Performanz

Ich scheue Situationen, in denen eine performance von mir verlangt wird. Alle Arten von Gesellschaftsspielen, öffentliche Geschenküberreichungen, Ehrungen, ritualisiertes Feiern wie Hochzeiten und Geburtstage, insofern sie mit Spiel und Auftritt verbunden sind, zudem Aufforderungen wie “Erzähl doch mal einen Schwank aus deinem Leben”, sowie gespielte Dialoge in Sprachkursen sind mir ein Greuel. Das allerallerschlimmste aber: Kennlernspiele. “Wir lernen uns jetzt gaaaanz ungezwungen kennen”. Komisch. Ich könnte mir kaum eine gezwungenere Form des Kennenlernens vorstellen. Löst bei mir schlagartig den Fluchtreflex aus. Einmal mußte ich als vierjähriger in einem Sommertagsumzug als völlig alberne Biene verkleidet mitlaufen. Der Gedanke daran treibt mir noch heute die Schamesröte ins Antlitz. Ein anderer performativer Supergau ereignete sich auf einem Kindergeburtstag. Vielleicht ist das Spiel bekannt: Einer der Gäste wird als Zielscheibe der Verarschung ausgewählt (schon das ist ein Vorgang, den ich nie begriffen habe. Was ist das für ein Spiel, in dem eine einzelne Person ausgewählt wird, damit sie sich den Spott aller übrigen im anschließenden Bloßstellungsritual zuziehe?) und muß einen Moment das Zimmer verlassen, während die anderen in den Verlauf des “Spiels” eingeweiht werden. Dann wird der Spottvogel hereingebeten, alle setzen sich im Kreis um ihn oder sie herum — und es passiert erst einmal gar nichts. Bis dem/der Ausgewählten etwas dämmert … Das ganze endet damit, daß alle in grölendes Gelächter ausbrechen, wenn die Zielscheibe endlich naiverweise das erlösende Hä-warum-macht-ihr-mir-alles-nach ausspricht. Was schon die ganze merkwürdige Pointe des Spiels ist. Ich beging damals den Fehler, daß ich mich weigerte, das Offensichtliche, nach dem alle gierten, ausszusprechen. War ich denn bekloppt? Ich hatte es begriffen, ok. Warum mußte ich es denn noch sagen? Warum mußte ich so tun, als sei ich ahnungslos? Es endete damit, daß ich für ungefähr eine Stunde ein geächteter Buhmann war. Ein Spielverderber. Weil ich mich dagegen gewehrt hatte, mich nach den Regeln eines Spiels bloßstellen zu lassen, wurde ich jetzt in Wirklichkeit bloßgestellt.

Frühreifunreif

Ein seltsames, sich selbst in Verwirrung begegnendes Unausgewogensein aus Verfrüht und Frühreif einerseits und verträumtem Spätdran, ja, schneckenhäuslichem Zurückbleiben andererseits. Das war ich. Manchmal denke ich, das ist es immer noch mit mir, mein Wesenszug, daß ich so uneins mit mir bin, und beheimatet zur selben Zeit in verschiednen Zeiten, Teenager noch, Erwachsener schon, dummer Bub und verstockter Greis in einem.

Kein Wunder, daß ich nicht aus noch ein wußte, Wurde geschlechtsreif im dreizehnten Lenz, las aber noch Kinderbücher. Wunderte mich über meine weiterhin völlig unbeflaumten Körperstellen. Selbstspiel mit 2 entdeckt, mit 20 erst kam es zum Anderspiel. Schockiert, als ich mit 14 eines Nachmittags sehen mußte, daß es sich in den Achselhöhlen der Mädchen erwachsen kräuselte (plötzlich waren es keine Altersgenossinnen mehr, und das schlimmste, meiner übern Augenblick erwachsenen Angebeteten war ich – Kind noch immer – nicht gewachsen, mußte aufgeben, ein Abgrund zwischen uns). Voller Zärtlichkeitswunsch seit 13, aber die Mädchen fremde Wesen, und nie hätte ich den Mut gehabt, eine in Öffentlichkeit zu küssen oder auch nur händchenhaltend durch die wachsamen Gänge des Schulhauses zu wandeln. Ja, noch 22jährig mit der ersten Freundin erinnere ich mich an das Schwindelgefühl, als wir am Morgen nach der ersten Nacht im Café saßen, uns gegenseitig mit den Augen am Ineinanderstürzen hinderten oder unter aller Augen küßten. Unheimlich war das. Schön zwar. Trotzdem schauten in diesen Augenblicken alle uns zu, ich spürte es so deutlich wie das Warme ihrer Lippen. Jugendlicher Widerständler und Oppositioneller, Aufbegehrer und Freiheitskämpfer, doch nie das Bedürfnis, abends mit Gleichaltrigen wegzugehen. Komponierte künstliche Sprachen. Lernte seit der achten Klasse Latein mit dem Feuereifer eines Studenten, wußte mit 14, was ich studieren wollte – aber war zu verträumt, auch nur zu denken, andere Quellen (Uni-Bibliothek) könnten mir offenstehen. Andere Jungs gingen Biertrinken und heimlich rauchen, ich spielte auf der Straße Ritter und schnitzte mir ein Holzschwert. Schwärmte jedoch im selben Alter für Musik von Händel und Pergolesi, und begann, mir Altblockflöte selbst beizubringen. Baute ein Segelschiff aus Pappe, das für Playmobilfigürchen geschaffen war und experimentierte zur selben Zeit mit ausgefallenen Masturbationstechniken. Las den “Herrn der Ringe” neben Prinz-Eisenherz-Heftchen.

Lange war ich furchtbar verliebt in eine Klassenkameradin, die ich irgendwann einem andern Mädchen verkünden hörte, sie „fahre nur auf ältere Jungs ab“. Komisch, ich fuhr nie auf jüngere Mädchen ab. Wohin sollte das führen? Erste Freundin eigentlich mit neun, dann aber erst wieder mit Zweiundzwanzig. Doktorspiele weitestgehend übersprungen, bis auf einen kribbelnd gemeinsamen Klogang. Küssen geübt mit meinem Bruder.

Zerrissenheit will mir als Wort dafür einfallen. Doch vermutlich ist es immer und bei jedem so. Ist es ein Zeichen des Erwachsenwerdens, daß die Dinge plötzlich nicht mehr zueinander passen wollen. Nur: Es scheint sich seitdem so verflixt wenig daran geändert zu haben.