Vom ethischen Zweifel angekränkelt

Früher war es einfach, ein guter Mensch zu sein. Man mußte die Gesetze befolgen, höflich sein, Anstand üben, Verantwortung für die Familie übernehmen, den Schwiegereltern regelmäßig Aufwartung machen, und das war’s im Grunde schon. Nicht allzu sehr von der Herde abweichen, den Kindern eine gute Zukunft ermöglichen, nicht faulenzen, ein bißchen Bildung sich aneignen, als kleine Schmankerl. Übertretungen wurden sofort geahndet, oder man tuschelte halt, wie der wieder mit seiner Frau umspringt, wie die sich anzieht, daß der schon Sonntags früh einen in der Krone hat, und was man halt so denkt. Nie aber stand dabei das große und ganze, das Weltgefüge auf dem Spiel. Jeder hatte seine Übertretungen mit sich selbst auszumachen, und hatte es eben auszuhalten, daß er vielleicht geschnitten wurde. Für das andere gab es Gesetze. Der nicht justiziable Großteil war Privatsache. Dann durfte man auch Sonntags früh saufen oder ins Bordell gehen, das war nicht fein, aber mein Gott, Sünder sind wir alle, und wie war das mit dem Stein? Die Art des Rügens war eine andere: Ins Bordell gehen gehörte sich nicht, fertig. Man mußte das nicht begründen, wer es genau wissen wollte, konnte sich an die Kirche wenden. Wer nicht widerstehen konnte, mußte lediglich damit leben, kein ganz guter Mensch zu sein. Und schließlich ist niemand wirklich ein guter Mensch. Insofern war es nicht nur einfach, ein guter Mensch zu sein, es war auch einfach, ab und zu ein schlechter Mensch zu sein. Davon ging die Welt nicht unter.

Heute dagegen tut sie das. Heute haben wir Plastik in den Ozeanen, Artensterben, den Klimawandel und Svenja Schulze. Und dafür sind Sie, verehrter Leser und verehrte Leserin, persönlich verantwortlich.
Und deswegen greift das Moralische in immer privatere Bereiche aus, so wie der Markt alle möglichen privaten Bereiche, von der Nachbarschaftshilfe bis zur Partnerwahl, für sich entdeckt hat und mit seinen Regeln die menschlichen Beziehungen vergiftet. Die Gesetze zu befolgen und einer Art bürgerlichen Anstands zu leben, genügt nicht mehr, um ein guter Mensch zu sein. Denn kaum noch etwas, das erlaubt ist, ist auch gut. Jede noch so kleine Entscheidung, wie ich mein Leben führen will, von der Gestaltung meines Vorgartens bis zur Wahl des geeigneten Zellstoffprodukts zur Entsorgung meines Nasenrotzes (vom Rotz selbst ganz zu schweigen), wirft Fragen moralischer Brisanz auf. Man kann nicht einmal durchatmen, ohne dabei irgendwem den eigenen Mief ins Gesicht zu blasen, und man kann keinen Furz mehr machen, ohne daß dadurch Umweltproblematiken berührt werden. Einmal im Bett umgedreht, und der persönliche CO2-Abdruck ist wieder ein paar Gramm tiefer.

So kann nichts mehr privaten Vorlieben überlassen bleiben. Jeder kleinste Aspekt, jede kleinste Regung, noch die banalste Entscheidung unseres Lebens und Alltags muß auf den Prüfstand ökologischer Verträglichkeit kommen. Beschränkte sich das bislang auf bestimmte Kerngebiete, was große Bereiche des Alltags unangetastet ließ, gerät zunehmend alles, was wir tun oder lassen in den Sog des kritischen Umweltbewußtseins. Daß wir nur noch mit den stinkenden Essigreinigern der beliebten Amphibienmarke zu putzen haben, daran haben wir uns ja schon fast gewöhnt. Auch daß das Auto des Teufels ist und Fleischverzehr und Vollbäder und eine ordentlich geheizte Wohnung, ist uns schon ebenso in Fleisch und Blut übergegangen wie der Griff nach dem steingrauen Recyclingpapier, ja, das Wort Recycling geht uns schon so leicht über Lippen und Tastatur, wie wir unseren Müll im Schlaf trennen könnten, so gut beherrschen wir die Übung inzwischen. Neuerdings aber sind plötzlich Vergnügen, die seit Bestehen der Menschheit weder gut noch schlecht waren, vom ethischen Zweifel angekränkelt: Lagerfeuer machen, Blumen pflücken, Wildpilze sammeln, Weidenzweige schneiden, grillen, Würstchen essen. Noch in meiner Kindheit hätte sich niemand gefragt, ob es richtig ist, ein Bächlein aufzustauen oder querfeldein durch den Wald zu stapfen. Dafür waren Wald und Bach schließlich da! Natürlich durfte man den Apfelbutzen in der Natur entsorgen, der verrottet doch. Die Frage, ob es gut ist, auf dem Balkon eine Forsythie zu haben, wäre absurd gewesen. Jetzt darf ich weder dieses hübsche Gewächs noch Hortensien pflanzen, Weißdorn muß es sein oder Hasel oder Hainbuche. Wegen der Pollinatoren und der Vögel. Wie ich meinen Vorgarten gestalte, war Privatsache, damit ist es nun vorbei, es darf kein versiegelter Araukarienzoo mehr sein. Ferner darf ich meine Einfahrt nicht mehr pflastern, soll den Löwenzahn stehen- und das Totholz liegenlassen. Meine Zahnbürste hat aus Naturborsten und Holz zu sein (fair gehandelt, versteht sich). Wie ich mich fortbewege (besser im ÖPNV), was ich esse (kein Fleisch, regionales und saisonales Biogemüse) und wie ich es zubereite (auf dem A+++-Induktionsherd), welche Biersorte ich wähle (Craftbeer von unabhängigen Kleinstbrauereien), wo ich einkaufe (auf dem Wochenmarkt und in kleinen, inhabergeführten Geschäften), wie oft und wozu ich das Internet nutze (eine Suchanfrage bei Google verbraucht nach Unternehmensangaben soviel Energie wie eine Energiesparglühlampe in vier Stunden) – nichts versteht sich von selbst, alles ist zu einer Frage der Verantwortung, und also der Moral geworden, und jeder ist aufgefordert, das eigene Urteil über das Wohlverhalten seiner Mitbürger zu verlautbaren: biete Pollinatoren Lebensraum, halte keine Katzen, nimm zum Grillen Holzkohle mit Nachhaltigkeitszertifikat (oder laß den Spaß lieber ganz bleiben), laß die Slipeinlagen bleiben, achte auf biologisch abbaubaren Nagellack und, ach so, wie verhütest du eigentlich? Wußtest du, was für furchtbare Umweltzerstörungen die Produktion von Latex nach sich zieht? Ach so, ihr nehmt die Pille? Und die Hormonbelastung der Gewässer, die ist euch egal, oder was? Du ißt Bananen? Weißt du, wieviel Tonnen CO2 ein Frachtflug von der Domrep nach Europa verursacht? Du pflückst deine Haselnüsse selbst? Im Wald? Bist du bescheuert, wenn das jeder täte! Von fair gehandeltem Öko-Speisesalz hat man noch nichts gehört, aber das kommt sicher auch noch. Klosteine sind übrigens des Teufels, aber das wußten Sie sicher schon. Was Sie vielleicht nicht wußten: Bei jedem Waschgang von Synthetik-Geweben werden Mikrofaserchen aus Plastik in die Umwelt geschwemmt. Denken Sie mal drüber nach. Und in der Peeling-Lotion ist übrigens geschredderter Kunststoff drin, da könnte man auch gleich Eimerweise Müll in die Nordsee … Wie? Woher Sie wissen sollen, daß das Plastik drin ist? Es ist Ihre Pflicht, sich zu informieren! Unwissenheit schützt vor Sünde nicht. Schon bietet die Bahn grüne Bahncards an: für Fahrten mit 100 % Ökostrom. Wer die Wahl hat, hat die Verantwortung, schon scheint es unmöglich, nicht mit 100 % Ökostrom fahren zu wollen. Unser Speisezettel muß gründlich überarbeitet werden. Butter geht wegen der Tierhaltung nicht, Margarine wegen des Palmöls nicht, Avocado wegen der ökologischen fragwürdigen Verfrachtung und der Anbaumethoden nicht, Daß Thunfisch nicht geht (denk an die Delphine!) wußten wir schon, daß aber eigentlich überhaupt kein Fisch mehr geht, ist nur eine natürliche Folge einer Haltung, die menschliches Dasein am liebsten folgenlos sähe. Neueste Entdeckung der Moralwächter: Spargel. Ganz üble Sache, kauf das nicht. Was bleibt, wenn man alles wegstreicht, was mal gelebt hat, einen anguckt, von den schwieligen Händen entrechteter Saisonarbeiter oder von Minderjährigen gepflückt, gerupft, ausgegraben oder verpackt worden ist oder hunderttausende Liter Wasser pro hundert Gramm verbraucht hat? Vielleicht Kaugummi? Du liebes bißchen, das ist nicht dein Ernst! Das besteht doch aus Zucker und Plastik. Dauert hundert Jahre, bis der Blob abgebaut ist, und verklebt unterdessen die empfindlichen Mägen von Albatrossen. Was, hier gibt es keine Albatrosse? Egal, irgendwelche Mägen wird das schon verkleben. Grausam. Tierquälerei. Hat eigentlich schon einmal jemand die Ökobilanz von Kupfermünzen ausgerechnet? Vielleicht sollte man die auch lieber abschaffen. So wie Ohrstäbchen, Strohhalme und Luftballonhalter aus Plastik. Ein Wunder, daß noch niemand sein kritisches Auge auf die Ballons selbst geworfen hat.

Für jede einzelne dieser Vorschriften, Mahnungen, erhobenen Zeigefinger können die Mahner und Apostel und Zeigefingerheber Gründe angeben, und in den meisten Fällen sind diese Gründe triftig und unstrittig. Einen Bereich des Moralischen, der von Gesetzen nicht erfaßt wird, hat es schon immer gegeben. Der Gesetzgeber interessiert sich nicht dafür, wenn ich davon absehe, meine Schwiegermutter zu einem Familienfest einzuladen oder wenn ich meine Frau mit meiner Sekretärin betrüge. Der Gesetzgeber interessiert sich erst dafür, wenn materielle Güter sowie psychische und physische Gesundheit der ihm anvertrauten Bürger im Spiel sind, wobei es auch da fließende Grenzen gibt. Die Zerstörung der Umwelt bringt sowohl materielle Güter als auch die Gesundheit von Menschen in Gefahr. Nähme man den Schaden ernst, der tagtäglich durch Autofahren, Flugverkehr, intensive Landwirtschaft, Fleischkonsum, Plastikverpackungen, Einwegprodukte und die vielen anderen völlig normalen, völlig legalen Dinge des modernen Lebens, von denen wir wissen, wie fragwürdig sie sind, angerichtet wird, müßte Flugverkehr, Autofahren, Fleischkonsum sofort verboten, bzw. strikt kontingentiert werden, bzw. hätte niemals zugelassen werden dürfen. Wir leben also in einer Welt, in der vieles, was eigentlich geboten wäre, von keinen Gesetzen abgebildet wird. In dieses Vakuum stoßen die vielfältigen Appelle, Ermahnungen, Warnungen und Kampagnen. Und in dem Maße, in dem die Gesetzgebung hinter dem vernünftigerweise Gebotenen zurückbleibt, steigt die Verantwortung für den Einzelnen im Rahmen seiner Freiheiten. Urlaub auf den Malediven machen zu dürfen, heißt eben nicht, daß es auch gut ist. Daß das Auto für den Individualverkehr zugelassen ist, bedeutet nicht, daß der motorisierte Individualverkehr eine gute Idee ist. Daß es erlaubt ist, Gurken in Plastik einzuwickeln und Tomaten in zugeschweißten Pappschachteln zu verpacken, bedeutet weder, daß das gut, noch daß die Praktik auch nur harmlos wäre.

Diese Situation: erlaubte Genüsse einerseits, moralisch gebotener Verzicht andererseits, ist eine Zumutung. Die Verlockungen sind gewaltig und sie werden uns vom Markt unerbittlich präsentiert, vorgemacht, angepriesen. Wäre es anders; wären es keine Verlockungen – wir wären jetzt nicht in dieser globalen Sackgasse. So gleicht unsere Situation der von Kindern vor einem riesigen Kuchenbuffet, denen man gesagt hat: Du darfst soviel essen, wie du willst. Aber wenn du ein gutes Kind sein willst (und das willst du doch, oder?), dann wirst du deine Eltern nicht enttäuschen und einen Apfel nehmen.

Jedes Kind mit auch nur einem Fünkchen Verstand würde da den Apfel liegenlassen.