Für den einen ist es das Wohnzimmer. Für den anderen das Bett. Für den dritten der Bastelkeller. Oder die Bibliothek. Der Platz unterm Kippfenster auf dem Speicher. Anderen genügt eine Kuscheldecke.
Für mich ist es die Küche.
Viel Platz brauche ich nicht. Auf vieles könnte und kann ich verzichten. Auf einen Balkon, auf einen Garten, auf separate Wohn- und Schlafzimmer, schön, wenn man eine Badewanne hat, aber es geht auch ohne, ja, selbst eine Dusche erscheint mir entbehrlich.
Erst, wenn die Küche fehlt, wird’s eng. Wenn ich keinen Raum habe, eine anständige Mahlzeit zuzubereiten, keinen Ofen, um einen Kuchen zu backen, keinen Herd für eine ordentliche Suppe, keinen Tisch, um daran zu essen, werde ich verstimmt: eine festliche Mahlzeit am Tag muß ich haben.
Es gibt viele Arten, sich fremd zu fühlen. Man kann sich fremd unter unbekannten Menschen fühlen; fremd in einer ungewohnten Umgebung; fremd in einem Text, zu dem man keinen Zugang findet; entfremdet einem Menschen, den man zu lieben glaubte.
Man kann sich fremd fühlen, wenn ein Ritual nicht gelingt.
Einmal habe ich großes Heimweh empfunden. Das war während eines Studienaufenthalts in einem kleinen Mittelmeeranrainerstaat, und es war nicht einmal ganz am Anfang, sondern zu einem Zeitpunkt, wo ich mich eigentlich schon eingelebt hatte. Von früheren Reisen kannte ich bereits Menschen in diesem Land, hatte sie mehrmals besucht, und nun war es an der Zeit, sie auch einmal zu mir einzuladen, zum Abendessen. Ich hatte eingekauft, teils schon in der Landessprache, die ich erst noch lernen mußte; ich hatte preiswert eine Pfanne, einen Topf, Tassen und Teller gekauft, mich über die billigen Märkte gefreut und sogar an Zutaten alles bekommen, was ich geplant hatte. Der Fisch auf dem Markt war erstaunlich günstig und frisch gewesen, und ich hatte gelernt, daß es zwar ein einheimisches Wort für Ingwer gab, daß aber ein Fremdwort englischer Herkunft gebräuchlicher war. Man kann sagen, daß ich in diesem Land schon angekommen war: Nicht mehr nur Tourist, schon kein Reisender mehr, und mehr als nur ein Gast. Nie hatte ich in den vergangenen Wochen, seit ich eine Wohnung gefunden hatte, das Gefühl gehabt, ich wäre lieber woanders.
Als ich aber in dem winzigen Räumchen, das mir als Küche dienen sollte, mich anschickte, das Abendessen zuzubereiten, sank mir schon beim Auspacken der Einkäufe der Mut, und in jedem Augenblick verschlechterte sich meine Laune. Die Arbeitsfläche war zu klein; es gab keine Ablage für Schnittgut; ich stieß ständig mit dem Kopf gegen den Hängeschrank; eine einzelne Kochplatte reichte natürlich auch nicht aus. Natürlich hätte ich etwas Einfacheres kochen können, aber da stand ich nun, mit Makrelen, Lauch, Ingwer und wußte nicht wo ich was wie verarbeiten sollte, bis ich mir völlig hilflos vorkam und in einer heftigen Gefühlsaufwallung zwischen Zorn und Frustration entnervt alles hinwarf.
Fremd in der eigenen Küche.
Und dieser Moment war der einzige in meinem Auslandsjahr, wo ich Heimweh hatte. Heimweh ist der Schmerz, den man darüber empfindet, von einem geliebten Ort getrennt zu sein. In meinem Fall war das die Küche der von mir aufgegebenen Wohnung in Deutschland. Ich stand inmitten eines Chaos aus Schüsseln und Tellern und dachte an die kleine Küche, in der ich mich wohlgefühlt und der ich manches Essen, für mich, für Gäste, für meinen Mitbewohner gekocht hatte: Da gab es einen Herd mit Ofen, geräumige Schränke, eine kleine Arbeitsfläche, einen kleinen Tisch unter einer Schirmlampe, an dem zwei Personen Platz nehmen, essen und plaudern konnten. Die Wohnung war im fünften Stock, und durch Küchenfenster sah man geradewegs in die Wipfel alter Platanen. Kein anderes Zimmer dieser Wohnung habe ich in meinem Auslandsjahr vermißt, nur die Küche. Und als ich jetzt geradezu gedemütigt von den unzureichenden Verhältnissen in dieser anderen Küche stand, während sich das ohnedies trübe Herbstlicht aus dem schachtartigen Hinterhof, nach welchem meine Erdgeschoßwohnung lag, zurückzog, erschien mir meine alte, eigentlich eher häßliche, plumpe Küche wie der Inbegriff häuslicher Behaglichkeit.
Mir war schon klar: Irgendwie würde ich etwas Genießbares auf den Tisch bekommen; zwar war ich müde und hungrig, die Durchführung meines Plans schwieriger als erwartet – aber nichts, was sich nicht mit Geduld hinkriegen ließe. Es war nicht dieses Essen, das mich traurig machte (schließlich kämen später nette Gäste, wohlwollende Menschen), es waren nicht die Schwierigkeiten, die mich frustrierten, nicht die Enge, die mich mutlos machte. Sondern es war die Zeit.
Der Abend würde vorbeigehen, das Essen würde gelungen sein. Aber dies war ja nur der Anfang. Es war einer von vielen, vielen Abenden, in denen ich in dieser Küche stehen würde, nicht für Gäste, sondern für mich selbst, und nicht mit der besonderen Aufgabe der Bewirtung beschäftigt, sondern mit der ganz normalen, tagtäglichen Arbeit des Kochens. Hier gab es nichts zu überwinden; hier gab es nicht einmal etwas zu überstehen. Dies war das Umfeld, dies die Verhältnisse, nicht, durch die ich durch mußte, sondern in denen ich jetzt leben würde. Tag für Tag, Monat für Monat. Bis zum Ende des Jahres, und das lag in weiter Ferne. Ich sah mich selbst Abend für Abend in dieser Unküche stehen, eine Kochplatte, kein Ofen, kein Tisch, das Essen mußte ich ins Wohnschlafzimmer mitnehmen. Es hatte in seiner Unentrinnbarkeit, in seiner Anmutung von Endlosigkeit und Wiederholung etwas Vernichtendes.
Was ist der schwierigste Moment einer Flucht? Ich glaube nicht, der Aufbruch. Ich glaube, es ist das Ankommen. Es ist der Moment, da den Geflohenen die Erkenntnis trifft, daß die Flucht vorbei und er selbst bereits angekommen ist, und daß der Ort, an dem er sich befindet, schon alles ist, was ist.
Denn solange man sich noch in Bewegung befindet, herrscht Gleichgewicht; wird das Gewicht der Fremde von der Bewegung durch die Fremde genau abgefangen; solange man sich bewegt, die Flucht noch anhält, hat das Befremden, die Heimatlosigkeit einen stets neu zu überwindenden und auch überwindbaren Grund; der fremde Ort wird ebenso schnell wieder verlassen, wie er aufgesucht wurde, zu schnell, als daß seine Fremdheit wirken könnte, indem sie zur Fremdheit eines Ortes wird, den man nicht gleich wieder verläßt. Die Fremdheit eines Durchgangsortes ist eine ganz banale Fremdheit. Indem man weiterzieht, bleibt sie hinter einem zurück. Aber ein Bleibeort bleibt fremd, wartet mit Fremdem, umgibt einen mit Fremdheit, der man nicht mehr entflieht. Und heimischwerden, das ist viel schwieriger als aufzubrechen und wegzugehen.
Und da stand ich nun, angekommen, im Abend meiner Ankunft, am Beginn meines Bleibens. Denn wo hätte ich denn hin sollen an diesem Abend in der unhandlich-fremden Küche? Keine Flucht war mehr möglich.
Nicht einmal nach vorn. Denn vorne, ganz vorne, da war ich schon. Irgendwann würde ich aber von hinten auf diese Szene blicken, diesen ersten Abend, von einem viel späteren, letzten. Die Küche würde sich, allein dadurch, daß ich in ihr arbeitete, zu einem Stück von mir verwandeln. Ich würde sie ausgebeult haben wie einen Schuh, der erst nach Meilen wirklich sitzt. Ich würde sie ebenso kennenlernen, wie der Raum mich kennenlernen würde. Dies war die Küche, die ich gemietet hatte. Jetzt würde sie meine Küche werden,
Und als ich das gedacht hatte, stellte ich den Topf aufs Feuer und fing an zu kochen.
(Dieser Text wurde im Rahmen der Blogparade “Ich war fremd” veröffentlicht.)
Danke für diese Textperle. Das Projekt dazu finde ich sehr wichtig.
Auch für mich ist die Küche immer ein sehr zentraler Ort gewesen. Aber das Heimatding ist mir wohl das Bett. Sag ich jetzt spontan. Oder die Türe zum Schlafzimmer?
Vielleicht wollen Sie ja auch einen Beitrag zu Parade schreiben?
Ich glaube, ich werde sehr viel schneller irgendwo auf einer Isomatte heimisch als in einer Küche, die meinen Vorstellungen nicht entspricht.
Umgekehrt kann mir das Kochen in einer schönen Küche über allerlei Gram und Streß hinweghelfen (wenn ich nur meine Ruhe dabei habe).
Ich erinnere mich da an ein Bild auf Pixartix. War da nicht eine Matte/Matratze mit kaum was drum?
Ich überlege tatsächlich an einem Artikel zum Parade-Thema. Dankeschön!
Ganz recht. Eine noch leere Wohnung vor dem Einzug, und ich hatte schon den Schlüssel und konnte dort schon schlafen. Das war wundervoll, so viel Platz, so viel Licht auf dem Laminat. Unheimisch, ja verzweifelt habe ich mich erst am anderen Tag gefühlt, als mit allen Möbeln, Schachteln und Kram auch das Chaos mit eingezogen war.