Frühprotokoll: Träume

Die Zeit der dunklen Läufe ist wieder angebrochen.
In Dunkelheit aufbrechen, in Dunkelheit zurückkommen. Bei der Nacht zu Gast sein und ihr eine Stunde klauen. Die Stirnlampe leuchtet von außen in meine schwarze Wohnung.

Ein Stadtbus. Die Packer im DHL-Lager. Ein Schwerlaster, der in den Hof des Getränkehandels rollt. Ein Mofafahrer, der mich überholt. Eine Straßenbahn. Der Ökoladen am Waldrand. Ein Postwurfsendungsverteiler. Dazwischen nasser Asphalt, leere Briefkästen, ausgedünnte obere Zeilen von Fahrplänen unter Quecksilberdampflampen. Der Glanz von Straßenlaternen auf der Straße. Das Rumpeln ferner Güterzüge. Ein Duft von Gemüsesuppe: im Altenheim wird bereits fürs Mittagessen gekocht.

Der Postwurfsendungsmann kommt mit dem Auto: Alle paar Meter hält er an, kuppelt und steigt aus, springt zum nächsten Briefkasten, steigt wieder ein, kuppelt, fährt mit geöffneter Fahrertür drei Meter, steigt wieder aus. Arme Socke, denke ich, von dem, was du für die Arbeit kriegst, kannst du dir im Leben das Auto nicht leisten, das du für ebendieselbe Arbeit einsetzt.

Der Mond fast noch voll. Zerteilt die Wolken in schmale Streifen. Büsche werfen blaue Schatten: Mond und Stirnlampe ringen eine Weile, dann ist die Stirnlampe stärker, und der Schatten kehrt sich nach der anderen Seite des Gehölzes.

Wie Heilige, die man unterm Firnis kaum erkennt, der Umriß von Pferden.

Im Wald wird es noch dunkler als dunkel. Stadtmenschen können sich das nicht vorstellen. Die nennen einen Himmel schwarz, der in Wirklichkeit immer noch hell ist. Unter den Bäumen aber gibt es nicht einmal hellen Himmel, nur Schichten und Schichten von Schwärze, deren Tiefe und Verästelung nicht sicht- aber hörbar ist, anhand von Tropfen, näherem oder fernerem Rascheln, anhand des stärkern oder schwächern Widerhalls meiner Schritte. Die Stirnlampe wirft eine Kugel um mich; mache ich sie aus, bin ich vollkommen blind. Jenseits des Kegels beginnt der Wald, weit, offen, bereit, wie luzides Träumen, das jederzeit in ein Alpträumen umschlagen kann. Es ist einer seltsamen Gnade zu verdanken, wenn es mich wieder und wieder verschont, oder einer Art Gleichgültigkeit.

Von ferne Glockenklang aus dem Dorf. Dort ist es jetzt halb sieben. Hier, im Wald, ruft ein Käuzchen, ist es irgendwann, nachts.

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  1. So werden Sie nun noch ein Weilchen im Dunkel sein müssen. Bis Februar gewiß. (Um Ihre Käuzchen allerdings beneide ich Sie ein wenig; ich kann mich kaum erinnern, wann ich das letzte gehört habe.)

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