Würden Sie diesem Meerschweinchen Ihren Stall leihen?

Im Mai dieses Jahres veröffentlichte die Zeitschrift ZEIT Campus einen Fragebogen zum Thema Rassismus. Die Prämisse ist klar: Wir sind allesamt Rassisten. Mach dir nichts vor, auch du bist einer. Gehe in dich und bereue! Penitentiam agite! Also bin ich in mich gegangen und habe die Fragen mal für mich beantwortet:

1. Wie oft wirst du auf einer Party gefragt: Wo kommst du wirklich her?
Warum sollte jemand bezweifeln, daß ich gerade aus der Küche komme?

2. Und wie oft fragst du selbst?
Ich glaube den Leuten ihre erste Antwort.

3. Fragst du Weiße beim Smalltalk nach ihren Großeltern?
Zugegeben: Einen Enkel von Peter Handke würde ich sicher nach dessen Großvater fragen.

4. Fühlst du dich jetzt schon von diesem Fragebogen angegriffen?
Fühlen Sie sich jetzt schon von meinen flapsigen Antworten angegriffen?

5. Kannst du fluchen, Secondhand-Kleidung tragen, nicht auf Mails antworten – ohne, dass Menschen diese Entscheidung mit Sittenlosigkeit, Armut oder Faulheit verknüpfen?
Es gibt immer jemanden, der predigt.

6. Denkst du, du bist nicht rassistisch, weil du einen Freund mit Migrationshintergrund hast?
Soll ich lieber denken, daß ich rassistisch bin, weil ich einen Freund mit Migrationshintergrund habe?

7. Weißt du, wie viele Muslime in Deutschland leben?
Schauen Sie doch mal beim statistischen Bundesamt nach, die helfen Ihnen gerne weiter.

8. Wie viele enge Freunde hast du, die einen asiatischen, persischen oder nigerianischen Migrationshintergrund haben?
Sie haben die Eskimos vergessen.

9. Wusstest du, dass fast jeder Vierte in Deutschland einen Migrationshintergrund hat?
Wenn Sie in der Ahnenreihe nur weit genug zurückgehen, sagen wir mal, bis zum 30jährigen Krieg, kommen Sie sogar auf 100%.

10. Fühlst du dich fremd, wenn Leute um dich herum Arabisch oder Russisch sprechen?
Sie haben die Schwaben vergessen.

11. Fühlst du dich fremd, wenn Leute um dich herum Englisch sprechen?
Hauptsache, es sind keine Neger.

12. Wenn du ein Kind hättest, würdest du es in eine Kita mit mehrheitlich Kindern mit Migrationshintergrund schicken – wenn es in der Nähe eine Kita mit mehrheitlich weißen Kindern gäbe?
Mich verblüfft, mit welcher Selbstverständlichkeit Sie „Migrant“ und „Schwarz“ gleichsetzen.

13. Wischst du bei Dating-Apps tendenziell weiter, wenn die angezeigte Person nicht weiß ist?
Ich bin in festen Händen, nächste Frage.

14. Kennst du fünf Bücher von Autorinnen, die nicht weiß sind?
Gehen auch Autoren?

15. Wie viele hast du davon gelesen?
Nur die, die ich kenne.

16. Wie ehrlich warst du bei Frage 13?
Was wollen Sie noch, daß ich bei der Styx schwöre?

17. Stell dir vor, du siehst eine rassistische Diskussion im Netz. Würdest du dich einmischen?
Wissen Sie, was die Styx ist?

18. Hast du dich schon mal eingemischt – im Netz, auf der Straße, in ein Gespräch mit Freunden?
Ok, ich sag’s Ihnen: Die Styx ist ein Unterweltfluß, und auf sie zu schwören ist der kräftigste Eid, den man sich vorstellen kann.

19. Wie oft wurdest du schon von der Polizei angehalten und kontrolliert?
Ich bin nicht so blöd, mich erwischen zu lassen.

20. Also in diesem Monat?
Narben von vorne zieren den Mann, wie?

21. Wirst du auch ohne blonde Begleitung in die meisten Clubs gelassen?
Ach, wissen Sie, so teuer sind Gesellschaftsdamen nicht. Probieren Sie’s mal aus, wenn Sie mit dem Eintritt Probleme haben.

22. Wurdest du schon mal dafür verprügelt, dass du aussiehst, wie du aussiehst?
Deuten Sie damit an, daß ich häßlich bin?

23. Stört es dich, wenn deine Eltern ganz anders über Migrantinnen denken als du?
Ja, ich finde es schrecklich, wenn mein Kinderzimmer wieder voller Flüchtlinge ist.

24. Haben Fremde schon mal ungefragt deine Haare angefasst?
Eine Frau, in die ich verliebt war. Ohne daß wir uns besonders gut kannten. Fand ich super. Ach so, und in Bolivien. Ein achtjähriger Knabe war total fasziniert von meinen blonden Locken. Fand ich auch super.

25. Gibst du dir viel Mühe, die Namen spanischer, italienischer oder französischer Fußballspieler richtig auszusprechen, die von türkischen und vielen anderen aber nicht?
Ich weiß zufällig, wie man spanische, italienische, französische, portugiesische, katalanische, englische, türkische, polnische, ungarische, finnische und walisische Namen, sowie Namen in Quechua und Aymara ausspricht. (Und Sie?) Bei den Alphabeten und Phonologien aller anderer Sprachen muß ich leider passen. Gegenfrage: Können Sie chinesische Schriftzeichen lesen? Warum teilen Sie die Welt in „türkische Fußballspieler“ und „viele andere“, deren Sprachen Sie nicht erwähnen? Ist das nicht diskriminierend?

26. Wie würdest du dich fühlen, wenn deine neuen Nachbarn eine afghanische Familie wären?
Ich habe nichts gegen Afghanen, bevorzuge aber den Labrador Retriever.

27. Wie würdest du dich fühlen, wenn deine neuen Nachbarn eine schwedische Familie wären?
Schweden? Na, solange sie stubenrein sind.

28. Bezieht es irgendjemand auf dein Aussehen, wenn du etwas nicht so gut kannst?
Was wollen Sie damit sagen? Nur weil ich Segelohren habe? Unverschämtheit!

29. Welches Bild kommt dir in den Kopf, wenn du an schwarze Männer denkst?
„Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?“

30. Welches Bild kommt dir in den Kopf, wenn du an muslimische Frauen denkst?
Bauchtanz

31. Hast du schonmal gedacht: Wenn ich könnte, würde ich nur mit Menschen zusammenarbeiten, die so sind wie ich?
Bloß nicht! Wir würden uns ständig ins Wort fallen und „hab ich doch gesagt!“ rufen.

32. Siehst du Menschen, die dich repräsentieren, wenn du den Fernseher anschaltest oder eine Zeitung aufschlägst?
Sicher nicht, wenn ich ZEIT Campus aufschlage, tut mir leid.

33. Wie oft geben dir Menschen in deinem Umfeld das Gefühl, dass du nicht zu dieser Gesellschaft gehörst?
Wie oft geben Ihnen Menschen in Ihrem Umfeld das Gefühl, eine Nervensäge zu sein?

Zwischenruf

In Hürxberg am Straßenbahnübergang ein zwei mal fünf Meter messendes Banner, darauf abgebildet die charakteristische Kuppe des Hürxberger Hausbergs, kahl wie eine Mönchstonsur, und auf der Lichtung eine Gruppe Windkraftanlagen, die aussehen wie eine Invasion extraterrestrischer Makroviren. Dazu die Aufschrift: Waldschutz ist Klimaschutz – Windkraftprojekt Hürxberg stoppen!

Steinkohle darf es nicht sein, Braunkohle noch weniger, Atomkraft, bewahre!, schon gar nicht, und Windkraftanlagen sollen bitte woanders stehen. Liebe sogenannte Naturschützer, wo glaubt ihr, wird der Strom für eure ganzen Mobiltelephone, Laptops, Großserver, das Internet (eine Suchanfrage bei Google verbaucht soviel Strom wie eine Energiesparlampe in vier Stunden), neuerdings E-Bikes, demnächst Elektroautos, zuzüglich zu den schon vorhandenen Waschmaschinen, Trocknern, Föhnen, Brennscheren, Waffeleisen, Elektroöfen, Stabmixern, Bügeleisen, Toastern, Stereoanlagen, Fernsehern, Wasserkochern, Laubbläsern, Mikrowellen, Kühlschränken, Klimaanlagen, Straßenbahnen, Fernverkehrszügen herkommen?

Achso, ja. Aus der Steckdose.

(Die Traube der Studenten, aus der Straßenbahn herausgequollen, jetzt sammelt sie sich am unbeschrankten Gleisübergang vor der roten Ampel, so viele sind es, daß sich die Menge auf der Rampe zu den Bahnsteigen zurückstaut. Niemand will die fünf Meter des Bahnübergangs überwinden, obwohl in den geraden Strecken der Luxemburger Straße rechts und links weithin keine Bahn zu sehen ist. Erst als die Ampel grün zeigt, setzen sich einzelne, vorsichtig nach rechts und links spähend, in Bewegung, und schrittchenweise schiebt sich die Traube hinterher.

Lauter junge Leute mit kritischem Bewußtsein. Man ist versucht, diesen Ablauf als ein Sinnbild für die moderne Universität zu deuten.)

Zwischenruf

Jetzt, wo alle Welt wieder von Frankfurt spricht: Wie wäre es denn mal mit einer Messe für Literatur? Ein publikumsoffenes internationales Symposium (jährlich unter einem anderen Motto stehend), in dem ein paar Tage lang über Texte und nur über Texte gesprochen, gedacht, diskutiert und gern auch gestritten wird, kommerz- und wettbewerbsbefreit, lustig, hitzig, witzig, inspirierend. Die Publikationsformen wären egal, es ginge nur um den Text. Werbung und Verkaufsstände wären verboten. Autoren wären zugelassen, dürften aber nicht als solche auftreten (dürften also beispielsweise einen Vortrag über einen nicht selbst verfaßten Text halten, an einer Diskussion über einen nicht selbstverfaßten Text teilnehmen, nicht aber aus dem eigenen Werk lesen, Interviews geben, Signierstunden abhalten etc.)
Nicht umsonst heißt es ja Frankfurter Buchmesse, nicht *Frankfurter Literaturtage. Buch und Messe. Es geht um Bücher und um Geld, keineswegs um Texte. Die Texte sind ja im Grunde egal, solange sie sich nur verkaufen lassen. Sofern sich nur Käufer finden würden, könnte man auch über reine Attrappen sprechen. Das Buch ist eine Ware, und für Waren gibt es Messen. Für Literatur müßte man sich etwas ganz anderes einfallen lassen. Aber vielleicht will man das ja auch gar nicht.

(Während die Kassiererin und ich auf eine Preisinformation warten (die Wodkaflasche hat keinen „Scanner“, mithin ist die Kasse so hilflos wie ein Fisch auf Rollschuhen), starre ich müßig auf den Kassenbildschirm, wo die Summe meiner Einkäufe noch auf die 4,99 der Wodkaflasche wartet, und da bemerke ich, wie etwas zuckt, wie da Zahlen aufscheinen, zunehmen, wieder abnehmen, auf Null zurückgehen, wieder anwachsen, 71, 125, 234, 113, 87, 0, 126, es sieht aus wie eine geheimnisvolle Botschaft, vielleicht von der Matrix, oder elektromorphe Aliens sehen keinen anderen Weg, mit uns in Kontakt zu treten, vermuten vielleicht, die Kassenbildschirme könnten irgendeine sakrale Bedeutung für uns haben. Oder verstärken sich gerade Resonanzen im freidrehenden morphogenetischen Feld dieses Supermarkts? Aber es sind nur die Finger der Kassiererin, die, ebenso müßig wie ich, mit den Fingern trommelt, und zwar auf die vor ihr befindliche Gemüsewaage. Jedes Auftreffen des trommelnden Fingers erzeugt ein Signal, das als Gewicht ausgegeben wird, eine Art Mini-Hau-den-Lukas. Die Kassiererin, ahnungslos über die schräg hinter ihr ausgegebenen Meßwerte ihrer Trommelei, schafft 435 g, dann wird sie des Trommelns überdrüssig und läßt die Hand – 250 g Fleisch, Haut und Knochen – locker auf der Waage liegen.

Das Prinzip des Elektrofechtens (Fechten mit elektrischer Trefferanzeige) besteht darin, daß beim Treffer die Spitze der Waffe (Degen oder Florett) mit einem definierten Gewicht belastet und gleichzeitig (beim Florett), über eine leitfähige Weste, mit der die Trefferfläche definiert werden kann, ein Stromkreis geschlossen wird. Im Wettkampf muß vor jedem Gefecht die Funktionalität der Waffen getestet werden, wofür es geeichte Gewichte gibt, hohle Metallzylinder, die auf die aufgerichtete Waffenspitze gesteckt werden. Besonders diensteifrige Fechter, erinnere ich mich, gingen bei dieser Prozedur buchstäblich in die Knie – um dem Schiedsrichter die Arbeit zu erleichtern. Auf einem Bein kniend, die Waffe aufs Knie des stehenden Beins gestützt und kerzengerade erhoben, erinnerten sie mich immer an Novizen, die nach der mit Gebet und Andacht verbrachten Nacht in der Kapelle den Ritterschlag erhalten sollen.)

(In der Straßenbahn setzt sich ein Schwesternpaar in die Sitzreihe vor mir. Eine jünger, die andere etwas älter, höchstens zwei Jahre auseinander, die Ältere wird Anfang zwanzig sein, allerhöchstens. Beide haben das gleiche wellige blonde Jahr, von jener Farbe, die sogar frisch gewaschen immer ein wenig fettig aussieht, beide tragen das Haar in einer Spange zum Pferdeschwanz gebunden. Unauffällige Kleidung, herbstliche Jacken. Ich höre sie miteinander reden, die ältere zur Jüngeren geneigt, die jüngere geradeaus blickend, und irgendetwas ist merkwürdig, die Art, wie sie reden, nicht, was sie sagen, aber in welcher Stimmlage sie es tun. Es klingt wie ein Spiel, als hätten sie sich die Stimmen zweier Protagonistinnen einer nachzustellenden Geschichte geliehen, wie es Kinder tun, wenn sie im Spiel ihre Stimmen modifizieren, um jemand anderer zu sein, die Stimme als äußeres Zeichen der Verwandlung in eine Figur. Die Stimmen der jungen Frauen sind piepsig, zu hoch für das Alter, wie von Schlümpfen, etwas Atem- und Kraftloses haftet ihnen an, zugleich reden sie schnell, was ein bißchen wie Geplapper klingt, als wollten sie möglichst alles in einen einzigen Satz packen. An ihrem Äußeren ist nichts auffällig, außer vielleicht, daß die eine ein bißchen verpickelt ist. Ihre Bewegungen, ihr Habitus sind ganz gewöhnlich. Warum also dieses kindische Geplapper? Was sie sagen, kann ich nicht verstehen, da die Hintergrundgeräusche zu laut, das Geplapper zu hoch und leise, die beiden zu weit weg sind. Mir kommt ein Gedanke: Kann es sein, daß ich für merkwürdige Sprechweise halte, was in Wahrheit lediglich eine andere Sprache ist? Sprachen unterscheiden sich durchaus auch im Timbre, werden lauter oder leiser, hauchender, näselnder, in höherer oder tieferer Stimmlage gesprochen. Sprechen die Schwestern vielleicht Französisch? Ich lausche angestrengt, kann ein paar Satzfetzen auffangen, nein, was die beiden da näseln, quaken, fisteln, ist Deutsch.
Noch seltsamer wird es, als die Ältere einem Jutebeutel zwei Bücher entnimmt. Während sie eines ihrer Schwester gibt, so wie man auf einem Ausflug Butterbrote verteilt, blitzt kurz für mich sichtbar ein vorderer Umschlag auf. Zwar kann ich nichts genaues erkennen, aber die bunte, runde Schrift, der stabile Einband, der Schatten einer Abbildung läßt an ein Kinderbuch vom Typ Pferdeabenteuer erinnern. Das können die beiden nicht ernst meinen. Und auch die Lektüre gleicht einem Spiel, so wie wenn Kinder, des Lesens unkundig, die Erwachsenen bei der Zeitungslektüre nachstellen. Aber ihre Gebärden, ihre Blicke, die Haltung, die sie zueinander einnehmen, sind die von Erwachsenen. Kaum zehn Sekunden verwenden sie still auf das, was zumindest dem Anschein nach Lesen ist, dann unterbricht wieder die eine die andere, und es folgt ein kurzes Geplapper. So geht das zwanzig Minuten lang, bis am Hauptbahnhof, Endhaltestelle, die Ältere die Bücher wieder einsammelt und in der Jutetasche verstaut.
Ich frage mich, wie dieses Spiel weitergeht. Werden die beiden zum Schein eine Reise machen? Werden sie so tun, als kauften sie sich eine Fahrkarte? Werden sie vorm Fahrkartenautomaten stehen und plappernd über das Fahrtziel diskutieren? Und wer werden sie sein, wenn sie aus ihrem Spiel heraustreten und wieder die werden, die sie wirklich sind? Oder habe ich einen Moment der Wirklichkeit gesehen, den sie sonst durch ihr Spiel zu verheimlichen gewohnt sind? Oder bin ich vielleicht selbst in einem Spiel, ohne es zu bemerken?
Grübelnd sehe ich ihnen nach, während sie, die eine leicht aus der Hüfte hinkend, die andere mit dem Stoffbeutel über der Schulter, Seite an Seite im Gewühl verschwinden, und werde dabei den Eindruck nicht los, eine Figur in meinem eigenen Leben zu sein.)

(In der Straßenbahn setzt sich ein Schwesternpaar in die Sitzreihe vor mir. Eine jünger, die andere etwas älter, höchstens zwei Jahre auseinander, die Ältere wird Anfang zwanzig sein, allerhöchstens. Beide haben das gleiche wellige blonde Jahr, von jener Farbe, die sogar frisch gewaschen immer ein wenig fettig aussieht, beide tragen das Haar in einer Spange zum Pferdeschwanz gebunden. Unauffällige Kleidung, herbstliche Jacken. Ich höre sie miteinander reden, die ältere zur Jüngeren geneigt, die jüngere geradeaus blickend, und irgendetwas ist merkwürdig, die Art, wie sie reden, nicht, was sie sagen, aber in welcher Stimmlage sie es tun. Es klingt wie ein Spiel, als hätten sie sich die Stimmen zweier Protagonistinnen einer nachzustellenden Geschichte geliehen, wie es Kinder tun, wenn sie im Spiel ihre Stimmen modifizieren, um jemand anderer zu sein, die Stimme als äußeres Zeichen der Verwandlung in eine Figur. Die Stimmen der jungen Frauen sind piepsig, zu hoch für das Alter, etwas Atem- und Kraftloses haftet ihnen an, zugleich reden sie schnell, was ein bißchen wie Geplapper klingt, als wollten sie möglichst alles in einen einzigen Satz packen. An ihrem Äußeren ist nichts auffällig, außer vielleicht, daß die eine ein bißchen verpickelt ist. Ihre Bewegungen, ihr Habitus sind ganz gewöhnlich. Warum also dieses kindische Geplapper? Was sie sagen, kann ich nicht verstehen, da die Hintergrundgeräusche zu laut, das Geplapper zu hoch und leise, die beiden zu weit weg sind. Mir kommt ein Gedanke: Kann es sein, daß ich für merkwürdige Sprechweise halte, was in Wahrheit lediglich eine andere Sprache ist? Sprachen unterscheiden sich durchaus auch im Timbre, werden lauter oder leiser, hauchender, näselnder, in höherer oder tieferer Stimmlage gesprochen. Sprechen die Schwestern vielleicht Französisch? Ich lausche angestrengt, kann ein paar Satzfetzen auffangen, nein, was die beiden da näseln, quaken, fisteln, ist Deutsch.
Noch seltsamer wird es, als die Ältere einem Jutebeutel zwei Bücher entnimmt. Während sie eines ihrer Schwester gibt, blitzt kurz für mich sichtbar ein vorderer Umschlag auf. zwar kann ich nichts genaues erkennen, aber die bunte, runde Schrift, der stabile Einband, der Schatten einer Abbildung läßt an ein Kinderbuch vom Typ Pferdeabenteuer erinnern. Das können die beiden nicht ernst meinen. Und auch die Lektüre gleicht einem Spiel, so wie wenn Kinder, des Lesens unkundig, die Erwachsenen bei der Zeitungslektüre nachstellen. Aber ihre Gebärden, ihre Blicke, die Haltung, die sie zueinander einnehmen, sind die von Erwachsenen. Kaum zehn Sekunden verwenden sie still auf das, was zumindest dem Anschein nach Lesen ist, dann unterbricht wieder die eine die andere, und es folgt ein kurzes Geplapper. So geht das zwanzig Minuten lang, bis am Hauptbahnhof, Endhaltestelle, die Ältere die Bücher wieder einsammelt und in der Jutetasche verstaut.)