112 Meilen (1)

Am Rande der Großstadt ankommen, der bekannten, der unbekannten, der oft durchfahrenen.
Linie 260, Linie 4, die Straßenzüge vertraut, aber jetzt wie aus der Froschperspektive, als wäre man geschrumpft, als kröche man auf allen Vieren. Aus dem Feld, aus dem Wald, naß und verdreckt und müde von neun, zehn Stunden Marsch auf die Straße treten und plötzlich als Fremder in die gestern erst verlassene Welt zurückkehren, wie das eigene dunkle Haus bei Nacht, in fremdem Gewand, durch die Terrassentür: In jedem schäbigen Waldgasthof in der Einöde wäre man heimischer als hier, nach einem Tagesmarsch keine Stunde Zugfahrt von der eigenen Wohnung entfernt.

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Das windschiefe Fachwerkhaus in dem kleinen Weiler unweit der Bundesstraße, mühsam richtet es sich eigens für uns auf dem Ellenbogen auf. Ich denke an die Spinnen im Keller des Hauses, das wir gestern besichtigt haben. Wie die Schatten an der Wand die transparenten Spinnenleiber in die Luft projizierten wie holographische Fresken.

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Ein Rind, das im Galopp auf uns zustürmt, ein anderes, auch im Galopp, das vor uns flieht. Beide irritiert von unseren Regenponchos. Ein Phänomen, das uns wieder und wieder begegnen wird. Ich summe in Gedanken einen Tanzsatz eines unbekannten Künstlers, den ich neulich im Radio gehört habe. Es wird mein Soundtrack für die nächsten 112 Meilen.

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Der freundliche Kellner in Unterburg teilt uns bedauernd mit, daß es den ganzen Tag regnen wird. Wir lassen uns, noch halbwegs trocken, unser Lachsfrühstück schmecken. Später die Sengbachtalsperre. Der Wasserspiegel geschwollen wie ein entzündetes Auge. Die Staumauer aufgequollen, als wäre es Pappe. Ingenieure, die irgendwelche Messungen durchführen, kommen uns entgegen, die Jacken noch trocken. Blick in eine Art Wachturm an der Mauer. Durch die halboffene Tür sichtbar ein schmaler, erleuchteter Innenraum, Schreibtisch, Lampe, elektrische Geräte. Das Gemütliche einer solchen Arbeit. Stifte, Papier, Daten. Konzentration. Draußen der Regen. Regen. Irgendwo wird es Kaffee geben, kochendheiß aus einer Thermoskanne.
Das Südufer ist steil, der Weg matschig. Nasse Buchenzweige schlagen uns ins Gesicht, während wir aus dem Tal kriechen. Oben wartet der nächste Schauer.

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Die Ränder der Feldwege lösen sich auf wie Papier; wenn der Wind auf die Forste drückt, spritz das Wasser heraus wie aus Schwämmen. Kirchtürme ducken sich unter die Spitzdächer, die Schallfenster der Glockenstühle zu Schlitzen geschlossen. Keine Glocken. Die Rinder glotzen. Zwei Kälber saugen am Muttereuter, ihr Hunger unbeeindruckt vom Regen. Wir verlaufen uns. Dicke Tropfen fallen auf das, was von der Karte noch übrig ist.

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An der Bushaltestelle, wo wir Pause machen, geschützt vor dem Regen, nicht vor dem Wind, rutscht mir der Rucksack von der Bank, und das Brot, gottlob verpackt, fällt in einen Speichelteich, den ein gelangweilter Teenager dort angelegt hat. Schon leicht genervt vom Regen, der durchweichten Karte, der Ungerechtigkeit des Himmels, der uns ausgerechnet am ersten Wandertag Dauerregen beschert, brülle ich «Barbaren!» in den Regen hinaus. Das vielleicht zwölfjährige Kind, das auf den Bus wartet, den wir ignorieren werden (zu stolz; außerdem geht er in die Gegenrichtung), hat auf der Wange eine riesige, schwarze, gerade, vom Mundwinkel bis zur Schläfe reichende Narbe. Aufgemalt, als wäre schon Hällowien oder Karneval. Neben der Speichelpfütze liegt eine abgenagte Kuchenrinde.

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Eine Birne, ein Stück Schokolade, keine Muße, richtig Pause zu machen. Der Lärm der Straße pustet uns entgegen, man versteht sein eigenes Wort nicht, wir kauen stumm, mit klammen Fingern, auf der harten Schokolade. Schwertransporter, gefolgt von einer Schlange Autos, gefolgt von einem noch schwereren Schwertransporter. Die Reifen spritzen, der Grund bebt. Die aus dem Busfenster betrachtet so ruhige, ja beschauliche Landstraße (im besten Sinne des Wortes eine Landstraße, erweist sich als mörderisch, wenn man selbst ruht und ihr zusieht.

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Der freundliche Mofafahrer, der gerade in dem Moment nach Hause kommt, wo wir, eine druckfrische, aber bereits veraltete Karte in Händen, vor zugesperrten Zäunen und Haustüren stehen, vor die uns die Karte geführt hat, und nicht weiterwissen. Wir lassen uns den Weg zeigen. Ein Maisfeld. Und noch eine Landstraße. Im letzten Waldstück hört der Regen auf.

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(In der Unterkunft hört man die Linie 4 hinterm Grundstück vorbeifahren. Ein paarmal bin ich da selbst drin gesessen. Und wußte nicht, daß ich dort vorbeifuhr, wo ich später im Jahr im Bett liegen, und dies schreiben würde.

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Wir essen zu Opernklängen. Antipasti. Taglerini mit Lachs und rosa Pfeffer. Totmüde ins Bett. Im Bad tropfen die Ponchos.

Heimweh

Für den einen ist es das Wohnzimmer. Für den anderen das Bett. Für den dritten der Bastelkeller. Oder die Bibliothek. Der Platz unterm Kippfenster auf dem Speicher. Anderen genügt eine Kuscheldecke.
Für mich ist es die Küche.
Viel Platz brauche ich nicht. Auf vieles könnte und kann ich verzichten. Auf einen Balkon, auf einen Garten, auf separate Wohn- und Schlafzimmer, schön, wenn man eine Badewanne hat, aber es geht auch ohne, ja, selbst eine Dusche erscheint mir entbehrlich.
Erst, wenn die Küche fehlt, wird’s eng. Wenn ich keinen Raum habe, eine anständige Mahlzeit zuzubereiten, keinen Ofen, um einen Kuchen zu backen, keinen Herd für eine ordentliche Suppe, keinen Tisch, um daran zu essen, werde ich verstimmt: eine festliche Mahlzeit am Tag muß ich haben.
Es gibt viele Arten, sich fremd zu fühlen. Man kann sich fremd unter unbekannten Menschen fühlen; fremd in einer ungewohnten Umgebung; fremd in einem Text, zu dem man keinen Zugang findet; entfremdet einem Menschen, den man zu lieben glaubte.
Man kann sich fremd fühlen, wenn ein Ritual nicht gelingt.
Einmal habe ich großes Heimweh empfunden. Das war während eines Studienaufenthalts in einem kleinen Mittelmeeranrainerstaat, und es war nicht einmal ganz am Anfang, sondern zu einem Zeitpunkt, wo ich mich eigentlich schon eingelebt hatte. Von früheren Reisen kannte ich bereits Menschen in diesem Land, hatte sie mehrmals besucht, und nun war es an der Zeit, sie auch einmal zu mir einzuladen, zum Abendessen. Ich hatte eingekauft, teils schon in der Landessprache, die ich erst noch lernen mußte; ich hatte preiswert eine Pfanne, einen Topf, Tassen und Teller gekauft, mich über die billigen Märkte gefreut und sogar an Zutaten alles bekommen, was ich geplant hatte. Der Fisch auf dem Markt war erstaunlich günstig und frisch gewesen, und ich hatte gelernt, daß es zwar ein einheimisches Wort für Ingwer gab, daß aber ein Fremdwort englischer Herkunft gebräuchlicher war. Man kann sagen, daß ich in diesem Land schon angekommen war: Nicht mehr nur Tourist, schon kein Reisender mehr, und mehr als nur ein Gast. Nie hatte ich in den vergangenen Wochen, seit ich eine Wohnung gefunden hatte, das Gefühl gehabt, ich wäre lieber woanders.
Als ich aber in dem winzigen Räumchen, das mir als Küche dienen sollte, mich anschickte, das Abendessen zuzubereiten, sank mir schon beim Auspacken der Einkäufe der Mut, und in jedem Augenblick verschlechterte sich meine Laune. Die Arbeitsfläche war zu klein; es gab keine Ablage für Schnittgut; ich stieß ständig mit dem Kopf gegen den Hängeschrank; eine einzelne Kochplatte reichte natürlich auch nicht aus. Natürlich hätte ich etwas Einfacheres kochen können, aber da stand ich nun, mit Makrelen, Lauch, Ingwer und wußte nicht wo ich was wie verarbeiten sollte, bis ich mir völlig hilflos vorkam und in einer heftigen Gefühlsaufwallung zwischen Zorn und Frustration entnervt alles hinwarf.
Fremd in der eigenen Küche.
Und dieser Moment war der einzige in meinem Auslandsjahr, wo ich Heimweh hatte. Heimweh ist der Schmerz, den man darüber empfindet, von einem geliebten Ort getrennt zu sein. In meinem Fall war das die Küche der von mir aufgegebenen Wohnung in Deutschland. Ich stand inmitten eines Chaos aus Schüsseln und Tellern und dachte an die kleine Küche, in der ich mich wohlgefühlt und der ich manches Essen, für mich, für Gäste, für meinen Mitbewohner gekocht hatte: Da gab es einen Herd mit Ofen, geräumige Schränke, eine kleine Arbeitsfläche, einen kleinen Tisch unter einer Schirmlampe, an dem zwei Personen Platz nehmen, essen und plaudern konnten. Die Wohnung war im fünften Stock, und durch Küchenfenster sah man geradewegs in die Wipfel alter Platanen. Kein anderes Zimmer dieser Wohnung habe ich in meinem Auslandsjahr vermißt, nur die Küche. Und als ich jetzt geradezu gedemütigt von den unzureichenden Verhältnissen in dieser anderen Küche stand, während sich das ohnedies trübe Herbstlicht aus dem schachtartigen Hinterhof, nach welchem meine Erdgeschoßwohnung lag, zurückzog, erschien mir meine alte, eigentlich eher häßliche, plumpe Küche wie der Inbegriff häuslicher Behaglichkeit.
Mir war schon klar: Irgendwie würde ich etwas Genießbares auf den Tisch bekommen; zwar war ich müde und hungrig, die Durchführung meines Plans schwieriger als erwartet – aber nichts, was sich nicht mit Geduld hinkriegen ließe. Es war nicht dieses Essen, das mich traurig machte (schließlich kämen später nette Gäste, wohlwollende Menschen), es waren nicht die Schwierigkeiten, die mich frustrierten, nicht die Enge, die mich mutlos machte. Sondern es war die Zeit.
Der Abend würde vorbeigehen, das Essen würde gelungen sein. Aber dies war ja nur der Anfang. Es war einer von vielen, vielen Abenden, in denen ich in dieser Küche stehen würde, nicht für Gäste, sondern für mich selbst, und nicht mit der besonderen Aufgabe der Bewirtung beschäftigt, sondern mit der ganz normalen, tagtäglichen Arbeit des Kochens. Hier gab es nichts zu überwinden; hier gab es nicht einmal etwas zu überstehen. Dies war das Umfeld, dies die Verhältnisse, nicht, durch die ich durch mußte, sondern in denen ich jetzt leben würde. Tag für Tag, Monat für Monat. Bis zum Ende des Jahres, und das lag in weiter Ferne. Ich sah mich selbst Abend für Abend in dieser Unküche stehen, eine Kochplatte, kein Ofen, kein Tisch, das Essen mußte ich ins Wohnschlafzimmer mitnehmen. Es hatte in seiner Unentrinnbarkeit, in seiner Anmutung von Endlosigkeit und Wiederholung etwas Vernichtendes.
Was ist der schwierigste Moment einer Flucht? Ich glaube nicht, der Aufbruch. Ich glaube, es ist das Ankommen. Es ist der Moment, da den Geflohenen die Erkenntnis trifft, daß die Flucht vorbei und er selbst bereits angekommen ist, und daß der Ort, an dem er sich befindet, schon alles ist, was ist.
Denn solange man sich noch in Bewegung befindet, herrscht Gleichgewicht; wird das Gewicht der Fremde von der Bewegung durch die Fremde genau abgefangen; solange man sich bewegt, die Flucht noch anhält, hat das Befremden, die Heimatlosigkeit einen stets neu zu überwindenden und auch überwindbaren Grund; der fremde Ort wird ebenso schnell wieder verlassen, wie er aufgesucht wurde, zu schnell, als daß seine Fremdheit wirken könnte, indem sie zur Fremdheit eines Ortes wird, den man nicht gleich wieder verläßt. Die Fremdheit eines Durchgangsortes ist eine ganz banale Fremdheit. Indem man weiterzieht, bleibt sie hinter einem zurück. Aber ein Bleibeort bleibt fremd, wartet mit Fremdem, umgibt einen mit Fremdheit, der man nicht mehr entflieht. Und heimischwerden, das ist viel schwieriger als aufzubrechen und wegzugehen.
Und da stand ich nun, angekommen, im Abend meiner Ankunft, am Beginn meines Bleibens. Denn wo hätte ich denn hin sollen an diesem Abend in der unhandlich-fremden Küche? Keine Flucht war mehr möglich.
Nicht einmal nach vorn. Denn vorne, ganz vorne, da war ich schon. Irgendwann würde ich aber von hinten auf diese Szene blicken, diesen ersten Abend, von einem viel späteren, letzten. Die Küche würde sich, allein dadurch, daß ich in ihr arbeitete, zu einem Stück von mir verwandeln. Ich würde sie ausgebeult haben wie einen Schuh, der erst nach Meilen wirklich sitzt. Ich würde sie ebenso kennenlernen, wie der Raum mich kennenlernen würde. Dies war die Küche, die ich gemietet hatte. Jetzt würde sie meine Küche werden,
Und als ich das gedacht hatte, stellte ich den Topf aufs Feuer und fing an zu kochen.

(Dieser Text wurde im Rahmen der Blogparade “Ich war fremd” veröffentlicht.)