufhören könnte. Und plötzlich bin ich sicher, daß der Baum da unten längst wieder frisches Laub haben wird, wenn ich das nächste Mal hier bin.

Morgengrauen

Der Tag will nicht. Das Licht klebt an der Nacht fest. Die Bäume schauern so leise, als wolle es gleich wieder dunkel werden. Ich bin nicht sicher, ob ich das schlimm fände. Im Zimmer ist es still, obwohl das Radio läuft. Der Gedanke streift mich, daß seit zwei Wochen die ersten Nachrichten des Tages stets das Wort „Anschläge“ enthalten. Bis auf diejenigen Nachrichten, die das Wort „Sozialreformen“ enthalten. Der Gedanke stört mich nicht. Er taucht wieder weg. Musik erklingt, die als Kammermusik von Max Reger angesagt wurde, aber so klingt, als sei sie von Schumann, vielleicht Mendelssohn. Ein weiterer Gedanke taucht auf: Was geht wohl hinter den Kulissen vor sich, wenn ein Musikstück falsch angesagt oder zur richtigen Ansage das falsche Stück aufgelegt wurde? Panik? Hektisches Herumsuchen in den CDs? Herzklopfen? Oder gelassene Heiterkeit? Und wie löst man das Problem der Verzögerung, wenn die Sendung doch bis auf Sekunden genau ausgetüftelt war? An dieser Stelle überkommt mich der Verdacht, daß meine Gedanken mir selbst zu schwierig sind. In den Scheiben ist wenig vom Hof zu sehen, nur mein Spiegelbild, wacher als ich selbst es bin, mir fremd, so fremd, als hätte dieses Gegenüber schon alles gelöst, alle Fragen beantwortet, die sich mir stellen, alle Wege schon klug beschritten, und warte jetzt auf mich, daß ich sie auch gehe. In den Scheiben sehen die Wände durchsichtig aus. Trotzdem scheint das gespiegelte Zimmer kleiner. Aber gemütlicher, überhaupt mehr wie ein Zimmer, wie etwas Wohlfühlbareres als das echte.

Als gebe es da draußen, in einem Raum, der nicht existiert, ein echteres Leben mit einem echteren Ich, das ein wahreres Leben führt als ich selbst.

?

Der Nachteil von spontanem Handeln ist: Man fragt sich hinterher stundenlang, ob es nun richtig war.

Der Nachteil von nicht-spontanem Handeln: Man fragt sich vorher und hinterher stundenlang, ob es nun richtig war.

Ein leiser Brandgeruch wie von Lagerfeuern läßt den Ort wiedererleben: ein kleiner Campingplatz in den Waliser Bergen, an einen Moränenwall mit tosendem Gletscherbach geschmiegt, im Schatten mächtiger Berge, unweit blauschillernden Eises. Gerüche hüllen mich ein, Fichtenzapfen, Harz, die Kühle, die vom Eis herabweht. Der Feuergeruch, so einer, wie damals aus den vielen Lagerfeuern des Platzes aufstieg und die abendkalte Luft würzte, wo immer ich ihn heute wahrnehme, reicht aus, mich zu entführen, und sogleich wandle ich wieder im lieblichen Ithilien, begleite edle Könige und tapfere Königstöchter in die Schlacht oder folge kleinen Helden über unwegsame Pfade, sehe den blütengekrönten Steinkopf des Königs vom letzten Sonnenstrahl getroffen werden; ich blicke auf zu den düster drohenden Gipfeln des Ephel Duath, zu den Wachfeuern entlang der Hänge der Ered Nimrais; höre den Anduin an den Stromschnellen brausen; blicke mit Gänsehaut von Osgiliath über den Strom in die Länder jenseits …; Namen und Orte tauchen auf und verzaubern mich aufs neue, dunkle und schöne Namen, Namen, die von Anmut und Herrlichkeit, solche, die von Verderben, Haß und Zerfall sprechen: Mindolluin, Minas Ithil, Ephel Duath, Cirith Ungol, Orodruin, Henneth Annûn …

Es ist nicht einfach mein Lieblingsbuch. Es ist ein Buch, dem ich viel verdanke. Nicht allein so ephemere Dinge (die damals gleichwohl bedeutend waren) wie meine Lateinnote, die sich nach den Sommerferien von einer äußerst knappen vier auf eine bequeme zwei besserte (es muß für meinen Lateinlehrer eine Wahnsinnsfreude gewesen sein; er gehörte zu denen, die die Hoffnung nicht aufgeben); nein, Wichtigeres stand auf dem Spiel: Hätte ich die in mir schlummernde Liebe zur Sprache je entdeckt? Hätte mir nicht ohne die frühe Entdeckung dieser Liebe ein eigenes Territorium, ein Rückzugsgebiet, ein Stolz gefehlt? Womit hätte ich ohne diese gegen alle Unbill schützende Begeisterung die schwierigen Jahre der Schulzeit, des Heranwachsens überstehen sollen, ohne Schaden zu nehmen? Auf welches Ureigene, mir nicht Absprechbare hätte ich mich berufen sollen, wenn ich meinen Sprachenfimmel nicht gehabt hätte? Auf welches Abgrenzungsmittel und Gegengewicht? Was hätte ich der Macht der Konformität (die nie meine Konformität war) entgegenzusetzen gehabt? Und hätte ich wohl ohne dieses Buch je das studiert, was ich dann später studiert habe? Wenn ich es nicht in einem Alter gelesen hätte, in dem sich viele Weichen stellen, ohne daß mans da schon ahnt: Ich wäre heute wohl nicht da, wo ich jetzt bin. Mein Leben wäre vermutlich völlig anders verlaufen.

Damals war es einfach nur ein spannendes Buch unter vielen spannenden Büchern, dessen wahre Bedeutung, dessen katalysatorhafte Wirkung auf mich mir nicht sogleich klar war, da es, abgesehen von der Lateinnote, erst später Früchte trug. Ich verschlang es, ohne viel darüber nachzudenken, wie ich so viele Bücher verschlang damals.

Heute treten mir sofort die Tränen in die Augen, wenn ich meine Lieblingsstellen wiederlese. Ich weine herzhaft, wenn Éomer seine bewußtlose Schwester auf den Pellenorfeldern findet. Ich heule wonnevoll, wenn die Wolken über dem belagerten Minas Tirith aufreißen und der Hahn den Morgen begrüßt. Ich vergieße wehmutsvolle Tränen, wenn es heißt, Abschied zu nehmen und das Schiff losmacht, hinausgleitet von den grauen Anfurten und langsam im Nebel verschwindet. Ich kann dieses Buch nicht mehr anders als mit tränenfeuchtem Auge zuklappen.

Es wird immer einen Ehrenplatz in meinem Bücherregal haben.

And Éowyn looked at Faramir long and steadily; and Faramir said: “Do not scorn pity that is the gift of a gentle heart, Éowyn! But I do not offer you my pity. For you are a lady high and valiant and have yourself won renown that shall not be forgotten; and you are a lady beautiful, I deem, beyond even the words of the Elven-tongue to tell. And I love you. Once I pitied your sorrow. But now, were you sorrowless, without any fear or any lack, were you the blissful Queen of Gondor, still I would love you. Éowyn, do you not love me?”
Then the heart of Éowyn changed, or else at last she understood it. And suddenly her winter passed, and the sun shone on her. “I stand in Minas Anor, the Tower of the Sun,” she said; “and behold! the shadow has departed! I will be a shieldmaiden no longer, nor vie with the great Riders, nor take joy only in the songs of slaying. I will be a healer, and love all things that grow and are not barren.” And again she looked at Faramir. “No longer do I desire to be a queen,” she said.
Then Faramir laughed merrily. “That is well,” he said; “for I am not a king. Yet I will wed with the white Lady of Rohan, if it be her will. And if she will, then let us cross the River and in happier days let us dwell in fair Ithilien and there make a garden. All things will grow with joy there, if the White Lady comes.”
“Then must I leave my own people, man of Gondor?” she said. “And would you have your proud folk say of you: ‘There goes a lord who tamed a wild shieldmaiden of the North! Was there no woman of the race of Númenor to choose?’”
“I would,” said Faramir. And he took her in his arms and kissed her under the sunlit sky, and he cared not that they stood high upon the walls in the sight of many. And many indeed saw them and the light that shone about them as they came down from the walls and went hand in hand to the Houses of Healing.

E. kommt nach Hause

E. kommt spät von ihren Eltern zurück. Geht ins Bad, poltert darin ausgiebig herum, Nägelknipsen, dann Duschwasser. Dann noch mehr Poltern, Handtuchrascheln, Zähneschrubben.

Endlich neben mir. Zerknüllte Stirn, die geschürzten Lippen, von denen abzulesen ich gelernt habe: die Aufgewühltheit, den Kummer, etwas stimmt nicht.

Stille Tränen sammeln sich im Augenwinkel. E.s Brauen sind zusammengezogen. Eine Träne tropft über die Nase aufs Kissen. Braucht dafür quälende Ewigkeiten. Es ist das stille Weinen, das ich schon kenne, das mich nicht mehr aus der Fassung bringt, das sie ab und an braucht, auch wenn es schon lange nicht mehr war. Nur daß ich jetzt sofort zu bestimmten Gedanken hüpfe, wie seit langem. Ahnt sie etwas? Ist es jetzt soweit? Und wieder einmal verfluche ich mich, so lange geschwiegen zu haben. Alle wirbeligen Ereignisse der letzten Wochen und Monate schießen im Kopf hin und her.
Eine zweite Träne. Ein trauriges Lächeln. Noch eine Träne. Naseschniefen.

Endlich der Satz: „Ich muß mal ein bißchen allein sein“

Sieht gerade so aus, als würde ein schwerer, und wohl notwendiger Entschluß, zu dem ich mich nicht habe durchringen können, plötzlich für mich gefällt. Erleichterung? Es tut weh. Damit habe ich nicht gerechnet. Plötzlich sind alle Räume kalt und leer um mich herum. War der Himmel gestern auch schon so blank?

Dies war …

Dies war wohl der letzte Sonnentag, ehe es nun Winter wird für lange. Schon sammeln sich Wolken, greifen Licht aus dem Himmel, verstecken die Farben, löschen den Glanz aus den Augen der Amsel; Schatten fallen übers verspätet nachträumende Grün der Bäume her wie gefräßige Geister, und die Zweige wellen sich silbrig in der Brise, schütteln das Licht aus dem Laub und warten auf Regen.

Herbst

Heute plötzlich das getragene, schwermütige Schreien der Vögel; ich sehe auf, und da sind sie, in langsam sich verschiebenden, pfeilförmigen Formationen flattern sie, immer und immer schreiend, über die Dächer, unter den grauhängenden Wolken, fort und dahin, mit unruhigem, müdem Schalg, als müßten sie das Fliegen nach langer Rast erst wieder lernen. Es ist merkwürdig still, hier unten, wo die Menschen dableiben und morgen wieder ihren rätselhaften und doch so langweiligen und albernen Beschäftigungen nachgehen. Über ihnen aber verhallt der Ruf der Vögel in der Ferne, und der Himmel sieht mit einemmal sehr leer aus, und weit, als könne er nichts mehr schützen, und als beherberge er erst recht keine Träume mehr.

Begegnung

Freitag letzte Woche nach Empfang einer gewissen E-Mail Heiterkeit in Bauch und Augen, die trieb mich hinaus, die ließ die Füße laufen; geschwind ging es über den Kreuzberg, zum Friedhof, am Grab Jennifer Helds vorbei, wo ich kurz stehenblieb, wie ich es immer tue (eine Schar Marienkäferchen aus Holz tummelte sich auf der schwarzen Erde zwischen den frischen Blumen), weiter dann hinunter zum Bach, und in verwildertem Gedankengestrüpp über den Steg und in den Wald hinauf.

Ich lasse die Hütte rechts liegen. Links dehnt sich hinter der Buchenallee die Wiese. Weit weg, träge über dem Gras dahintreibend, äsen Pferde, eingehüllt in Friedfertigkeit. Eicheln prasseln auf die Wege. Das Licht ist abendlich und feucht. Irgendwo im Laub schimmern die Dächer der Sportanlage. Amseln zetern ein unsichtbares Raubtier an. Plötzlich kommt mir jemand entgegen.

Kaum habe ich ihn wahrgenommen, das Rascheln seiner Schritte, die plötzliche Farbe seiner Regenjacke, wie sie aus der Wegbiegung herausflattert, da hat auch er mich schon gesehen. Im gleichen Augenblick ruft er mir zu. Ich sehe die Flasche in seiner Hand und denke, oh nein.

Eh, du, Schneemann … du bist ein Schneemann … Er winkt. Ich will rasch vorbei.

Er aber steuert geradewegs und unignorierbar auf mich zu. Er hat schwarzes Kraushaar, sehr dunkle Haut, afrikanische Züge. In der Linken hält er eine Rotweinflasche am Hals, in der nicht mehr allzu viel Inhalt herumschwappt. Wir umkreisen einander halb, wie zwei scheue Hunde, bleiben stehen. Es wäre unhöflich, einfach weiterzugehen.

Du bist ein Schneemann, stellt er fest. Aha, denke ich.

Ein Schneemann? frage ich zurück. Er zeigt auf mich, dann auf seine Brust.

Ich, ich bin wie du, wir sind Brüder, ich bin wie du.

Ja, erwidere ich kopfschüttelnd, aber du bist kein Schneemann.

Er stutzt, lacht dann. Du, du bist gut, sagt er und kommt näher. Der Wein plätschert in der Flasche. Unter der Regenjacke trägt er Anzug und Krawatte. Ich sehe eine Krawattennadel leise schimmern.

Schwarz und weiß, sagt er, ist das ein Unterschied? Hat das eine Bedeutung? Was ist schwarz und weiß?

Sein Akzent ist weich, ein wenig wie französisch, undefinierbar.

Ist schwarz oder weiß … ist das wichtig?

Das sind Farben, weiter nichts, entgegne ich beschwichtigend. Er nickt anerkennend. In meiner Heimat, sagt er, ist es kalt. Kälter als hier.

Kälter als in Deutschland? wundere ich mich, Wo kommst du her?

Aus Somalia.

Und da ist es kälter als hier?

Viel kälter!

Wie die meisten Menschen seiner Herkunft hat er wunderschöne Hände, die er in ausdrucksstarken, eleganten Gesten zu bewegen versteht. Da ist es so kalt, sagt er, daß die Schafe und Ziegen manchmal erfrieren.

Und dann kommt er wieder auf Schwarz und Weiß zurück und erklärt mir etwas wirr, wie Gott die Menschen geschaffen hat. Ich höre zu und wundere mich nur ein bißchen.

Ich bin normal, betont er schließlich feierlich. Normal, normal.

Mein lieber, denke ich, ich weiß nicht, was du alles bist, Prediger, Diplomat, Geschäftsmann, keine Ahnung, aber normal, na, ich weiß nicht.

Normal, normal, wiederholt er, als könne er meine Gedanken lesen, und unterstreicht die Bedeutung seiner Worte mit energischen Handbewegungen seiner schönen Hände. Ich soll verstehen.

Normal, normal.

Es ist sein Akzent.

Nomade, Nomade, sagt er, Ich nicke. Nomade, wiederhole ich.

Er nickt auch. Und Nomaden leben ewig, sind unsterblich, fügt er hinzu.

Dann ist unser Gespräch zu Ende. Bevor er sich abwendet, legt er die Hand auf die Brust und deutet anmutig eine Verbeugung an.

Ich winke ihm zu, wir gehen unserer Wege.

Noch Minuten später grinse ich. Ich denke, daß diese Begegnung eigentlich für sie bestimmt gewesen sein muß. Sie hätte auch viel besser darüber zu schreiben gewußt. Als hätte ich ihr eine Begegnung gemopst, so kommt es mir vor.

Ich schaue auf meine weißen Hände und frage mich, was von mir übrigbleiben wird: Eine Möhre, ein Besen, zwei Kohlenstücke, die naß und glanzlos in einer Pfütze liegen, wenns hoch kommt vielleicht noch ein Hut, und einen Augenblick lang wünschte ich, ich wäre auch ein Nomade mit schönen Händen.

2.10.2004

Ich will eigentlich nicht mehr tolerant sein. Wenn Toleranz heißt, sich nicht mehr gegen widerstrebende Dinge zur Wehr zu setzen, dann muß ich für mich sagen: fort damit! Ich glaube, ich setze mich viel zu selten zur Wehr. Ich glaube, ich akzeptiere viel zu viel freimütig, ohne zu überlegen, daß mein eigenes Territorium schwindet. Wenn es so ist, wie einmal ein Soziologe (dessen Namen ich vergessen habe) gesagt hat, daß wir zu viele sind, um uns jemals darüber einigen zu können, wie die Welt aussehen sollte: Dann bleibt nur der Kampf, das Ringen ums Eigene …

In Stunden schlechter Laune denke ich gar, daß Toleranz ein selbstwidersprüchlicher Begriff ist, etwas, das nicht gedacht werden kann, ohne sich sofort selbst zu negieren.

Zumindest aber läßt sich Toleranz nicht auf sich selbst anwenden.

2.10.2004

Manchmal denke ich, daß, hätte ich die Macht zu zwingen und zu verbieten, ich diese Macht manchmal gebrauchen würde. Und mir graut vor mir selbst. Manchmal ist es beruhigend, keine Macht zu haben.

Reizvoll ist der Gedanke trotzdem von Zeit zu Zeit.

2.10.2004

Manchmal denke ich, daß, hätte ich die Macht zu zwingen und zu verbieten, ich diese Macht manchmal gebrauchen würde. Und mir graut vor mir selbst. Manchmal ist es beruhigend, keine Macht zu haben.

Reizvoll ist der Gedanke trotzdem von Zeit zu Zeit.