Ethologie

Gestern ein Kurzflirt (wenn man das schon so nennen kann) mit C, was ungemein wohltut und mich für wenige kostbare Augenblicke schweben und heiter sein läßt. Wie immer bei solchen Gelegenheiten, wenn denn einmal meine sporadisch auftretende Schlagfertigkeit über mich kommt, überrascht sie mich selbst. Ich verfüge nicht über sie, sie ist wie etwas außerhalb meines Willens, Geistesblitz und Inspiration, als spräche nicht ich, sondern etwas in mir, ein kleiner Flirtsouffleur. Eine launische Gabe allerdings, auf die ich mich wahrlich nicht verlassen kann. Und so ist sie denn auch meist stummgeblieben im entscheidenden Moment.

Ich wünschte ich verstünde das Balzverhalten der Spezies, der auch ich angehöre. Man stelle sich ein Pfauenweibchen vor, das den Federkranz des Männchens zwar sieht, aber absolut nicht weiß, was das soll, weil sie nur einen bunten Kranz Federn sieht, wo andere Weibchen ein Zeichen wahrnehmen. Wie leicht wäre alles, verstünde ich die Sprache von Blick, Geste, Mimik, Lächeln und die wahre Bedeutung von Wann, Wie, Wo und Was des gesprochenen Wortes. Ich stochere nur darin herum, werfe zergrübelt Frage um Frage auf, und deute in einem fort die Symbole, wie eine Art Kabbala der Liebe, außerstande, die Zeichen auf Anhieb und unbewußt zu deuten. Ich muß alles zerpflücken. Während andere sich amüsieren und sich an den Gedichten des Flirtens erfreuten, bin ich der Germanistikprofessor, der diese fremde Lyrik Zeile für Zeile, Vers für Vers mit dem Skalpell sezieren muß, um ihr etwas zu entnehmen. Vom eignen Dichten ganz zu schweigen. Da bleibt nicht viel am Leben. Artfremd innerhalb der eigenen Art muß ich die Zeichen studieren wie ein Zoologe unter Pavianen, die alle wissen, was sie tun. Oder vielmehr, nicht wissen, was sie tun, und dann ist es das untrüglich richtige.

Vom Küssen

Immer war es so: wenn ich endlich die Frau küßte, nach deren Kuß ich mich gesehnt hatte, dann war es immer wundervoll, ganz unabhängig von der Art, wie sie küßte; es war wundervoll, weil es ein Kuß war, und: weil es ein Kuß mit der Frau-die-ich-küssen-wollte war. Es spielte dabei keine Rolle, wie sie küßte, ob wild oder zart, nachgebend oder straff; ob sie schmale oder volle Lippen, einen kleinen oder breiten Mund hatte; es war gleich, ob ihr Mund größer oder kleiner als meiner, ob ihre Zunge lang oder kurz, quirlig oder lasziv-langsam war. Für mich war es immer recht, hat sich ein Kuß mit meinem Wunschkußmenschen immer richtig und gut und zum Jubeln angefühlt, wenn es endlich so weit war. Weil es eben ein Kuß, weil es eben der ersehnte Kuß mit dem Wunschkußmenschen war. Und es ist schwer für mich, mir vorzustellen, daß und wie es anders sein könnte.

Die Frage ist natürlich immer, wer denn der Wunschkußmensch ist. Und warum. Aber findet man das erst beim Küssen heraus? Oder ist es nicht umgekehrt so, daß man überhaupt erst küßt, weil dieser Mensch der Wunschkußmensch ist?

Sonntag, den 5.12.

Ein Tagtraum.
So stark, so außer mir, daß ich die Gewalt über die Bilder verliere, diese Bilder: Wir umarmen uns und lassen uns nicht mehr los. Ich spüre Sosiglaúkes Luftholen gegen meine Brust. Ich fühle die Maschen ihres Pullis unter meinen Fingern, und wie sich das Gestrick spannt, wenn sie Atem holt in meinem Atmen. Ihr Ohr hört an meinem Ohr hört an ihrem. Rückgrat und Schulterblätter lauschen unter meinen Händen. Der Herbduft ihres Haars umschließt Wange und Kinn mir.
Später.
Vor dem Bettsofa hockend ich, Sosiglaúke auf dem Rücken liegend, und sie nimmt mein Gesicht in die Hände, zieht mich, zieht mich und holt mich aus unendlichen Fernen her zu sich hin und saugt, plötzlich und mit einer unerwarteten Heftigkeit, die alles lange Zaudern Lügen strafen will, saugt mich in einen nicht enden wollenden, bewußtseinsausblendenden Lippenkußzungenstrudel.
Mit einer gewaltigen Willensanstrengung reiße ich mich los aus diesem Bild. Aber es kommt wieder, kommt wieder und kommt wieder, ehe Dunkelheit und Schlaf es von mir nehmen.

aufwarmdrehen
mischkitzelbatterie
brausverwasserspritzen
leuchtleucht
gezitter vertrauter
ort, orte, stellstellen stehenso,
geartigkribbel
duschstrahl
bezartmuskelt krabbelt
als maskenzunge
zum
maskenzungenball
tastgleitet zwischen die
in flagranti
tanztanz
mundzunge
trockenheitüberstülbt
fingerzungenstrahl umrundet das
still werden
die räume so still daß
die wände hallen davon
luftumfeuchtwallte
leuchtreklame schlägt auf
und fleisch
fressende blumen nippen
naschen
sich nähren
sich von hauthaarnässe zwischen den lautlosfüßen
stille krallt sich umkrallt sich
krallt
sich ins
bis
nichts nichts
ist mehr außer
stille
geweitspreizte tropfen wie
warmhände weit sich
weit
ruckklaffend
dehnendsehnendbebend, dann, dann
weitweitweitwww–

dann

implosionsimpulspuls

ohneluftluftholend
verglüht vorgebeugtes
jammern und
warmwasser strudelig vermischt
vermischt

ver
mi
schtscht

verklatscht und
verpladdert vielstimmig
fortspült haploide
restsüße

plötzlich so laut wieder
die hände zittern
die wände atmen zurück

Aber das macht er ja doch nicht. Statt dessen hockt er auf seinem Zimmerchen und heult und klappert mit den Zähnen, weil natürlich prompt eine Nachricht von ihr ausgeblieben ist.

Kann ers ihr verübeln? Nein.

Und jetzt?

In den Arm nehmen möchte er sie und ihr was Schönes sagen. Trotzallemwegenallem. Ihr was ins Ohr raunen, das er selbst nicht verstünde, und sie dabei wiegen und dann warten, bis sie selig eingeschlafen ist.

Seismographisch

wie schlangenhaut auf
zuckendem gestein
hören können
felsengespräche und
grundgeflüster
was gäbs da zu merken
schneckenfühler
lufthauchverzuckt
und
inhäusig weitergelauscht
auf draußen
istdawer-weristda
schalenentzweibruch
seitdem
bloßliegen mit haut
wasserdünn an winterkaltes
enggeschmiegt
tauziehen mit
glasfäden
mit dickgewebten
taubfingrighilflosigkeiten
als wollte man
kartenhaus
einfädeln
splitterziehen
mit fäustlingen
um fühlfinger

Nach Hause

Gestern eine hochangenehme Heimfahrt mit viel Brown & Yule & Schokolade. Entspannt und zum ersten Mal seit Tagen wieder sehr ruhig. Gesammelt und bei mir selbst. Das Abteil ist ganz ruhig, halb leer, und es ist dieser Klang überall von Einsamkeit und Spätheit und ungewohnter Stunde. Die wenigen Blicke, die mir begegnen, sind willkommen als Gleichgesinnte, als Gefährten des Einsamen. Es ist seht still zwischen den Inseln, viel Raum, den man mit Lächeln füllen könnte, aber man muß es nicht. Lesen, aufblicken, wieder in die Komplexitäten des Buchs sinken. Meist aber belausche ich mich selbst, zu Gast im Haus meiner eigenen Träume. Doch kann ich sie nicht genau erkennen, sie gehen verhüllt, sie wenden den Blick ab. Immerhin bin ich willkommen, willkommen bei meinen Träumen. Das ist schön. Draußen heimeliges Schwarz mit Innenraumgespiegel in der Scheibe. Manchmal glitzernde Balken von Scheinwerfern auf dem sonst schwarz in schwarz nicht zu erahnenden Riesenfluß, der da draußen irgendwo träge, selbstvergessen und wie je einherströmt. Es fühlt sich gut an, so getragen zu werden, im Warmen durch eine eisige Nacht.
Viel später dann geht der Schlüssel. Im Flur brennt Licht. In der Küche macht sich jemand Suppe warm. Die Wohnung lebt und empfängt mich. Jetzt bin ich also wieder hier. Zurück aus der ferne. Zurück in der Nähe. Augennah und Rufnah, beinahe.

Fremdwörter, die die Welt nicht braucht

Genethliokryopodie, die. med. Fw. bezeichnet den Vorgang, angesichts herannahenden Geburtstages kalte Füße zu bekommen. Besonders oft tritt die G. im Zusammenhang elterlichen Besuchs (s. Goneoepiskope) auf. Linderung wird oft bei Einladung von Freunden (s. Philepiskope) beobachtet. Da die G. im allgemeinen harmlos verläuft und eine Besserung meist schon wenige Stunden nach dem Geburtstag (s. Metagenethlie) von selbst eintritt, ist eine Behandlung überflüssig, wird aber von den Betroffenen als angenehm empfunden und bei starken Beschwerden gerne in Anspruch genommen. Aufgrund ihrer unspezifischen Symptome ist die G. leicht mit der sogenannten s. Exetasiokryopodie zu verwechseln; welche Art der Kryopodie jeweils vorliegt, kann aber leicht aufgrund der eindeutigen Ätiologie festgestellt werden.

anhänglich
anhängen
an dir hängen
aber nicht
von dir ab hängen
und auch nicht
ver hängen
zu hängen
weg hängen
was noch wo
fest hängt
oder
auf hängen
(höchstens blicke
ins
fenster)
und nicht
mir oder dir
was an hängen
lieber
sich ein lächeln
um hängen
anhänglich
miteinander
rumhängen und
zusammen hängen
und solche stiften

Noch einmal DB

… Qui non moderabitur irae,
infectum uolet esse, dolor quod suaserit et mens,
dum poenas odio per uim festinat inulto.
Ira furor breuis est; …

Andertalbseitigen zerknirschten, überhöflichen, reumütigen Entschuldigungsbrief erhalten. Von wem? Es ist wirklich wahr: Von der Deutschen Bundesbahn. „Verhalten des Mitarbeiters unakzeptabel“, blabla, „Nachschulung bei manchen erforderlich“, blabla, „Umwandlung von einer Behörde in einen Dienstleister langsam und schwierig“, blabla, „hoffentlich jetzt nicht auf die DB verzichten“, blabla, „die meisten Mitarbeiter doch wohl freundlich“, blabla etc. pp.

Sofort tut es mir leid. Mein erster Gedanke, als ich den Brief öffne: Ha! Dem hab ichs aber gezeigt. Mein zweiter Gedanke, nachdem ich den Brief gelesen habe: Oh Scheiße, dem hab ichs aber gezeigt.

Jetzt wünsche ich, ich hätte diesen idiotischen Beschwerdebrief nie abgeschickt. Ich verfluche meine Wut, die wieder mal eine schlechte Ratgeberin war und hoffe inständig, daß der Mitarbeiter keine Schwierigkeit bekommt. Das hab ich nicht gewollt. Ich wollte nur …

Was klarstellen. Etwas loswerden. Es nicht auf sich beruhen lassen. Sagen. Nicht schlucken. Und hätte ich geschwiegen, dann würde es mich weiterhin beschäftigen. Das weiß ich. Ich würde, wenn ich mich daran erinnerte, stumme innere Haßdialoge mit diesem Menschen führen, Adrenalin würde mir ins Blut schießen, das Herz mir wieder klopfen vor Zorn, als wäre der Vorfall gerade eben erst gewesen. Ich kenn mich doch. Noch Jahre später kann ich mich über diesen Straßenbahnfahrer in Rage denken, der … egal.

Also entweder hätte ich mich aus Zorn schlecht gefühlt oder jetzt aus Scham und Reue über meinen Zorn Die Lösung? Den Beschwerdebrief schreiben. Auf jeden Fall. Es war nicht richtig, und ich soll es auch nicht in mich hineinfressen. Aber ich hätte die genauen Angaben zu Uhrzeit und Zugnummer verschweigen, und den Mitarbeiter damit wieder in Schutz nehmen können. Ich hätte sagen können, daß ich mit der DB bzw. den Zugbegleitern immer sehr zufrieden gewesen bin. Da haben sie ja recht. Ich hätte sagen können, daß ich den Mitarbeiter nicht in Schwierigkeiten bringen wolle.

Ich hätte auch einfach gelassen sein können. Und klug gegen mich selbst wie gegen andere.

aus dem stundenbuch. Néandros

Endlich fühle ich den Mut zurückkehren, und meine Seele schwingt sich voll Wildheit empor und zu den wüsten Himmeln, und reiht sich wieder ein in die Stürme. Ihresgleichen will sie, kann sie, muß sie wieder sein. Und die Stürme, die nehmen sie lachend unter sich auf. Ich erwache aus duftenden Decken. Und endlich erwache ich wieder bei-mir. Ich bin frei, was auch geschieht, ich bin frei. Die Tage mögen dunkel sein oder grell, warm oder kalt, still oder von Winden zerzaust: meinen Händen geben sie sich willig hin, zu bildender Stoff, aus dem die Geschichten herausgeträumt, herausgewacht, herausgehandelt werden müssen.

Es wird Trauer geben; aber sie wird mich nicht verschlingen. Es wird Wut geben; aber sie wird mich nicht umstürzen. Es wird Schmerz geben; aber er wird mich nicht vernichten.

Samstag, den 27. November

Nach dem letzten Telephongespräch, das sich dann aber als vorletztes Telephongespräch erwies, langes Nachdenken, schmerzlich und zuckend; und wurde nicht fertig. Endlich aufgestanden, ohne noch viel zu zögerndenkenüberlegen ins eisige Bad, Tür zu, Schublade auf, Kabel rein, Knopf umgelegt, Kopf nach vornüber, und dann fielen die Haare, oder was noch von ihnen übrig war, dem sanften Rasierergeschnurr zum Opfer. Den Kopf wie um mich zu erbrechen über das Becken gebeugt ließ ich es knistern auf dem Schädel. Dunkelflockiges und Angegrautes sammelte sich auf weißem Porzellan und sah dort überraschend viel aus. Wieder und wieder zogen die Scheren emotionslons schnarrend ihre Bahnen über das Haupt, führten willig den ihnen aufgetragenen Dienst aus, bis absolut und endgültig überhaupt nichts mehr Widerstand bot, keine Stoppel mehr knisterte, und die Messer ins Leere surrten. Das dauerte überraschenderweise seine Zeit.

Dann ein Blick. Zuerst vorsichtig und unbebrillt. Huch. Kurzer Schock, ganz kurz nur. Dann: Hej! Griff zur Brille: Noch einmal hej! Ich grinse mir zu und frage mein Spiegelbild und mich selbst, warum ich das nicht schon längst gemacht habe.

Sofort ging es besser. Aufatmen. So. Weitere Maßnahmen werden folgen. Die nächste: eine neue Brille. Wird Zeit. Wird höchste Zeit.

Ich meine nicht nur die Brille.