Endlich zerblasenes Blau, blaß aber hell, sehr hell über den Ahornbäumen, und das Licht zittert, als werde es von einem ganz nahen Meer emporgespiegelt. Hinter den Büschen, wo sonst Flohmarkt ist, hört vielleicht das Land auf, und dahinter schäumen die Wellen. Drinnen hört man nur die Klimaanlage, doch wenn man hinaussieht in dieses Unruheblau, dann ist es, als müßte einen zusammen mit kühlfeuchtem Wind auch das Brausen der See anspringen, wenn man die Tür aufdrückt.
Monat: September 2004
Greinstraße
Von meiner Warte aus: Silberahornbäume, die nicht gelb werden wollen und sich in ihr Silbergrün verbeißen, als wollten sie die Zeit anhalten. Aus einem andern Fenster flammt es morgens feuerrot durch den Nebel. Die Mehlbeeren hängen, wie vergessene Murmeln eines müden Kindes, im satten Laub, auch dieser Baum ist nicht müde. Der Sommer löst sich widerstrebend aus dem Himmel und dem Geruch des Regens. Manches hängt an ihm fest und will ihn nicht gehen lassen. Heute Morgen sogar ein Zaunkönig, kurzes, wildes Schmettern und Trillern (als ob nichts wäre …), seine Stimme allein, rasch wieder verstummt. Dann Schweigen, wie über eine Peinlichkeit. Dann übernahmen wieder Elstern das Kommando.
Gespräch
gerade beim blättern über ein lesezeichen gestolpert. verblüfft endlich zur kenntnis genommen, daß die wolken in der tat heute unausweichlich sind… das lesezeichen war hier: christian morgenstern: an die wolken
worauf hast du gewartet?
“… hinwandelnd durch den dämmervollen Garten/träum ich nach ihren helleren Geschicken/und fühl der Stunden Weiser kaum mehr rücken/so folg ich über Wolken ihren Fahrten …”
Worauf ich gewartet habe? Aber … ich warte immer noch … immer noch …
es war wohl einfältig zu fragen… ich hoffe, du hast nicht vor lauter warten das schlafen vergessen..was machst du mitten in der nach noch wach?
gar nicht einfältig … zumal ich selbst nicht so recht weiß, worauf ich warte … vielleicht sollte ich auch mal etwas TUN, anstatt zu warten.
doch einfältig, weil ich das warten doch ebenso beinahe schon zum selbstzweck erhebe. gut, mal ein ganz dicker stein im glashaus geworfen: solltest du vermutlich. vor allem wenn du es schon selber sagst. wie ich damals am beispiel fausts lernen durfte, macht man sich nicht weniger ‘schuldig’, wenn man nichts tut. aber einsicht ist noch nicht die besserung…
ach ja, Du hast ja recht … aber das Handeln fällt schwer, weil es bedeutet, notwendigen Schmerz zuzufügen. Und Du hast auch damit recht, daß ich mich schuldig mache, und umso mehr, je länger ich warte …
Aber ich habe Dir noch keinen guten Morgen gewünscht. Das sei hiermit nachgeholt!
Auch Dir einen guten Morgen (sogar ein verirrter Sonnenstrahl hat gerade seinen Weg hierher gefunden).
Ich bin wohl weder wissend noch weise genug, Dir zu raten. Doch mir scheint, Du weißt im Grunde, was zu tun ist?
ja, das weiß ich nur zu gut. Aber … kein aber.
(hier auch ein Fädchen Sonne … und jemand hat sogar das allerblasseste Blau über den Himmel gepustet.)
nein, wirklich kein aber. eigentlich ist es gar kein glashaus mehr, in dem ich sitze… ich hab die wände längst zerstört und friere ein wenig und lache dabei. und ich täte, wenn ich mehr tun könnte und es mir einfiele und richtig schiene.(solltest du wirklich warten, daß ich sage tu, dann: tu!)
Da Du in Glashausruinen frierend lachst — schließe ich richtig daraus, daß auch Du tatenlos weißt, was zu tun wäre?
in bezug worauf? bis auf das eine große lernen habe ich so langsam alles getan was ich konnte, stück für stück weiter gestrickt und gewoben, mich auch verheddert, sicher. aber außer noch einmal mehr alles aufräumen bleibt nun nicht mehr viel, was ich noch zu tun wüßte, nein.
In bezug auf das Große und Ganze? Das Leben? Das Universum und der Rest?
Aber ich bin wohl noch gut dran, wenn ich wenigstens weiß, was ich tun sollte. Schlimmer ists wohl, nicht weiterzuwissen.
Aufräumen und entheddern: Vielleicht einen langen Gang über verschlammte Felder, die Stimme in die Luft werfen und sehen, wie weit die Gedanken reichen. Zurück im Kerzenschein vielleicht mehr Klarheit und einen kühleren Kopf. Ich weiß es nicht.
… ich glaube, ich bin heute etwas verbiestert und vor allem humorlos … ich hoffe, ich gehe Dir nicht auf die Nerven …
der regen zur schlammherstellung setzt hier gerade ein. auch wenn ich kein feld in der nähe weiß. mich nerven? dann bist du nicht verbiestert sondern verblendet. aber ich bin nicht gut darin, launen zu verbessern, ich weiß. und wieder einmal tut es mir leid, aber.. wofür sollt ich mich entschuldigen, nein heute nicht.
Du brauchst meine Laune gar nicht zu verbessern. Meistens bin ich froh, sie zu haben, so oder so. Ich will nur niemandem damit auf den Nerv gehen. Und wünsche mir, daß mich jemand erträgt. Und wenn ich das schon mal weiß, bin ich auch gleich besserer Laune.
Entschuldigen??? Ja, warum solltest Du? Und wofür?
zu sagen ich weiß es nicht, wäre falsch. ich kann mich nicht entscheiden. aber man soll sich nicht so oft entschuldigen. vor allem wenn man objektiv vermutlich…jetzt bin ich aber völlig im schlamassel.
glaubst du, du seist schwer zu ertragen?
(hoffe es funktioniert…)
hab einen schönen tag!
Oh, Polly, wie lieb von Dir! Danke!
(ich bin nicht schwer zu ertragen, glaube ich, fürchte mich aber davor, es zu sein)
tja, so bin ich bekanntlich. anderen auf die nerven zu gehen ist seltsamerweise auch eine meiner größten befürchtungen.
dies sind die tage desverwunderten kopfschüttelns. aber zum denken bin ich nun zu müde. gute nacht und guten morgen.
E.s Wohnung
Mantelloser Schlaf, schutzloser Regen, der Fernsehturm stochert im Nebel und blinzelt mir unheilvoll zu aus einem scharfroten Auge. An. Aus. An. Mechanisch. Erbarmungslos exakt. Zerstörte Trinkergesichter lauern an der Supermarktkasse. Genervt klappert der Müllschlucker und schluckt. Tropfen fallen von stillstehenden Fahrradspeichen. Oben, hoch oben, die ersten erleuchteten Fenster, sehr weit weg.
Der Herbst ist das, was sonst, und wie jedes Jahr scheue ich mich, einzutreten. Meine liebste Jahreszeit, und doch ist sie mir Aufgabe, das Bewältigenmüssen von etwas, das gelebt sein will. Aber wie? Wie?
Paul-Schallück-Straße
Plötzliche Todesangst jenseits der Dünnhaut des Schlafs: Schlimm nicht der Gedanke an das Ende an sich, sondern die Wucht der Einsicht, daß ich nichts, aber gar nichts von dem, was mir wirklich wichtig ist, geschafft habe. Und so wäre es nicht genug. Zu viel lastend Ungelebtes. Zuwenig Gelebtes. Es wäre einfach nicht genug. Es wäre bitter.
Aber täuschen wir uns nicht. Es wird wohl nie genug sein.
Den reisenden Eltern
Nun wart ihr dort. Und unter wärmern Sonnen
seid ihr gewandelt, in den Händen Licht,
und trugt des Hundssterns Glanz im Angesicht.
Nun müßt ihr heim: Da sind der Tage Wonnen,
ach!, über Nacht euch wieder öd geworden
und der Platanen drange Sonne stumpf
und voll von Weh. Der Nymhe Marmorrumpf
friert unterm Brunnen, und der Wind heißt Norden.
Der Wein schmeckt schal und schon nach nächstem Morgen.
Ihr wollt noch wachsein, und die Wochen neuern:
Und wollt vom Jetzt euch noch ein Fristchen borgen.
Doch weil der Ferne Reiz sich in euch stemmt,
müßt ihr zurück zu heimatlichen Feuern:
Denn Fremdes ist nur süß, solang es fremd.
Echtraumtraum
Vor einigen Wochen von der Vielfarbigen geträumt. Eine nächtliche Fußgängerzone, Kleinstadt, drei Gassen kreuzen sich unter dem Streuschein unsichtbarer Laternen, vielleicht ist es auch der Mond, der den stillen, von schweigenddunklen Häusern oder Läden begrenzten Raum mit Nebellicht füllt. Wir hatten ein Treffen vereinbart. Stille, kein Mensch unterwegs. Nur sie ist da, wartet schon, sieht mich nicht. Ich nähere mich. Wußte ich schon, wen ich treffen würde, wußte ich es von Anfang an? Ich glaube ja. Sie steht abgewandt. Es ist Th. Ich weiß es, ich muß es nicht sehen. Sie bemerkt mich, dreht sich um. Erkennt mich.
Das entscheidende Bild: Th.s in Fassungslosigkeit aufgerissene Augen. Ihr Erschrecken, daß ich es bin.
Diadiktyologie
Der Zauber hat lange schon zu wirken begonnen, wenn man ihn endlich merkt. Und wenn man zu ahnen beginnt, wie mächtig der Bann ist, hat er seine Macht voll entfaltet. Diese Weblog-Geschichte ist schon seit einiger Zeit dabei, selbständig zu arbeiten, eigene Kräfte zu entwickeln und die Lenkung zu übernehmen. Wohin geht es? Drei Monate schreibe ich jetzt hier, und schon ist das alles gar nicht mehr wegzudenken. Verwirrend. Es gibt für so etwas kein Vorbild, nichts durch irgendeine Ähnlichkeit Vergleichbares, das auf die Art dieser Beziehungen, dieses Austauschs und Abtastens verwiese. Etwas wirklich Neues scheint da zu entstehen, oder nein, ist schon entstanden, ist schon da und wirkt mit Macht, noch ehe wir es einordnen oder irgend etwas darin voraussehen könnten. Es ist eine völlig neue, sehr ungewohnte, manchmal waghalsige Art, sich zur Welt zu öffnen – und gleichzeitig unverwundbar verschlossen zu bleiben. Vielleicht verstehen wir oft selbst nicht, wie tollkühn das alles ist, weil wir immer im Nebel tappen, und wissen, daß die anderen auch nichts sehen können. Wer hätte unter diesen Bedingungen noch Scheu, sich der Kleider zu entledigen und nackt zu tanzen, und dabei den anderen lautstark zuzurufen, was man gerade tut? Nur die heimliche Angst bleibt und prickelt, es könnte einmal alles auffliegen und der Nebel zerreißen und uns, wie wir gerade nackt tanzen, in hellem Sonnenlicht bloßstellen. Und diese Angst und dieses Prickeln schleichen sich in unsere Träume. (Und wollen wir es nicht manchmal?)
Wir werden Wege finden, dieses Merkwürdige zu prägen, es zu leben, uns darin widerzuspiegeln und wiederzufinden. Dies ist kein Gespräch in irgendeinem schon bekannten Sinn. Dies ist kein Kundgeben des Eigenen, wie wir es aus irgendeiner früheren Welt kennen könnten. Und wenn wir uns voneinander angezogen fühlen, und die andere Stimmen auf einmal ganz nah klingt im Nebel, dann sind diese Nähen keine Freundschaften in irgendeinem ihrer bisher erlebten und mit Namen versehenen Sinne und Weisen. Es ist eine ganz neue, zum ersten Mal geführte und zu führende und auszugestaltende, noch zu formende, noch auszuprägende Form der Beziehung. Aber wie leicht kann man sich, können wir einander und uns selbst täuschen – weil wir ausgerüstet mit alten, in einer anderen Welt erprobten, in einer anderen Welt entwickelten Vorstellungen und Begriffen in diese neuen Beziehungen purzeln.
Listen
- Lassen sich in Minutenschnelle erstellen
- Führen die abstrusesten Gemeinsamkeiten der gegensätzlichsten Dinge vor Augen
- Lassen sich über alles führen
- Sind ein probates Mittel der Selbstdarstellung
- Schaffen Klarheit
- Können Verwirrung stiften und sind ungenau
- Können widersprüchlich sein
- Können selbstbezüglich sein
- Schaffen Kontraste
- Orientieren
- Können formalen Ordnungsprinzipien gehorchen
- Können inhaltlichen Ordnungsprinzipien gehorchen
- Können undurchschaubaren Ordnungsprinzipien gehorchen
- Können Ränge und Abfolgen abbilden
- Können als Steigerung oder als Bogen formuliert sein
- Sind manchmal offen und regen zum Weiterführen an (unvollständige Liste)
- Lassen manchmal kein weiteres Element zu und zählen die Gegenstände einer Domäne vollständig auf (vollständige Liste)
- Sind geordnete Mengen
- Können Pro und Kontra vor Augen führen
- Können verschweigen
- Können mit scheinbar Unpassendem überraschen
- Sind blau. Manchmal auch grün.
- Lassen sich iterativ auf sich selbst anwenden (1Listen von (2Listen von (3Listen … (nListen)n…)1 von Elementen
- Sind modern
- Sind beliebt
- Wollen auch bei mir manchmal vorkommen
Dinge, die gut riechen
- frischgeschnittenes Holz
- Harz
- die Küche meiner Großeltern
- frisch gerösteter Kaffee
- alte Bibliotheken
- ein Pinienhain
- Liebe
- Föhrenborke
- der Schoß einer Frau
- Magie Noir von Lancôme
- Nebel
- verschwitztes Leder
- Teeläden
- Habit Rouge von Guerlain
- Zikadengezirp
- getragene Unterwäsche
- Curry
- Sonne
- Kußspeichel
- eingetrockneter Samen
- mediterrane Häfen
- das Meer
- ein Sonnenblumenfeld um 3 Uhr morgens
Gar nicht so schlecht (und besser als ihr Ruf) sind:
- reifer Camembert
- Fischmärkte
- Pferdemist
- Ställe
- Chanel No 5
- Monatsblut
- Zigarrenrauch
- gebrauchte Bettwäsche
- Schwimmbäder
- Weihrauch
- grüne Heringe
- Fuchsurin
- Schafe
- das innere mancher Kraftfahrzeuge
- nasse Wolle
- Bahnhofshallen
Lieber nicht
- frische Farbe
- Dachböden
- Klassenzimmer nach zwei Stunden Latein
- Turnhallen
- Umkleidekabinen
- U-Bahnstationen
- U-Bahnzüge
- manche U-Bahn-Passagiere
- neue Klamotten
- Weichspüler
- braungewordener Apfel
- Davidoff Cool Water
- Telephonzellen
- Ginkofrüchte
- Haarspray
- künstliches Fruchtaroma
- Kondome
- Großküchen
- eine Wohnung post festum
- Brauereiabgase
- Zahnarztpraxen
- die Hausdruckerei der Universität zu Köln
- ein Schankraum um 8 Uhr morgens
Den reisenden Eltern
Auf Wege, die in fremde Sonnen führten,
begabt ihr euch, noch eh es wollte tagen,
und ließt euch dorthin, wo noch Traum ist, tragen,
auf Straßen, die schon viele Füße spürten.
Jetzt seht ihr Myrten stilles Licht umträumen,
und schmeichelt sicher euch der Pinien Duft.
Der Mittag sengt, es zirpt die enge Luft,
um Stämme, die ins weite Blau sich bäumen.
Das Ferne hoher Städte, sanfte Mauern
denk ich mir für Euch aus, eh es will tagen,
und steh am Tore unter Sternenschauern.
An Wegen, die in fremde Sonnen führen,
richt ich an euer Fernsein meine Fragen:
und träume dann, mein Bündel selbst zu schnüren.
Gespräch (zum Eintrag vom 11. September 2004
(Norberto)
Wichtig wäre auch,
über den Umgang mit den vielen, vielen Fremden nachzudenken, welche durch die Wälder sausen, die Räume bevölkern, nachts in eine Disco gehen möchten und auch noch Geld verdienen wollen, wovon indirekt (über Steuern) dann die Bibliotheken finanziert werden können.
(T. Th.)
welche Fremden?
Im übrigen ist es mir ganz recht, wenn die Leute, statt über den Wald herzufallen, sich in der Disco taube Ohren verschaffen, oder die Leihbibliothek finanzieren. Leider glauben auch diese, sie müßten mal raus aus der Stadt. Einsamkeit ist nun mal eins von den widersprüchlichen Gütern, deren Inanspruchnehmen mit ihrer Vernichtung einhergeht. Wenn alle einsam sein wollen, ist es keiner mehr. Wenn alle das Schwimmbad nutzen wollen, kann es keiner mehr richtig nutzen, dasselbe gilt für die Bibliotheken. Zum Glück (noch) nicht für Schulen, wohl aber schon für Universitäten.
Was Dein Kommentar aber mit meinem Eintrag zu tun hat, verstehe ich nicht ganz.
Um trotzdem noch dabei zu bleiben: Es ist ein alter Hut, daß viele Errungenschaften, Tätigkeiten, Angebote und Leistungen, vor allem kultureller Art, von allen Angehörigen einer Gemeinschaft finanziert, aber nur von einer Minderheit genutzt werden und auch nur genutzt werden können. Das ist insofern nicht traurig, als sich die Mehrheit überhaupt nicht dafür interessiert; es ist aber doch traurig, weil sie ja dafür teuer zahlen und ihnen etwas aufgebürdet wird, das sie nicht einsehen können (anders etwa als beim Gesundheitssystem, das auch die Gesunden wollen müssen); auch ist es ein flaues Gefühl, im Kulturschaffen finanziell von denen abzuhängen, die sich für Kultur nicht interessieren.
Auf der anderen Seite bedeutet der gegenwärtige Zustand nicht, daß es der einzig denkbare Zustand ist. Eine Gesellschaft, in der das Interesse an Kultur bei allen ihren Mitgliedern gleichermaßen ausgeprägt wäre, dürfte kaum das Ende der Kultur bedeuten.
Ich schweifte ab. Und habe immer noch nicht verstanden, was Dein Kommentar bedeutet.
(Norberto)
Mein Kommentar sollte daran erinnern, dass es noch andere Dinge gibt, die wichtig sind. Da du nur von deinen Freunden usw. gesprochen hast, habe ich daran erinnert, dass wir wesentlich auch mit Fremden zusammenleben. Dieser Aspekt des öffentlichen Lebens, wo auch Geld verdient werden muss, fehlt in deiner Liste.
Etwas allgemeiner formuliert: Du fragst nicht, unter welchen Bedingungen die von dir genannten wichtigen “Dinge” realisiert werden können; du nennst nur schöne Ziele, einen Wunschkatalog. Aber bekanntlich sind die Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat, vorbei.
(T. Th.)
Ich wünsche nicht. Ich mache darauf aufmerksam, daß das, worauf es ankommt, mit Geld nicht zu kaufen ist. Und daß wir (ja, wir) trotzdem wie die Irren dem fehlenden Gelde hinterherjammern. Das mag eine banale, ja triviale Einsicht sein, wenn es aber so ist, warum sieht die Welt dann so aus wie sie aussieht? Natürlich kann einem das Liebesleben gestohlen bleiben, wenn der Magen knurrt; ich glaube aber nicht, daß es möglich ist, mich in dieser Weise mißzuverstehen. Sollte sich in dieser Auflistung jemand nicht wiederfinden, so sei ausdrücklich darauf hingewiesen, daß es sich um eine rein persönliche Werteliste handelt, die niemandem aufgezwungen werden soll und mit der ich auch keine Politik zu machen wünsche. Wer sich aber darin wiederfindet, der versteht vielleicht, worauf ich hinauswill. Auch möge jeder sein eigenes in Gedanken hinzufügen.
Die Leihbibliotheken tanzen hier etwas aus der Reihe, da sie mit Geld verwirklicht werden, das irgend jemand verdienen muß. Aber die Bereitschaft, Kunst zu machen, ein Buch zu schreiben, die Fallgesetze zu studieren — die ist vom bereitstehenden Geld völlig unabhängig. Das Buch steht in dieser Liste für die künstlerische und überhaupt kulturelle Lebensäußerung und Lebensverwirklichung — wozu ich auch Wissenschaft und Religion zählen möchte.
Im übrigen ist diese Erläuterung schal und überflüssig und nimmt meiner Auflistung ihren Reiz. Wenn sie überhaupt einen hat, das sei dahingestellt
Was wichtig ist
- ein erfüllendes Liebesleben (für Geld nicht zu haben)
- viele viele Freunde (für Geld nicht zu haben)
- die Nähe und das Gespräch geliebter Menschen (für Geld nicht zu haben)
- Bücher (noch gibt es öffentliche Leihbibliotheken)
- die Zeit, Tage in schöpferischer Muße hinzubringen (für kein Geld zu haben – oder für sehr viel)
- wilde Wälder, saubere Seen, klare Luft (für Geld nicht zu haben)
- menschenleere Räume (für Geld nicht immer zu haben)
- gutes Essen (für wenig Geld zu haben)
- Schreiben (für Geld nicht zu haben)
- nächtliches Schweigen und eine Nacht unter freiem Himmel (für Geld nicht immer zu haben)
- sich an den Lebenswundern dieser Erde freuen dürfen (für Geld nicht zu haben)
Das beste Stück
Gibt es einen schöneren, eleganteren, praktischeren, sinnlicheren Gegenstand, als gerade ihn? Er ist doch unübertroffen. Keine noch so ausgefeilte Technik kann ihn ersetzen, wenn es wirklich darauf ankommt. Er ist immer zur Stelle, funktioniert auch bei Stromausfall, ist nahezu unverwüstlich sowie leicht und unkompliziert zu handhaben; auch ist er pflegeleicht und meist liefert befriedigende Ergebnisse. Seine langgestreckte Form, seine Steifheit und die Glätte seiner Haut bestechen durch ihr schnörkelloses funktionales Design. Auch für das Auge ist er ein Genuß, und manch einen überkommt schon bei seinem Anblick der Wunsch, ihn in die Hand zu nehmen und damit herumzuspielen. Zwischen den Fingern fühlt er sich gut an, ganz gleich, ob er der eigene ist, oder einem anderen gehört.
Manchen Menschen genügt es, ihn ab und an zur Hand und in selbige zu nehmen; andere dagegen zögern nicht und nehmen ihn zuweilen auch gern in den Mund, vor allem dann, wenn sie nicht weiter wissen; andere wiederum stört der herbe Geruch und Geschmack, so daß sie schon der Gedanke, so etwas zu tun, ekelt; es soll aber sogar solche geben, die daran lutschen, ja, die gar darauf herumkauen – welch letzteres aber eine Unsitte und wovon dringend abzuraten ist.
Zwar ist er von Natur aus schön und praktisch und durch nichts zu verbessern; verspielte Menschen jedoch, Mädchen zumal, setzen ihm manchmal eine Gummikappe auf, die allerlei Verzierungen haben kann aber nicht muß: Noppen, Rillen, Fransen, Büschelchen, ja manche mögen es, wenn er ein Fellmützchen trägt. Derlei Zierat kann sogar sacht parfümiert sein. Erdbeere, Banane und Vanille sind gängige Noten und besonders bei Schulmädchen sehr beliebt. Doch so, wie er ist, ist er schon seine eigene Perfektion; alles, was man ihm sonst angedeihen läßt, alles, womit man ihn ersetzen mag, jede angebliche Verbesserung: sie sind doch nur zierendes Beiwerk. Deshalb wir man immer wieder auf ihn zurückkommen.
In manchen Kulturen bewahrt man ihn in einem Futteral auf. In anderen wiederum legt man nicht so viel Wert auf eine Verpackung. Jedenfalls sollte man ihn nach seinem Gebrauch wieder ordentlich verstauen.
Manchmal ist er hart, manchmal weich, je nach Bedürfnis, Anlaß und Vorhaben; am besten aber ist er zu gebrauchen, wenn er angespitzt ist. Man sollte aber hinterher saubermachen, damit nicht irgendwann jeder Ort, wo man ihn gebraucht hat, von seinen Spuren vollgesaut sei. Wird er jedoch oft und lange gebraucht, oh: so schrumpft er irgendwann und schnurrt zu einem lächerlichen Stummel zusammen. Er kann zärtlich sein und sacht, oder kraftvoll Akzente setzen; er kann ungestüm und unüberlegt sein, oder zögerlich und zagend seine Arbeit tun. Manchmal dauert es sehr lange mit ihm. Manchmal ist man schneller mit ihm fertig, als man gedacht hat. Und manchmal, ja, manchmal schafft er Werke von Bestand. Am schönsten aber ist es, wenn er eine Liebesbotschaft spricht:
Nach dem Warten
Singula quid referam? nil non laudabile vidi
Nach dem Warten: Computer runterfahren, Fenster zumachen, noch ein Schluck Wasser. Tief durchatmen. Tür abschließen. Gang, endlos langer Gang. Glastür. Herzklopfen. Treppenhaus, noch eine Glastür, noch mehr Herzklopfen. Das Foyer. Verschwitzte Hände, trockener Mund. Zittrige Beine. Hastiger Abtastblick von Gesicht zu fremdem Gesicht. Da: Du. Du von weitem. Du näher. Du ganz nah.
Dein Lächeln. Neu, so neu, und ich erschrecke darüber, wie wirklich Du in Wirklichkeit bist, als hätten sich alle meine Gedanken an Dich (der letzte vor dem Einschlafen, der erste beim Erwachen) mit einem Mal als falsch und andirvorbei erwiesen; nein, leuchtet es mir plötzlich ein, so bist Du ja in echt. Und es schmerzt mich zu sehen, daß Du so viel schöner bist, als ich mir Dich, solange Du fern warst, in Erinnerung rufen kann, übersteigend schön. Plötzlich sind nicht drei Wochen, sondern Monate vergangen.
Ich setze mich neben Dich, die Worte bröckeln, kantig und zittrig, versperrt in der Kehle liegend, und während sich der Herzschlag langsam beruhigt, beginnen wir, uns unsere eigene Sprache wiederzuerfinden und wiederzuschenken … langsam öffnen sich die Tore zu einem herrlichen, viel zu rasch dahinrollenden, viel zu früh wieder schrumpfenden Spätsommernachmittag.
Ein Nachmittag, der erst lange vorbei sein muß, ehe Worte ihn erfassen, und rückblickend neu erschaffen können.
Den reisenden Eltern
Das Stiegenhaus ist still von eurem Tritte
die Spiegel leer von eurem Angesicht
die Ladenritze träumt ein Fädchen Licht
ins Dunkel und der Kies hört fremde Schritte
Verstellt ist jeder Raum von eurem Fortsein
der Flur ertastet dämmervolles Fehlen
indes die Tore ruhn wie blinde Seelen
die zwischen Hiersein stehn und zwischen Dortsein
Wie eine Frage steht das Haus die weiten
Gemächer offen Räume hingeschmiegt
an lang verhallte Schritte auf den Wegen
So horcht das Haus euch nach. Die Klinken streiten
der fremden Hand der Brunnen ist versiegt
die Post lauscht eurem Schlüssellaut entgegen
Warten
Denken: Nur nicht. Träume aus dem Fenster lehnen: Nein, der Himmel ist zu voll mit Himmel, der Silberahorn mit unerträglichem Silber, die Wege sind Wege und zappeln, die Sträucher kitzeln mich. Alles Träumbare ist schwer und nimmt mir den Atem. Nachdenken: Neinnein. Habe mich schon müdegedacht.
Ich blicke auf die Uhr: Halb elf. Noch zwei Stunden. Wie soll ich, wie soll ich. Das durchstehen. Schreiben, vielleicht, schreiben hilft immer. Fast immer.
Wasser trinken. Luft holen.
Eine halbe Stunde später. Ich schaue wieder auf die Uhr.
Fünf nach halb elf.
Ich werde verrückt. Ich werde auf der Stelle verrückt —
Geburtstag
In einer Anthologie, einem Schulbuch meiner Mutter mit dem Titel „Deutsche Gedichte“, bin ich ihm zum ersten Mal begegnet, als einem, der es verstand, Natur in mir damals völlig neue, wundersame und zaghaft berührende Bilder zu fassen. Ich lernte ihn als einen Meister des Bildes kennen, der mit ein paar Strichen die Stimmung einer Nacht, die Süße eines Frühjahrs, die Leichtigkeit eines Sommernachmittages heraufzubeschwören, festzuhalten, bei ihrem eigentlichen Namen zu nennen wußte. Ich verstand ihn und seinen Blick auf die Welt, so wie ich auch plötzlich ein Bachgemurmel in der Dunkelheit einer Sommernacht auf eine ganz neue Art begriff. Lehrte er mich sehen? Nein, er zeigte mir, was in meinem Blick und meinem Horchen als Verästelung von Wahrnehmungsmöglichkeiten schon eingebettet lag. Er zeigte mir das Innere des Blicks, des eigenen, dessen Vielfalten ich gleichwohl erst viele Jahre später begriff.
Dazwischen verlor ich ihn aus den Augen, ja mich störte seine religiöse Ader, sein Priestertum, seine schwäbische Gemütlichkeit. Daß es auch ungemütlich sein kann mit ihm – auch das lernte ich erst später. Versäumt habe ich es, mich mit ihm näher zu beschäftigen. Von seinen vielen Dichtungen kenne ich nur die allfällig-bekannten. Der heutige Tag soll mir Anlaß werden, meine Neugier auf diesen Dichter, sein Werk, sein Leben von neuem anzufachen. Wer weiß, was er mich noch sehen lehren mag.
Heute jährt sich sein Geburtstag zum 200sten Mal.
Um Mitternacht
Gelassen stieg die Nacht an Land,
lehnt träumend an der Berge Wand;
ihr Auge sieht die goldne Waage nun
der Zeit in gleichen Schalen stille ruhn.
Und kecker rauschen die Quellen hervor,
sie singen der Mutter, der Nacht, ins Ohr
vom Tage,
vom heute gewesenen Tage.
Das uralt alte Schlummerlied –
sie achtet’s nicht, sie ist es müd;
ihr klingt des Himmels Bläue süßer noch,
der flücht’gen Stunden gleichgeschwungnes Joch.
Doch immer behalten die Quellen das Wort,
es singen die Wasser im Schlafe noch fort
vom Tage,
vom heute gewesenen Tage.
Kurzelegie (Frage an Tiresias)
Wenn doch der Liebesgenuß, du sagtest es selbst, für die Frauen
neunmal so hoch ist wie der, welcher als Mann du empfandst:
Wissend darum, warum hast du, der Venus beiderseits kundig,
als sie den Weg dir gekreuzt, wieder die Schlangen verletzt?
Horaz, Episteln
inter spem curamque timores inter et iras
omnem crede diem tibi diluxisse supremum
grata superveniet quae non sperabitur hora.
Greinstraße
Auf einmal: Ruhe Und das Herz ist still
und Traurigkeit verhängt die nassen Scheiben
Ein Nebel fällt Ein Vogel schweigt Die Eiben
wie Wälle stehn Mag sein ein Röslein will
noch wo verspätet weilen Geht ihr Jungen
und seht ob ihr sie finden könnt noch eh
der Abend sie verbirgt und netzt der Schnee
die Stirne ihr. Schon schärft der Frost die Zungen
und Dunkelheit beflüstert die Zypressen
Die Tage stürzen strenger abgemessen
so hebt sich fort des Sommers letzte Schwinge
Und wie ein festlich Lärm der in der ferne
verhallt verläßt die Liebe uns Die Sterne
stehn schön und kalt Der Mond hebt seine Klinge