Frühschwimmen

Kurz nach sechs, das leere Becken ist wie mit grauer Wandfarbe gefüllt, Wolkenfarbe, Nebelfarbe, blutleerer Himmel, das Wasser glatt und scheinbar flach, aufgewölbt, darunter liegen die Markierungen wie bei einer Landebahn, nach oben strebend, als wollte sie heraus aus dem Becken. Über allem der leckgeschlagene Vollmond. Es ist weder Nacht noch Tag, weder Morgen noch Abend, es ist eine Zeit außerhalb der Zeit, in der die fünfzehn Schwimmer sich hier versammelt haben. Über dem Einlaßhäuschen brennt ein Scheinwerfer, auf dem Gelände ist es duster wie in einem Park im Herbst, wenn zum ersten Mal die Laternen wieder angehen.
Harte Kühle der Steinplatten, unter den Duschen fehlt der Wasserkorridor, die Bänke sind taunaß. Wolkenlos, es soll ein warmer Tag werden, aber jetzt, fröstelnd am Beckenrand stehend, scheint es unmöglich, daß aus dieser Traumwurzel je etwas anderes sprießen könnte als wieder und wieder derselbe Traum, in dem ich, Gott weiß, wieso, nachts mit fünfzehn anderen Schwimmern im Freibad bin und als letzter am Beckenrand stehe, während alle anderen sich schon ins Wasser gelassen haben und hartnäckig, verbissen fast, ihre Bahnen drehen. Läge der Spiegel still, wie er es eben noch tat, sähe man den Mond darin stehen. Jetzt ist die Oberfläche gekräuselt, aber obwohl soviel Betrieb herrscht, ist es still, fast vollkommen still, so still, daß man hinter den geschlossenen Pommesbuden und den Kabinen und den Weißbuchenhecken am Zaun gedämpft den Berufsverkehr auf der Trierer Straße hören kann, das einzige, was normal scheint an diesem Morgen, was aber gleichsam entrückt ist, einer anderen Welt angehören muß, die die Welt der Schwimmer in ihrem dämmrigen Becken nicht zu berühren scheint.
Brille ab, Schwimmbrille auf, und im nächsten Moment schon auf der Kante sitzen, Beine im Wasser, und obwohl nichts wirklicher ist als die Kälte, die im nächsten Augenblick über die Schultern stürzt, bleibt alles wie ein sonderbarer Traum, weniger unter der Wasseroberfläche als über ihr, und fast scheint es, als sei es unter Wasser ein wenig heller, als käme der Morgen langsam aus dem Becken gestiegen und müßte sich an Land erst einmal orientieren. In diesen Morgen ragen die schwingenden und zappelnden Beine der noch über Wasser in Träumen befindlichen Schwimmer herein, wie unter der Decke die Glieder eines Kindes, das sich freigestrampelt hat.
Grund gleitet vorbei, gut sichtbar, Staub eines langen, hellen Sommers liegt in den Fugen, von den Markierungen hat sich an einem Ende eine Ecke gelöst. Beim Atemholen abwechselnd der graue Himmel und die Bäume der Liegewiese, auf der Rückbahn umgekehrt. Ich habe die Bahn ganz am Rand belegt, so kann ich mit gutem Grund nicht ausweichen. Das ist mir lieber so, auch wenn es bedeutet, daß ich mich bei jeder Hinbahn zwischen Treppe und Beckenrand quetschen muß. Zehnmal Treppe, zwanzigmal die gelöste Ecke, zehnmal von jeder Seite, dann bin ich fertig, ich stemme mich aus dem Becken, taumele zur Bank, dann zähneklappernd nach Handtuch und Brille gefummelt, und am Beckenrand entlang zu den Duschen gestakt, am ganzen Körper unkontrollierbar zitternd, schwankend, wie eine Fliege am Saum eines wackelnden Glases entlang. Der Mond ist noch nicht unter- die Sonne hinter den Ahornbäumen noch immer nicht aufgegangen. Man zieht sich schweigend um, die Kabinen benutzt niemand, wir sind ja unter uns. Das Drehkreuz steht offen. Das Wasser aus den Ohren geschüttelt und heimwärts in den Tag, wo hinter versperrten Ladentüren eben die Lichter angehen.