Donnerstag, den 30. Oktober 2003

Vor einiger Zeit – es ist schon eine Weile her, kann sein, es war letztes Jahr – ereiferte ich mich M. gegenüber über Veränderungen und Neuheiten, die anzunehmen oder gar willkommen zu heißen ich mich immer stärker sträube. Es falle mir zunehmend schwer, hinzunehmen, daß die Dinge sich änderten, klagte ich; ich sei immer weniger bereit, Entwicklungen – sich abzeichnenden oder bereits vollzogenen – gelassen zu begegnen. So oder ähnlich drückte ich mich aus. M kommentierte dies halb scherzend, halb im Ernst mit dem Hinweis, ich würde eben alt. Dabei sagte er dies in einem Tonfall, als müsse er mir lachend etwas hinlänglich Bekanntes auseinandersetzen; als sei es ein Versehen von mir gewesen, dies nicht schon selbst längst bemerkt zu haben.

Dies ärgerte mich. Nicht so sehr, weil es stimmt, daß ich älter werde (wer wollte das bestreiten, und wem ginge es anders?), sondern weil mit dieser Bemerkung meinem Protest nicht nur jede Begründbarkeit und Rationalität an sich, sondern, noch schlimmer, weil damit meiner Haltung, sei es Ablehnung oder Zustimmungen, jedes Verankertsein in meiner eigenen Persönlichkeit, jeder individuelle Ursprung in mir selbst abgesprochen wurde. „Du wirst halt alt“ bedeutet: Nicht weil ich so bin wie ich bin, lehne ich irgend etwas ab; die zunehmende Verärgerung über die stillschweigenden Übereinkünfte der Menschen um mich herum, die ich nicht teile – sie ist nicht Teil meiner persönlichen, unverwechselbaren Entwicklung, sondern ich bin selbst nur eine Instanz, in der sich ein überindividuelles Phänomen instantiiert; mein Weigern ist nicht mehr mein ureigenes Weigern, sondern aus allgemeinen Grundsätzen des Menschseins ableitbar. So hat meine Meinung mit mir gar nichts mehr zu tun: Sie hat ihr Gewicht als Meinung verloren, ist zum bloßen Symptom geschrumpft – und deshalb belächelbar geworden. Wie aber kann ich mich wehren, wenn man mir sogleich das immerwahre und alleszerschmetternde Duwirsthaltalt entgegenstemmen kann? Einmal abgesehen davon, daß dies auch überhaupt keine ernstzunehmende Entgegnung ist, denn indem ich meine Meinung äußere zu Mobiltelephonen, Werbepausen, der Programmänderung des WDR oder der Unart, zu Milchkaffee nur noch Latte Macchiavelli oder so ähnlich zu sagen, bitte ich schließlich meine Gesprächspartner nicht, mir doch zu erklären, warum ich dieses seltsame Gefühl gegenüber Mobiltelephonen, Werbepausen etc. habe; ich will doch nicht wissen, was mit mir los ist, daß ich nicht jeden Quatsch, dem meine Mitmenschen besgeistert nachlaufen, prima finde; ich mache mir doch keine Sorgen um meine eigene Ansicht! „Ach bitte, lieber M., sage mir doch, warum, ach warum nur finde ich Mobiltelephone albern? Was stimmt mit mir nicht? Was ist nur mit mir los?“ — Nein, ich möchte doch etwas von mir und meiner Haltung dieser Welt gegenüber schildern, wie es jeder Mensch gerne tut. Muß ich jetzt jeden modernen Mumpitz gut finden, weil eine andere Meinung zu haben mich sogleich dem Verdacht der Alterskauzigkeit aussetzte? Muß ich zu allem ja sagen, weil eine andere Meinung zu haben mir – quasi aus Altersgründen – nicht zusteht? Weil eine andere Meinung als die, welche hinsichtlich der Erwartungen meiner Zuhörer „originell“ wäre, wertlos ist?

Was bedeutet das überhaupt für das Älterwerden? Es bedeutet doch, daß ein Mensch, der eine zu seinem Alter zufällig, aber nicht kausal passende Meinung hat, diese besser verschwiege. Originell ist ein Neunzigjähriger im ICQ, ein Neunzehnjähriger nicht. Originell ist ein Vierzehnjähriger, der sämtliche Mozart-Klavierkonzerte nach Nummer und Köchelverzeichnis kennt, ein Fünfzigjähriger nicht. So daß wir uns anheischig machen, den einen zu bewundern, des anderen Vorlieben und Ablehnungen aber als normal, weil angeblich kausal aus seinem Lebensalter herleitbar, zu bezeichnen und darüber nur die Achseln zu zucken. „Wirst halt alt.“

Nun gut, zugegeben: M.s Äußerung bezog sich nicht auf irgendeine meiner Abneigungen den Errungenschaften der modernen Welt gegenüber, sondern auf den Umstand meiner wachsenden Gereiztheit über diese Dinge. Sein Spott hatte eine allgemeine Haltung zur Welt und zu Veränderung überhaupt als Gegenstand. Aber mein Vorwurf bleibt. Und der Schluß, der für mich daraus zu ziehen ist, auch.

Ich werde mich in Zukunft vorsehen und alles mit sauberen Gründen unterfüttern müssen – sofern man saubere Gründe finden kann, denn es gibt ja einen Bereich, in dem nur bloßes Behaupten möglich ist, und das ist das Reich der ästhetischen Urteile. Es ist unmöglich zu beweisen, daß meine Geschmacksurteile ihren Ursprung in meiner eigenen Persönlichkeit haben und nicht erklärt werden können – denn aus der Sicht dessen, der urteilt, ist das Urteil immer ein persönliches Urteil. Ein ästhetisches Urteil kann – da es nicht begründbar ist – jederzeit als Symptom angesprochen werden und ist daher besonders anfällig für die Geringschätzung durch jene, die es aus welchen Gründen auch immer nicht gelten lassen und es daher lieber aus groben Eigenschaften des Meinungsträgers, die er mit vielen anderen teilt, ableiten wollen: aus dem Alter, der sozialen Schicht, dem Geschlecht, dem Elternhaus, was weiß ich. Wie, du liest gerne Fontane? Das ist doch nur, weil deine Eltern zur Bourgeoisie gehören! – Wenn man nun wirklich aus bürgerlichem Hause stammt, hat man es schwer darzutun, daß man Fontane einfach mag. Vielleicht mag man ihn auch nur deswegen, oder man hat ihn nur deswegen kennenlernen können. Alle unsere ästhetischen Urteile gründen natürlich in unseren Anlagen und unserer Biographie. Daran ist nicht zu rütteln. Aber das Nichternstnehmen durch den anderen bleibt. Na, kein Wunder, T.Th. wird halt alt. Wenn ich die Vorlieben und Abneigungen meines Gegenüber aus irgend etwas Allgemeinem abzuleiten und zu erklären mich anheischig mache, dann nehme ich ihn nicht länger zur Kenntnis: Ich interessiere mich nicht mehr dafür, warum er diese Meinung, dieses ästhetische Empfinden hat. Ich mache es mir einfach. Ich gehe über ihn hinweg. Seine Meinung ist dann sauber in einer Schublade, ist eine Meinung von Leuten, die x sind, oder von Leuten, die aus y stammen. Von Leuten, die halt alt werden.

Ein Neunzehnjähriger würde ja auch nicht solche Texte wie diesen schreiben. Aber klar, ich werde halt –

Ach, zum Teufel.