Manche Orte haben ihre eigene Zeit. Manche Orte altern nach ihren eigenen Gesetzen. Manche Städte gehen dahin, unmerklich und jahrhundertelang, gemäß dem Zeitschlag ihres Herzens, manche Plätze, von Menschen wimmelnd und ungeachtet der vielen Füße, die über sie schlurfen und trampeln und schreiten und trippeln: ihr Antlitz wandelt sich, unwahrnehmbar, mit dem Schlagen ihrer innewohnenden Uhr. Und es gibt Orte, die sich nicht wandeln. Sooft du wiederkommst, es erwartet dich immer derselbe Ort; dieselbe Katze hockt auf der Fensterbank und sieht deinen Schritten mißtrauisch entgegen. In der Dämmerung schimpfen die Amseln in sich verdunkelnden Büschen. Ein Laden klappert, ein Hund bellt, die Glocken läuten, und plötzlich wird dir klar, daß Abend geworden ist, und es ist, als habest du dein Leben schon hinter dir. Der Ort, an den du zurückkehrst, starrt dich, alterslos, an, und die dich doch erwarten wollten, am Herd mit der Schürze die Mutter, und du siehst sie schon von der Straße, ein fleißiger Schatten im dampfhellen Fenster, der Vater, groß und ruhig wie die schützende Welt, als seist du wieder ein Kind, die, die dich erwarten sollten, sie sind lange tot. Und dennoch hallen deine Schritte in den Gassen wie jedesmal, der Flieder und der Liguster duften in den Vorgärten, überm goldüberstreiften Grün siehst du die Mücken tanzen. Die Häuserflure stehen hell, irgendwo qualmt Kartoffelgeruch aus der Glut, von ferne trägt der Wind das Tuckern der Kanalschiffe heran, und vielleicht erwarten dich wirklich die Mutter und der Vater, und du setzt dich mit ihnen in den Kreis der Lampe. Aber wo du warst damals und welche Wege du gegangen bist, das ist fort, das holst du nicht mehr ein; du folgst den Schatten der Jahre und dem Kind, das du warst. Aber der Ort, mag er so langsam altern, daß er dich weit überlebt, gibt dir nichts wieder, und einmal kehrst du zum letzten Mal vergebens zurück, und dann weißt du plötzlich, daß die Straßen dunkel sind, die Sonne lange untergegangen und Nacht ist.
Dann stehst du am Morgen an der Bushaltestelle, und während du noch nicht weißt, wohin du gehst, bist du schon eingestiegen, und über dein Gesicht am Fenster schiebt sich das Spiegelbild der Häuserzeilen, die du für immer verläßt. Die Sonne blitzt auf dem Glas, wenn der Bus eine Wendung macht; dann ist er fort, über die Brücke und um die nächste Kurve, und es ist, als hallten die Straßen noch nach von seinem Lärm.
Monat: Juli 2004
24. An Claudia
Wieder festlicher Sommermorgen, mit verspieltem Laub, trockenem Staub auch überall, trotzdem frischklare Luft. Ich öffne die Jalousien im Büro, und der Tag drückt sich in all seiner Größe und Helle herein. Ich will mich freuen. Mein Herz setzt an, zu jubeln. Aber es stimmt nicht, und das Blausein da draußen, die schlummernde Wärme, die Kühle am Fuß der Bäume, es lähmt mich das alles. Es lähmt mich das viele viele Licht. Dieser Sommer ist so spät, daß er mir fremd und verwirrend in den Händen liegt. So seltsam, daß er wie sein eigener Nachhall ist.
Heute. Heute noch einmal, Claudia. Dann kommt das Schweigen. Und vielleicht auch das Vergessen. Ein Sommer weniger. Wieder einer vorbei.
23. Nüchterner Sommer-Haiku
Wieder ist Sommer
dampfend im Gras Hundekot
Riechst du die Sonne
22. An Claudia
Heute Morgen Nebel und dieser feine, würzige, manchmal ins Modrige umschlagende Geruch in der Luft – Brand, Feuchtigkeit, Laub, Straßennässe, Erde –, der schon den Herbst ankündigen will. Es riecht nach Fülle und Frucht und nach Verschwendung. Doch in der Fülle liegt schon der Verfall eingekapselt, und das feingestreute, weiche Licht, keine Sonne, klingt schon nach Abschiednehmen, nach Erinnern, nach Schweigen, das noch zittert von eben verklungenem Lärm. Rabenschreie von unsichtbaren Körpern in den Bäumen erzählen von Dingen, die unwiederbringlich vorbei sind. Es sind keine Geschichten; es sind viel mehr reine Augenblicke des unbewußten Glücks, und daß sie eben vorbei sind, so oder so, das ist das traurige. Was immer auch folgen wird, Jubel oder Schmerz: das, was einen Sommer lang leben hieß, das ist schon nurmehr Erinnerung und Gewesenes. Einen Augenblick tue ich noch so, als sei ich noch mittendrin. Aber ich weiß doch schon, daß ichs nicht mehr einholen kann, und auch nicht verhalten, verzögern, verlängern. Wie auch immer diese Geschichte weitergehen wird, und welche Rolle du, Claudia, darin spielen wirst: unsere Sommergeschichte, wenn man es so nennen kann, ist zu Ende. Ehe du noch weißt, daß es für mich eine Geschichte war.
21. An Claudia
Und noch ein Tag Sommer: Riesige Menschenschatten wandeln über die Plätze, das Laub der Bäume ist still, die Flächen des Betons strecken sich. Die Scheiben des Uni-Centers blinzeln in die Sonne. Irgendwo ist noch eine Pfütze vom letzten, schon vergessenen Regenguß liegengeblieben und spiegelt einen Himmel voll Laub wider. Der eigene Schatten fällt überlang aus dem Schatten des Ahorns. Die Insekten sind träge von der Nachtkühle. Mit ihren krummen Bahnen spannen sie Räume unters Gezweig. Es ist überall Licht, teils versteckt, teils offen leuchtend, teils gerade, teils verwinkelt, hier in Stücken und Flecken, dort herrlich über eine Straße hingegossen, Licht, das sich die Schatten zurückerobert, und so eines, das wir gestern abend noch für unmöglich erklärt hätten.
Gestern sind wir hier noch gegangen, Liebe, ja, gestern wars. Wir sprachen. Wir lachten. Du berührtest mich am Arm. Wir gingen. Wir blieben stehen. Du so entspannt und ganz du und voller ausgelassener Gelassenheit und Freude an allem. Ich ganz Aufschub, Hinhalt, Verzögern. Dich noch länger, noch eine weitere Minute, sehen und beimirhaben. Nur noch eine Minute, ehe du dich, schon weiter, schon abgewendet, verabschiedest, schon verabschiedet hast von mir und dich aus mir löst und fort bist für ichweißnichtwielang. Nur noch diesen Augenblick. Und dann noch einen und noch einen.
20. Mondträume
Etwas fehlte in ihr, ein Mangel bewegte sie, ein Nichts. Sie irrte durchs Zimmer, vom Fenster zur Tür – sollte sie noch einmal hinaus? – von dort zum Krug mit Wasser, das keine Linderung, wieder zum Fenster, das keine Kühlung brachte. Sie hob das Gefäß an den Mund, ließ das Wasser auf die Lippen treten, Überdruß überkam sie, sie stellte den Krug wieder hin. Blieb einen Augenblick reglos, warf sich endlich aufs Bett, von Zerren und Reißen erfüllt.
Da aber wuchsen ihre Füße und wurden riesengroß, und Wurzeln sprangen aus ihnen hervor und gruben sich in Erde und Stein der Welt. Zu einer großen Schale weitete sich ihre Mitte, wurde ein See, ein Becken, ein Teich, den Erlen beschatteten. Mondlicht lag still auf ihrer Brust, ihr Atem wurde eins mit dem Heben und Senken des Baches, dem Schwellen und Niedersinken des Blättergewirbels; und da waren ihre Hände plötzlich schwer und reich und voller Früchte, und ein tauchte sie in eine Zwie-Welt, darin Stimmen flüsterten unter schwankendem Mond, und ein Wind sich erhob wie aus Pfotentritten, und ein Sturm warmer, schnaufender Leiber nahte, die dichtgedrängt sich aneinander rieben, daß Funken knisternd zwischen ihnen hervorsprangen und ins Dunkel, ins dichte, umher drückende Dunkel zerstoben. Seltsame Bilder brachten sie hervor, Bilder die Solveigh unheimlich und süß zugleich waren, Münder und Augen, die aus Handflächen und Fußsohlen hervorsahen, Köpfe, die lichtübergossen in die Ferne schauten, Schultern, die schweißglänzend verwirrende Arbeit verrichteten, oder sie sah einen See, der im Mondlicht glänzte wie ein Mund, ein Strom von Wasser, das aus einem felsigen Grund hervorbrach, das Glitzern auf dem Fell eines Luchses. Sein Auge, dessen Blick in sie drang wie Feuer. Und ein Regen und Sehnen kam in ihre Brust, wie sies noch nie gefühlt hatte. Duft trat in ihre Nase, ein scharfer Odem, der von dem Leibersturm ausging, sie aber bald erfaßt hatte, ihr unter die Haut gedrungen war, in ihrem Blut pochte, bis sie ihn selbst ausdünstete, und die Räume hinter dem Dunkel anfüllte. Und jenes Dunkel, aus dem der Leibersturm herangeeilt und wohinein die Flut, begleitet von wildem, dunklem Schnaufen wieder davoneilte, jenes Dunkel barg Höhlen und mächtige Räume, weite Hallen und unsichbare Gänge, in denen sich Solveighs Wachsein verlor und mannigfach teilte. Vielleicht war es der Grund eines Sees, vielleicht eine Höhle unterm Gebirg, vielleicht ein Wald uralter Bäume, so dicht, daß die Sonne niemals den Grund berührte und die Stämme wie Säulen das Blätterdach trugen, weit, weit oben, wo das Licht manchmal dämmrig zu erahnen war, wenn ein Wind das Laub wie eine Meeresfläche wogen ließ. Neue Bilder kamen, und sie sah einen glänzend schwarzen Raben von einem Baume auffliegen, sah Flammen in einer Feuerstelle steigen und wieder zusammensinken, sah dann voller Schrecken Temes’ Fohlen in einer Blutgischt aus dem Schoß der Stute herausstürzen, und plötzlich war es ihr eigener blutiger Schoß, der das Fohlen von sich gab. Voller Entsetzen wollte sie an sich herabsehen, doch da waren die Bilder fort, und es wurde dunkel.
Endlich verlor sich auch das Getrappel und Geschnauf in den Fernen, und ihr Wachsein kehrte zurück aus dem Irrgarten, und der Mond schien nicht mehr ins Fenster. Das Bett lag im Dunkel des Zimmers. Zum Fenster wallte Kühle herein. Matt schwebte noch der Tiergeruch über den Laken. Alles war still, nur ein langsames, tiefes Atmen blieb und füllte den Raum.
19. An Esther
Gerade dann, wenn man am meisten zu erzählen hat, ist ein Brief das letzte, wozu man sich sammeln möchte. Und will man dann einmal schreiben, hat man nichts mehr zu erzählen.
Viel eher greift man zum Telephonhörer oder schreibt eine elektronische Nachricht. Man will seine Sorgen schneller loswerden. Man ist ungeduldig und will sofort eine Antwort haben. Ein Brief dagegen braucht Zeit; er erfordert eine Sammlung, derer man ausgerechnet aus demselben Grunde entbehrt, aus dem man überhaupt zu schreiben erwogen hat.
Indem der Brief den Schreibenden dazu anhält, seinen Gedanken eine Ordnung zu geben, zwingt er ihn auch, Grund und Wirkung zu entfädeln, nach Hintergründen, Motivationen, und Ursachen zu suchen, sich selbst auf die Schliche zu kommen, und am Ende dieses Vorgangs versteht man sich selbst vielleicht besser. Der Brief ist wie ein Tagebuch, nur distanzierter, denn man muß sich immer fragen, wie die eigenen Worte auf den Empfänger wirken werden, was man sagen, was man verschweigen will. Auf diese Weise hilft das Briefschreiben dem Schreiber, sich auch darüber klarzuwerden, was er sich selbst eigentlich nicht eingesteht. Oder, anders herum, das Briefschreiben verhilft gerade dazu, sich selbst etwas einzugestehen, indem man es einem anderen mitteilt. Immer vorausgesetzt natürlich, man schickt den Brief auch ab.
Wann schreibt man heutzutage überhaupt einen (persönlichen) Brief? Unter wer schreibt? Freunde einander? Eltern und Kinder? Jüngere und Ältere, wenn letztere sich scheuen, es mit der elektronischen Post zu versuchen? Ich stelle fest, daß ich kaum noch Briefe schreibe, es sei denn, daß ein Briefwechsel schon besteht. Der Brief ist zu etwas Besonderem gewachsen, nicht nur, weil er seltener geworden, sondern weil er einem strenger ausgewählten Adressatenkreis vorbehalten ist.
Das war früher ganz anders. Ich erinnere mich, daß der Brief bis in die erste Hälfte der 90er Jahre ein völlig gewöhnlicher Mitteilungsweg war, wenn das Telephon einmal nicht in Frage kam. Vor kurzem fiel mir ein Brief in die Hände, den mir eine Bekannte aus der Universität geschickt hatte. Es war damals vorlesungsfreie Zeit, sie und ich hielten uns bei unseren Eltern auf, keiner hatte die Nummer des anderen. Ich war verblüfft. Und ich erinnerte mich: Natürlich hatten wir Briefe gewechselt, oder einander Postkarten geschrieben. Warum schien mir das plötzlich ungewöhnlich? Wir würden heute keinen Brief mehr schreiben, dachte ich. Warum? Nicht, weil es uns zu umständlich wäre. Nein, mein Erstaunen über diese einfache, in Vergessenheit geratene Tatsache hatte einen anderen Grund. Ich glaube, die schriftliche Mitteilung hat einen neuen Stellenwert erhalten. Ein Brief ist nicht einfach ein Ersatz fürs Telephon, wie früher: Diese Stelle nimmt heute die E-Mail ein. Vielmehr ist der Brief etwas Besonderes, weil er eine gewisse Vertrautheit voraussetzt, ein inniges Verhältnis zwischen den Korrespondierenden, eine persönliche Nähe, die für die E-Mail nicht erforderlich ist und von ihr auch nicht impliziert wird. Schriebe ich heute einem Kommilitonen, den ich nur aus dem Hörsaal kenne, und den ich höchstens einmal am Telephon gesprochen habe, einen Brief, wäre das völlig ungewöhnlich, weil ich damit einen Grad der Nähe zu diesem Menschen behaupten würde, der in unserem Verhältnis noch gar nicht erreicht wäre. Der Brief tritt heute zwischen zwei Menschen erst viel später in Erscheinung. Der Brief bedeutet Freundschaft. Einen persönlichen Brief, ja nur eine Postkarte schreiben, ohne daß ein Verhältnis großer Nähe besteht, hieße, sich im Ton vergreifen. Es wäre, wenn nicht ein Akt des Sichaufdrängens, so doch etwas Voreiliges, und ist in jedem Fall ein Schritt, der vom anderen mit Vorsicht, ja sogar Mißtrauen beobachtet würde.
Cicero schrieb täglich mehrere Briefe. Seneca „unterhielt sich“ schriftlich mit seinem Schüler Lucilius; seine Briefe füllen zwei dicke Bücher. Zieht man in Betracht, daß der Mensch auch noch Dramen, philosophische Abhandlungen und anderes verfaßt hat, muß wohl davon ausgegangen werden, daß auch er täglich mehrere Briefe (nicht nur an Lucilius und nicht nur die, die ohnehin zur Veröffentlichung bestimmt waren) geschrieben haben muß. Heute dagegen zählen wir die Briefe nach Monaten. Aber ich wage zu behaupten, daß durch das Medium der elektronischen Post eine neue Schriftlichkeit zustande kommt und eine neue Kultur des Briefwechsels erwächst, die der alten, von Cicero und Seneca gepflegten vielleicht näher steht, als man vermuten würde. Ich schreibe täglich mindestens eine Nachricht mit mehr als 10 Zeilen Länge, an bestimmte Personen, mit denen mich genau diese Form des „Brief“wechsels verbindet, oft schon seit Jahren. Das sind Nachrichten, die immer über die bloße Information, über die Verabredung, Mitteilung, Vereinbarung hinausgehen, und in denen ein echtes Gespräch zustande kommt. In früheren Zeiten wären das alles „echte“ Briefe gewesen, hätte man sich die Mühe gemacht. Für Cicero und seine Zeitgenossen war es aber wohl selbstverständlich, sich diese Mühe zu machen. Vielleicht aber hatten sie es auch leichter. Ich frage mich schon seit längerem, ob wir heute nicht allzu oft abgelenkt sind durch eine Flut von Möglichkeiten der Zerstreuung, so daß wir Dinge aus den Augen verlieren, die, wenn wir uns daran machten, sie zu schaffen, vielleicht Bestand hätten. Oder uns selbst reifen lassen würden dadurch, daß wir Mühe aufwenden und uns im Wortsinne: widmen. Oder etwas der Welt hinzufügen würden, auf das wir stolz sein dürften. Wir schaffen so wenig Schönes, das wir der Welt entgegenstellen können. Wir sind abgelenkt und alles ist uns allzu schwer. Kaum bringen wir es noch zuwege, etwas mit der Hand zu schreiben. Aber das ist ein Gedanke, dem ich einen eigenen Brief widmen muß.
18. Sterne
Wenn die Nacht kommt
Und die Stimmen erwachen
Wenn die Finsternis naht
ungerufen wie meist
und die Zufluchten der Stille
abhanden kommen.
Wenn der Himmel sich abwendet:
An welche Sterne hängen wir dann
das Gewicht unserer Seele?
Musik von irgendwoher, Schönheit in
ihre Schranken verwiesen. Unmöglich,
irgendetwas, Seele, Tag, Nacht, Stern, Mond,
Lied, Meer, Land, Wüste, Wald,
auszuhalten, ließen wir ihr,
ließen wir der Schönheit die Zügel gehen.
Aber die Nacht kommt auch ungerufen, und
die Sterne, die Sterne: vergessene Speise der Engel,
verworfenes Mahl, abgelegtes Singen, nachlässig erübrigt, die
Sterne tragen die Last unseres Herzens nicht.
Sagtest du nicht: Halte mich fest, begrenze mich?
Aber du sollst Nacht werden
und Himmel.
Soviele Blicke an dich angehängt. Ziert dich nicht
die Liebesfeuchte sovieler Lider?
Aber falsch: unter deinen Füßen ruht die Straße. Es ist
nicht so, wie ich dachte, und deine Hände schütteln
Liebe von den Bäumen. Greif
in mein Herz, greif durch mich hindurch, nimm mit,
was du an Toden findest, such dir den schönen Schmuck aus und
Die schillernde Einsamkeit, den Vogel, die Spur
seines Fluges im Licht des Morgens
das Gesicht in der Fensterscheibe, das Eisige
des Fingers, der
deine Wange ungefragt berührt hat.
17. An Claudia (6.7.2004)
Heute morgen ist der Himmel ungewohnt tiefblau. Festliches Sonnenlicht hängt in den Bäumen. Schatten spreizen sich träge und schlaftrunken in Höfen und unter Hecken. Die Menschen scheinen langsamer zu gehen als sonst, als hätten sie mehr Zeit heute, und obwohl ihre Mienen mürrisch sind, können sie nicht verhindern, daß das aufgehende Licht in ihrem Auge blitzt. Als achteten auch Motoren und Getriebe das Fest dieses Morgens, sind die vielen Fahrzeuge leise und unauffällig. Der Kaffee duftet herrlich, die Arbeit ist sowieso erträglich. Daß ich dir schreiben darf, an einem Tag wie heute, ist etwas Wunderbares und Frisches, als hätte ich es eben erst entdeckt: Ebenso wie die Blätter der Bäume erst heute auf den Gedanken gekommen zu sein scheinen, das Sonnenlicht so herrlich zu spiegeln und so wunderbar und blitzblank zu glänzen, ja als sei die Sonne heute überhaupt zum erstenmal aufgegangen.
Wie mußt du an einem solchen Tag erstrahlen, frage ich mich, und muß dich sehen, sofort, dringlichst, unbedingt. Noch schöner muß dein Auge den weiten Morgenhimmel wiedergeben; noch duftender deine Haut schimmern im Frischlicht. Noch schöner deine Füße wandeln auf der sich wärmenden Erde.
16.
Einsam muß er, der neue Mensch, sich unter seinen Mitmenschen vorgekommen sein, einsam und in kühlen Hauch geschlungen, einsam wie auf dem Gipfel des Mont Ventoux, den er als erster erstieg: Alleine in hitzelflirrenden Steinhängen. Allein mit der neuen Sehnsucht in seiner Brust, die er mit keinem Menschen seiner Zeit zu teilen vermocht hatte und die vielleicht in jener Wanderung ihren bildhaftesten Ausdruck findet. Wir können kaum ermessen, was es bedeutet haben mußte, in jener Zeit so anders zu fühlen und damit so einzig und getrennt von allem zu sein. Als erster nach Jahrhunderten wagte er es, seine Liebe zum Mittelpunkt und Maßstab der Welt zu erklären. Seine Liebe ist alles. Die Welt wird ihm wirklich durch seine Liebe, und deutbar durch das Eigene, durch die Sehnsucht seines vereinzelten Selbst. Daß sich auch die Welt unter diesem Blick verwandeln muß, daß sie diesem liebenden Auge gänzlich neu erscheinen muß, ja, daß sich dieses Auge plötzlich selbst beobachtet und verstehen will, ist nur zu begreiflich. Damals war es unerhört. Und wir staunen über diesen plötzlichen Funken in seiner Brust, den neuen Lebensmut, der den Gestank der Gassen, das Elend von Pest und Aussatz, die Erniedrigung von Schmerz und Schmutz zu überwinden gewillt ist, und das klare Auge, das auf einmal emporblicken will zu den Hängen, die damals vielleicht noch pinienbestanden, duftend und vom Lärm der Zikaden erfüllt waren, das sich hinwendet zur harten, steinernen, sonnendurchglühten Welt und sie zum ersten Mal als etwas empfindet, das verstanden und durchwandert werden will, ohne Gleichnis, ohne Jammertal, ohne Prüfstein zu sein. Und wir bewundern das liebende Herz, das sagte: Laß uns dort hinaufgehen. Laß uns unter Pinien wandern, in Mühsal steigen, sehen und sehend dichten.
Heute jährt sich sein Geburtstag zum 700sten Mal.
S’amor non è, che dunque è quel ch’io sento?
Ma s’egli è amor, perdio, che cosa et quale?
Se bona, onde l’effecto aspro mortale?
Se ria, onde sí dolce ogni tormento?
S’a mia voglia ardo, onde ‘l pianto e lamento?
S’a mal mio grado, il lamentar che vale?
O viva morte, o dilectoso male,
come puoi tanto in me, s’io no ‘l consento?
Et s’io ‘l consento, a gran torto mi doglio.
Fra sí contrari vènti in frale barca
mi trovo in alto mar senza governo,
sí lieve di saver, d’error sí carca
ch’i’ medesmo non so quel ch’io mi voglio,
et tremo a mezza state, ardendo il verno.
Nachdichtung von Martin Opitz
ISt Liebe lauter nichts / wie daß sie mich entzündet?
Ist sie dann gleichwol was / wem ist ihr Thun bewust?
Ist sie auch gut vnd recht / wie bringt sie böse Lust?
Ist sie nicht gut / wie daß man Frewd’ auß jhr empfindet?
Lieb’ ich ohn allen Zwang / wie kan ich schmertzen tragen?
Muß ich es thun / was hilfft’s daß ich solch Trawren führ’?
Heb’ ich es vngern an / wer dann befihlt es mir?
Thue ich es aber gern’/ vmb was hab’ ich zu klagen?
Ich wancke wie das Graß so von den kühlen Winden
Vmb Vesperzeit bald hin geneiget wird / bald her:
Ich walle wie ein Schiff das durch das wilde Meer
Von Wellen vmbgejagt nicht kan zu Rande finden.
Ich weiß nicht was ich wil / ich wil nicht was ich weiß:
Im Sommer ist mir kalt / im Winter ist mir heiß.
Nachdichtung von Friedrich Wilhelm Riemer (1826)
Ist’s Liebe nicht, was dann ist dieses Meinen?
Ist’s Liebe nicht, wie nenn’ ich sie zumal?
Nenn’ ich sie gut, wie schafft sie herbe Qual?
Wenn böse, wie versüßt sie alle Peinen?
Lieb’ ich freywillig, woher Klag’ und Weinen?
Wenn wider Willen, frommt dann Thränenzahl?
Lebend’ger Tod! erquickungsreiche Qual!
Wie hast Du Macht an mir, die ich verneine?
Und hast Du sie, leid’ ich sie mir zum Schaden:
In schwankem Kahn, im Widerspiel der Winde,
Auf offnem Meere treib’ ich ohne Steuer;
An Wissen leicht, an Irrthum schwer beladen,
Bin ich nicht so wie ich mich gern empfinde,
Und fühl’ in Hitze Frost, in Kälte Feuer.
Nachdichtung von Karl Kekule (1844):
Wenn Liebe nicht, was ist es, was ich fühle?
Und ist es Liebe, was, um Gott, ist diese?
Wenn gut, wie kommt’s, daß tödtlich hier sie wühle?
Wenn bös, daß Wonne jedem Schmerz entsprieße?
Wenn ich mit Willen glüh’, was heisch’ ich Kühle?
Wenn gegen, hilft mir’s, daß die Thräne fließe?
Lebend’ger Tod, und Luft bei Flammenschwüle,
Wir zwingt ihr mich, wenn ich’s nicht selbst erkiese?
Erkies’ ich’s denn; – so fleuch, rechtlose Klage! –
So treib ich schwankend hin auf schwachem Kahne,
Und steuerlos, vom hohen Meer umsprühet;
So leicht an Wissen und so schwer an Wahne,
Daß selber ich nicht weiß, wonach ich jage;
Im Sommer eisig, Winters heiß durchglühet
15. An Claudia
Heute Morgen die Donnerschläge eines Gewitters, die sich polternd in den halbfertigen Schlaf drücken … Beunruhigungen, Sorgen. Es ist auswegslos. Ich komme an dir nicht vorbei, Claudia. Und doch kann ich nicht zu dir kommen, nicht mit dir sein. Es wäre grotesk. Von allen anderen Schwierigkeiten ganz zu schweigen.
Die Schwingen der Bäume hängen vollgesogen von Regen über den Weg. In den Pfützen stehen zitternd die Umrisse der Wagen und Baumstämme, und die Welt fühlt sich an, als sei sie schon viel später als sie wirklich ist. Der Sommer ist schon vorbei. Unsere Berührungspunkte jede Woche sind vergangen, bevor sie vergangen sind. Traurigkeit macht die Bäume schwer, und bald wird alles, was ich seit April oder Mai erlebe, wie ein immer fernerer Spiegel sein, in dem sich alles immer kleiner und kleiner spiegelt.
14. Blick
Wenn er sie streichelte, nahm er manchmal ihr Gesicht zwischen seine Hände, daß sie ihre Wangen ganz umschlossen, näherte sein Antlitz dem ihren, bis sich ihre Nasen fast berührten, und sah sie an. Sein Blick schien dann etwas zu suchen. Sie sah seine Augen in winzigen Sprüngen hin und her gehen, sah seine Stirn sich in Furchen legen, als strenge ihn etwas an, und er hielt den Kopf schief, wie um einen verlorenen Gedanken wiederzufinden. Sie liebte es, wenn er sie so ansah. Manchmal erschien ein Lächeln in seinem Mundwinkel. Manchmal bewegten sich seine Lippen, als wolle er ein Liebeswort sprechen und suche nach dem einzig richtigen, dem wahren Wort für sie. Aber er sprach nichts, sah sie nur mit diesem suchenden Blick an, hielt ihr Gesicht umschlossen und schwieg. Lange verhielt er so. Dann strich er ihr mit dem Finger über die Wange. Sein Blick verzitterte, seine Lider schlossen sich. Und er küßte sie.
Später verstand sie diesen Blick. Es war ein Blick, der etwas brauchte, weil er leer war. Sein Blick suchte sich selbst.
13. Wut
Gestern in der Mensa einer großen deutschen Universität. Ich lege die Jacke ab, ziehe den Stuhl zurück, will mich setzen, da höre ich vom Tischende her eine durchdringende Stimme:
„.… und wißt ihr, was ich besonders gern mache? Wenn ich so’n Fahrradfahrer vor der roten Ampel noch überhole: Gaaaanz rechts ranfahren, daß der dann nicht mehr rechts an mir vorbei bis vor die Haltelinie fahren kann. Und wie die sich dann immer aaaaaauuufregen! Köstlich, sag ich euch, zum Schießen.“
Es ist beschämend, aber es gibt Momente im Leben, wo einem Spucke und Worte gleichermaßen wegbleiben. Man möchte weit ausholen und einfach nur reinschlagen. Keine Diskussion, kein demokratisches Abwägen, keine Toleranz und Freiheit-des-Andersdenkenden, nein. Einfach nur eine reinhauen.
Aber es ging noch weiter:
„Und was mich besonders nervt, das sind die Ommas und Oppas, wenn die Fahrrad fahren. Können nicht einmal mehr laufen, aber dann Fahrrad fahren.“
Ich wünschte mir eine Tonne mit Pech und einen Sack mit Federn. Riskierte einen Blick. 20jähriges Mädel. Fährt fort, mit stolzgeschwellter Brust:
„Also ich bin, seit ich 15 bin, nicht mehr Fahrrad gefahren. Da hatte ich meinen ersten Freund mit Auto.“
Wie praktisch, denke ich. Starre auf meinen Teller. Zähle langsam bis zwanzig. Versuche, an etwas Schönes zu denken, einen Rosenstrauch, eine Nachtigall, ein Morgen am Meer. Aber mir fällt leider nur ein, was man mit Pech und Federn anstellen kann, und wie die Dame am Tischende unter Johlen und Pfeifen sämtlicher anwesender Radfahrer und Mittsechziger aus der Mensa getrieben wird. Es ist in hohem Maße beschämend. Aber so war es nun einmal.
Was wäre hier zu tun gewesen? Gesetzt den Fall, man gehört nicht zu den begnadeten Scharfzungen, denen in solchen Augenblicken etwas wunderbar Bloßstellendes einfällt? Angenommen man gehört zu den ernsthaften, zerquälten, verbissenen Argumentkackern? Was bliebe? Die Person in ein sokratisch-ironisches Gespräch verwickeln und langsam aber sicher demontieren? Aber woher die Gelassenheit nehmen, wenn einem die Hände zittern vor Zorn?
12. Weinen
Es gibt eine Art von katalytischer Musik, die mich innerhalb kürzester Zeit in Tränen ausbrechen läßt. Nach drei Takten beginnt die Kopfhaut zu prickeln, nach noch einmal drei Takten zieht sich der Hals merkwürdig zusammen, überall rieselt es, die Augen beginnen zu brennen. Und dann der Choreinsatz, die Synkope, die Donnerschläge der Pauken, das schon ersehnte Streichertremolo, die sonnenhaft aufleuchtende Wendung nach Dur: und es packt mich, es schüttelt mich durch und durch. Ich weine. Ausgiebig. Herzhaft. Gelöst.
Era el crepúsculo de la iguana … Es ist so schön, als wäre ein Engel vorbeigegangen und hätte mich, unwürdig-niederes Dasein, berühren wollen. Ich weiß nicht warum, eigentlich klingt diese Musik wie von der Sakro-Pop-Gruppe der katholischen Kirchengemeinde. Warum hat sie auf mich diese Wirkung, diese unglaubliche Kraft? Gestern wieder. Lang aufgestaute Sturzbäche der Erschöpfung, der Anspannung, des Vergeblichseins. Yo no voy a morirme/salgo ahora/en este día lleno de vulcanes/hacia la multitud/hacia la vida
Danach ist es gut.
Ganz bestimmte Musik muß es sein, und meistens klappt es zuverlässig: Brahms, Ein deutsches Requiem, Theodorakis, Canto General, Verdi, Requiem, „Dies Irae“ (ja, ich weiß. Trotzdem.), Mozart, Klavierkonzert A-Dur, 2. Satz, Brahms, Klavierkonzert Nr. 1, d-Moll, 2. Satz. Und anderes, von dem ich es vielleicht noch nicht weiß. Ist es beschämend, weil ich so eine Erlösung manchmal brauche und mir nicht anders zu helfen weiß, als es durch ein paar billige Töne herbeizuführen?
11. verrückt
Ach Claudia, es ist zum Verrücktwerden. Du bist so schön, daß es absurd ist, aberwitzig schön.
10. An O.
Liebe Freundin,
Da ich mich bekanntlich für das Maß aller Dinge halte, sind Schokolade und Mozart (bzw. seine Musik) nur deswegen gut, weil ich selbst sie für gut halte. Umgekehrt ist es nicht wichtig, dabeizusein, weil ich es nicht für wichtig halte. So einfach ist das. Daß andere nicht mich sondern sich selbst für das Maß aller Dinge halten, ist nicht mein Problem.
Zum Maß aller Dinge: Ich schrieb doch, wenn die anderen nicht mich sondern sich selbst für das Maß aller Dinge halten, dann ist das nicht mein Problem. Will heißen, es interessiert mich einen Scheiß, ob anderen ihr Automobil oder ihr Tote-Hosen-Konzert oder ihr Mobiltelephon am Herz liegt, und werde immer so handeln (und entsprechend verständnislos reagieren), als könne ihnen das Automobil oder das Tote-Hosen-Konzert oder das Mobiltelephon gar nicht am Herzen liegen. Und ich muß sagen, ich kenne wenige Menschen, die die Toleranz aufbringen, den Wichtigkeiten anderer nachfühlend zu begegnen, wenn es nicht ihre eigenen Wichtigkeiten (sondern sogar ihre Widrigkeiten) sind.
Übrigens war ich nicht dabei. Weder beim Fall der Mauer, noch bei jenem vielbeschworenen Anschlag. Manchmal ist man auch froh drum, nicht so sehr, weil man mit heiler Haut davongekommen ist, sondern weil einem schon nach allerkürzester Zeit die Bedeutungszumessungen, die von allen ausnahmslos an ein Ereignis herangetragen werden, auf den Nerv gehen. Ich kann so etwas schon nach wenigen Tagen nicht mehr hören. Und im Falle der USA ärgert mich schon jede noch so kleine Zurkenntnisnahme, die man jenen Verrückten zukommen läßt. Die Bedeutung eines Kolosses wie es die USA geworden sind liegt meines Erachtens immer noch darin, daß die übrige Welt an diese Bedeutung glaubt.
Mißgestimmt,
Dein T. Th.
9. Claudia (Augenpaar)
Nach zwei Wochen, während derer ich unter dem Brand und der Spannung eines Augenpaares gelebt und gedacht habe, drifte ich wieder hinab in die Nachlässigkeit und Selbstindulgenz des Nach-Innen, der Selbstbefriedigung, der Schlaffheit.
Letzten X-tag einige hastige, sich selbst kaum glauben wollende Worte, etwas wie ein Gespräch, ein nur flüchtiges Betasten und doch der Anfang der Wahrnehmung der Wahrnehmung des Anderen, und der Anfang des Wieder-Sprechens. Ich glühte vor Aufregung, wie in früheren Jahren, und nichts wollte hinterher Bestand haben, was nicht ihr Wort war.
Und wie schon so oft, so sammle ich jetzt wieder die Stücke dieses kurzen Wortwechsels auf, finde sie wie verstreute Scherben eines kostbaren, doch rätselhaften Mosaiks, die ich zusammensetze, um dann grübelnd seinen Sinn zu entdecken zu versuchen.
8. Claudia (Nympha)
Nach den Gefühlsstürmen gestern heute nur noch eine böse Niedergeschlagenheit. Eine atemlose Nähe mit hastig zuckenden Blicken und sogar zwei Worte, die ich heimlich auf mich beziehe. Sie ist die Nymphe. Die Halbgöttin mit den klugen Augen, dem Mutterkinn, den schönen Händen; die Nymphe mit der schönen, selten zu hörenden Stimme, die in all ihrer Jugend, ihrem Frischsein und Jungsein doch so viel älter ist als ich: ich bin ihrer überhaupt nicht würdig, sie aber einem Gotte. Kaum kam ich nach zwei Stunden wieder zu mir. Ich wollte. Ich mußte. Ich verlangte nach. Ich entbehrte. Stunden blieben ungelebt liegen. Herzschläge vergeudeten sich an ein leeres Zimmer. Vor mir Bett, stiller Raum, Fenster mit blühenden Sträuchern, und überall herrscht Frühlingsauswegslosigkeit. Ich entbehre, und alles, was von irgendeinem Wert wäre, spielt sich fern von mir ab.
7. Nachwelt
In einer Welt Lieder singen
– in dieser Welt Lieder singen –
in der die Sprache der Engel nicht mehr
verstanden wird,
muß sein,
als betrachte man den Duft einer Rose,
als wolle man den Sonnenuntergang riechen,
die Bäume wachsen hören.
Wie Splitter bleiben unsere Blicke haften
an der Welt, doch sind sie uneins,
doch will für uns sich eins in eines fügen.
Dazwischen müßte man sehen hinein,
in die eigne Blindheit, zwischen Blick und Blick,
ins Dunkle.
Hätten wir sie wenigstens einmal gesehen – wie schwer
viele uns das Leben, und wie süß
wär jeder Schritt und voll vom Ohnesie, und Schmerz und Mangel,
wie köstlich wäre es, sich nicht die Augen verhüllt zu haben,
mit ihrem Anschauen im Herzen weiter und weiter zu gehen, wie köstlich und schwer
ihnen nicht folgen zu können, zurückbleiben in der Welt ihres Fehlens,
übrigsein, ihnen verfallen sein, und doch gekettet unter den
Himmel, Erdschmerz im Auge:
Sie geschaut haben.
Und doch haftet ihr so etwas an, dieser Welt,
ein großes Nach, ein Dämmern, wie der
Schatten eines verjährten Traums. In den
Bächen ist es, und in jener Stunde, so schwierig zu kennen,
zwischen zwei Schnabelvoll Amsel, des Abends.
Wer aber erinnert sich? Sind wir es, die das Holde haben
schauen dürfen? Was erinnert sich in uns, wenn wir
das Durchziehende zu ahnen glauben?
6. Aphroditeopfer
„Aphrodite ein Opfer darbringen“ – auf einem hohen silbernen Altare
inmitten des schwärzlichen Staubs der Straßen, zitternd wogend wabernd von
nichtsahnendem Lärm
ein Opfer, sei sie gnädig, nach deren Frucht und Gabe wir dursten alle Tage, und lange schon
brennt uns das Haupt, die Glieder sind stumm, der Atem geht uns müde aus dem Körper
kein Himmel mag sich mehr
in unseren Augen spiegeln.
Ach! Kämest du, kämst du herab, oder entstiegest du doch noch einmal
noch einmal!
der See, und rührtest uns
unseren traurigen, dem Vergessen anheimgefallenen
Scheitel!
Aber wo willst du uns finden, wenn die Opfer stumpf werden unter den
harten Felsen so großer Schönheit – nennen wir’s so –
unter den Schreien des Entzückens, unter dem Stöhnen der
jubelnden Verzweiflung, der Verzweiflung die
aus den leeren Händen der Tänzer bricht, der Verzweiflung der
Ruhlosverzückten der Suchendbegeisterten, unter dem Angstblick der Verzweiflung
des Morgens und der vollen Aktenkoffer und
sanktionierten Träume – gehet hin in Frieden, ich laß euch diesen
Traum und diesen noch, wenn ihr brav seid –
Und wo willst du uns begegnen, wenn unser Blick vor Pflasterscheinen blind ist
und wie Spiegel das Licht unserer Augen, denen wir
begegnen und sonst niemandem?
Wo?
Könnten wir dich bemerken, wenn du unser Opfer erhörtest?
Sähen wir dich denn?
Wollen wir’s, oder haben
wir genug damit, daß wir die See bändigten, deren Gefahren uns
nicht mehr am Leben erhalten, lange nicht mehr,
genug auch damit, daß wir den Mondschein aus unseren Fenstern verbannt haben
daß er uns nicht länger beirre, anrenne, verfluche, beschwöre, uns
riefe, hinaus hinaus hinaus zu ihm
uns in lebendige, wirkliche, zerstörerische, gleißende, Jubelnde
Verwirrung zu stürzen, zu senken, zu taufen? Zufrieden?
Ja wir sinds, wir Zufriedenen, Glücklosglücklichen
Heiligen ohne Seele, Seeligen ohne Heil, Traurigen ohne Schmerz
Singenden ohne Musik Stimme Klang, wir sind – ein Schatten, den einst
wir uns erdachten, pflegeleicht.
Ja, wo erscheinest du? Nicht in der See, von der uns abwendeten
(denn sie vermag uns nicht mehr zu töten),
Nicht in der mondübergossenen Heide, unter dem betörenden Wacholder nicht,
und nicht unter der Last des Mittags, nicht würdest du
mehr angelockt vom Hauch der Sonne auf unserer Haut
geruchlos sind wir und sauber, kein Odem mehr stiege von unseren
begehrenden Körpern auf zum Himmel, da die Götter wohnen und du
unter ihnen
und nicht störtest du unseren Schlaf,
den wir ohne Träume schlafen, sicher und
verschlossen hinter den Fensterläden.
Nein wir
können dir noch manches Opfer bringen, und die Altäre
mögen silberner noch werden
und der Himmel nicht hoch genug ihrem Glanz
Du erhörst uns nicht mehr
nicht
hier und nicht
in den Tagen des Übermüdetseins
nicht in den Tagen
des verbotenen Irrseins
nicht in den Tagen
des angepflanzten Schmerzes, der in erträglichen Dosen
verabreicht wird, nicht in den Tagen
der Erforschung unserer Herzen
nicht heute
nein
heute nicht.