112 Meilen (9)

Wie sich Bilder wiederholen, zu Landmarken werden, zu Zeichen, zu Verweisen. Eine Feder, die mit dem Kiel im Grund steckt; am nächsten Tag noch eine. Und noch eine. Es ist schier unmöglich, nicht an eine Spur zu denken. Wir folgen ihr zufällig oder vielleicht auch nicht. Am nächsten Tag keine Feder, und schon taumeln wir unter den Fichten einher, als hätten wir die Richtung verloren. Eine von den vielen, mindestens.

Schon einmal gesehen: Fichtenorgeln, Emporen grauer Stämme, wie Pfeifen aus Zinn. Die Schraffur eines aufgerissenen Forstes, wie der Schnitt durch eine Zellstruktur, Blick in die sonst verborgenen senkrechten Mechanismen des Waldes, undeutbar, stumm, fremd. Die Lücken zwischen den Pfeilern von Dunkelheit versiegelt. Vor Jahr und Tag, hundert Meilen von hier: ein Loch im Wald, hoch oben auf einem Hügelkamm, daß man durch den Berg hindurchsehen kann auf eine ganz andere Art zweiten Himmels. Es ist derselbe Tunnel wie damals, und er führt an denselben unerreichbaren Ort, kein Zweifel.

Der lange Rostnagel im Holzpfosten: Als hielte nur er noch das Holz in der Luft.

Später der gleiche Nagel, nur gelb lackiert, in einem in die Wegböschung eingeschachteten Aufschluß. Da steckt er, ragt gelb und lang und fremd aus dem Erdreich, voller Absichten, wie ein Meßfühler. Weiter unten hängt eine blaßrote Schleife aus der Wand. Der aufschluß selbst schwach stratifiziert, hellere Lehmbänder weiter unten, oben dunkelrote Verwitterungsprodukte von Sandstein. Pilze wachsen daraus hervor, als habe der Nagel sie angestiftet.

Nagel, Feder, Fichte. Steine, die in ihrer Formung aufeinander Antwort geben. Eine Lichtung, die aussieht, als fehlte etwas; als sei hier in letzter Minute etwas entfernt worden. Spuren einer Greueltat ohne Täter. Oder etwas, das zu köstlich war, als daß wir es hätten sehen dürfen.

Eine Schwinge, die sich aus dem Augenwinkel entfernt, und dann, in der Drehung, hängt nur der Himmel machtvoll vor Leere, überm Waldsaum. Wolkenbilder, die aus Pfützen quellen. Vernähte Schatten. Wesen. Weiser. Stummes Wollen.

Schlüpfer

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neujahr. und du fehlst.
im wäschekorb vom letzten
jahr liegt dein schlüpfer

***

tief in der wäsche
verborgene koralle
mit dem herz aus salz

***

der stoff kennt dich wie
ich dich nie kennen werde
neid auf baumwolle

***

hochgefischt vom grund
kühles rätsel deiner haut
geruch von neuschnee

***

gleich der ehemals
leuchtenden alge am grund
trüb jetzt an der luft

***

nachtragend wie die
vergilbte notiz für ein
geplatztes treffen

***

nach dem waschtag, nachts
steht der wäscheschrank schlaflos.
ins schloß späht der mond

***

nicht um die seide
ist es schade, reifte doch
im innern die frucht

***

so weiß wie eine
frisch verschlossene wunde
zarter damm vorm blut

***

vergessen im korb
was dich umhüllte, bewohnt
jetzt eine spinne

***

die nase im stoff
weniger als ein zeichen
das nichts von dir weiß

***

fluch dem gewebe
bringts mich doch dem gestern nicht
näher oder dir

***

wohnt da noch ein geist? —
küß ich zärtlich den stoff, bin
ich selbst das gespenst

***

schmerzlich die einsicht
im leeren stück wäsche bist
du noch mehr nicht da

Zum Projekt Kleider machen Leute

kall–satzvey

der weg führt an zeichen vorbei, er lehnt sich sanft an uralte zeit, hat sich blinden göttern verschrieben, tempeln, die kiesel, erde und wieder baum geworden sind, tiefverwurzelten fundamenten, umgestülbten gewölben, treppen, die in einen acker, in binsen, in weidengestrüpp führen, oder in den leeren himmel. die altäre haben die götter vergessen, stumm und taub luden sie schatten auf schatten ins opferbecken, blinzelten ins licht der sommer jahr um jahr, verdämmerten unter schnee, ließen sich aufreiben vom wind und vergaßen endlich auch sich selbst. laub ruht nun zwischen stein und moos, und mancherorts, versteckt im wald, geduckt in den schoß eines grabens, halten gemauerte bögen dunkelheit im maul, um das sich kalksinter schalt. spräche man, riefe man in die öffnung, es käme nichts wieder, man bliebe mit der eigenen stimme allein. das blitzlicht tritt nur wenige schritte vorwärts, dann kommt es plötzlich zum halt.
anderwegs, eine viertelstunde richtung satzvey, krümmt sich der weg unter an- und abschwellenden lärm. die autobahn, ihr dröhnender schatten liegt wie dünung über dem rain.
artemis-kraut knistert im spröden wind. überm graben, im gesperr der schlehenzweige, wedelt einmal kurz die sonne, dann kommt der schatten zurück und die wolken hängen wieder feuchtnah überm pfad. abgetropft aus nacht und dunkel wuchern blickauf die raben in den baumkronen, lassen ihre schreie los, zerpflügen den frost, streifen den himmel, ein schwung, eine schwinge. gegenlicht: der schimmer bemeißelt ihren schnabel.
eine viertelstunde weiter, im tal, hat eine halbe brücke ihre bögen aus dem hang gespreizt. die mit Eichen bewachsene Steigung führen stufen aus holzbolen hinauf, in jugendliches gelächter, bunte daunenjacken, zerschabte kunstfaserrucksäcke und drei gelangweilte gesichter. plötzlich schweigen sie und starren, mit masken vor der blässe des wintergesichts. der brückenbogen ist mit einem gitter verriegelt. wasser floß hier über wasser einst. ein strom über dem strom. jetzt führt die trasse geradewegs starr hinaus in den himmel. die kinder albern, ihre kicherlaute zirpen wie vögel. vor dem fuß, versunken in laub, erde, abfallpapier aus einer zeit nach allen zeiten, entkneift sich der austritt gerade so eben dem erdreich. so lange floß hier wasser, daß stein wuchs im strom, eine koralle geronnenen äons. zeitungspapier ballt die faust, zehn tage regen und wind, die schrift kaum noch zu lesen. spuren: eine tiefblaue wasserflasche, aufgerissenes kunstoffbriefchen, zigarettenstummel. darüber zeigt, unter moos versteckt, das mauerwerk seine einzelnen steine. zwischen den greisen ziegeln und der zeitung von gestern: ein nichts, ein trockener hauch. wie nah man ihm auch kommt, der stein ist immer ein stück weiter. irgendwo rieselt erde.
die kinder sind fort. aus der ferne schlagen die glocken.