Schwärzer die Erde sprießt, wo die Weite von Flügen erblindet.
Tiefer der Himmel blaut, fallend ins sterbende Lid.
Monat: September 2016
Frühprotokoll (Rauch)
Am besten geht es in der Frühe, fünf Uhr, Dunkelheit, so müde, daß man die Zeit nicht merkt, weil man schneller scheint als der Augenblick.
Rauchgeruch über den Pferdekoppeln, es riecht vertraut nach Mittelmeer, nach Müllverbrennung, ein Hahn kräht, irgendwo muß das Meer sein, ganz nahe, jenseits der dunklen Pinien. Die Ahnung des Wasserkörpers ist fast schöner als das Wasser selbst.
Aber woher kommt dieser Rauch? Würde es im Wald brennen, müßte da nicht ein flackernder Widerschein weithin zu sehen sein? Zu dunkel, um Wolken zu sehen. Keine Fahrzeuge, keine Sirenen, es ist so still, als wäre ich der letzte, der hier noch herumirrt, ahnungslos, noch unberührt von der Katastrophe.
Ein Rebhuhn schreit. Rostige Uhrfeder im Weißdorn. Versenkung in einen Ameisenhügel. Präzision des Chaos. Eine flache Welt.
Hinter drei Baumreihen ruht schweres Gerät. Eine Baggerschaufel liegt eingeknickt in einem Tümpel, wie ein abgebrauchtes Sexualorgan. In den Scheiben des Fahrzeugs setzt sich die Baumreihe als Widerschein ins Unendliche fort. Maschinenschlaf, zeitfrei. Dieser Bagger stand vielleicht letztes Jahr schon hier, oder vor zehn Jahren, man könnte meinen: Auch der Mückenschwarm über dem Tümpel ist ganz genau derselbe wie damals.
Irgendwo ein Trampeln von Schwarzwild. Dann Stille, in der die Sonne den Weg findet und ihn sanft, wie zum Lüften, anhebt. Wieder eine Runde. Kein Schlaf im Schlaf.
Das schreckliche Wort Echtzeit.
Bald werde ich aufwachen, und dann geht alles von vorne los.
Machen Sie sich bitte mal frei
Stellen Sie sich einmal vor, es würde ein Gesetz erlassen, das Frauen verbietet, im öffentlichen Raum ihre Brust zu verhüllen. Die Verhüllung der Brust, so die Begründung, geschehe unter Zwang, sei ein Symbol von Unterwerfung unter den Mann und mit den Freiheitsrechten von Frauen generell nicht vereinbar. Schließlich dürften Männer jederzeit ihre Brust zeigen, Frauen nicht. Der Einwand, eine solche Entblößung verletze das Schamgefühl der Betroffenen, wird mit dem Hinweis abgetan, daß eine Frau sich schäme, ihre Brust zu zeigen, beweise doch nur, wie schlimm Frauen bereits indoktriniert seien, wie sehr sie den fremden Zwang bereits als ihren eigenen empfänden. Dem Einwand, daß eine solche Entblößung zu sexueller Belästigung geradezu einlade, wird mit dem Argument begegnet, erstens sei die Brust sowieso nur ein Fetisch unserer Gesellschaft, und zweitens liege ein solcher Einwand genau auf der Linie fragwürdiger Empfehlungen an Frauen, sich zum Schutz vor Belästigung lieber nicht allzu aufreizend anzuziehen.
Wenn Sie das jetzt für absurd halten, dann haben Sie vollkommen recht. Aber dann müssen Sie auch das Verschleierungsverbot für muslimische Frauen für absurd halten. Was für Kleidung wir tragen, hängt bekanntlich nicht nur davon ab, wie das Wetter ist, und auch die persönlichen Vorlieben spielen nur eine untergeordnete Rolle. Viel stärker bestimmen die langfristigen oder kurzlebigen Modeerscheinungen darüber, in welchen Textilien wir uns nicht nur vor Witterung, Insektenstichen oder Pflanzendornen sicher, sondern auch schön und gut gekleidet und darum hinsichtlich unseres Auftretens in der Öffentlichkeit sicher fühlen. Deshalb, weil wir uns in den falschen Klamotten unwohl fühlen und in gar keinen Klamotten erst recht, hat Kleidung immer auch mit Scham zu tun, sowie mit Einschluß oder Ausschluß. Auch die Verschleierung von Musliminnen hat etwas damit zu tun: mit dem Wunsch nach sozialer Akzeptanz innerhalb der eigenen Gruppe. Mit dem schwer faßbaren Gefühl, ordentlich angezogen zu sein – oder sich widrigenfalls zu schämen. Man kennt Männer, die sich ohne Krawatte in der Öffentlichkeit unwohl, ja in gewisser Weise nackt fühlen. Ich denke, das läßt sich leicht auf aller Arten Verschleierung übertragen. (Man lese hierzu den sehr erhellenden Roman Schneevon Orhan Pamuk, in dem es unter anderem um die widersprüchlichen Gefühle von Menschen geht, die sich einem Kleidungsverbot gegenübersehen und in eine Zwickmühle einander widersprechender Gebote und Bedürfnisse geraten.) Schließlich ist ein Verbot, etwas zu verhüllen, immer äquivalent mit dem Gebot, etwas zu zeigen.
Das gilt es zu bedenken, bevor man über den Verbot einer Verhüllung nachdenkt. Und da oft mit dem Begriff von Freiheit und Unterdrückung argumentiert wird, sollte man sich auch fragen, wie frei wir, die wir überlegen, ein solches Verbot zu erlassen, wirklich sind, wenn wir morgens den Kleiderschrank öffnen. Und ob wir wirklich das große Wort von Unterdrückung in den Mund nehmen wollen, wenn wir einer Arbeit nachgehen, in der Anzugs- und Krawattenpflicht herrscht. Natürlich wird man bei dem Gedankenexperiment mit dem Busenverhüllungsverbot einwenden, Brüste seien schließlich ein Geschlechtsmerkmal, und die würden überall verhüllt. Warum aber dürfen Männer dann Bärte zur Schau stellen? Die sind schließlich auch ein Geschlechtsmerkmal.
Sind Sie denn frei? Ja? Sind Sie beispielsweise, wenn Sie männlich sind, frei, einen Rock zu tragen? Wirklich? Oder, wenn Sie weiblich sind, nach Art der Minoerinnen so auf die Straße zu gehen:
Oder sind Sie beispielsweise frei, sich, in einen Anzug wie einer dieser Herren hier gekleidet, in die Straßenbahn oder eine Eisdiele zu setzen?
Niemand ist frei, vergessen Sie das. Frauen nicht, Männer nicht, Sie nicht und ich auch nicht. Befreit werden müssen wir deshalb trotzdem nicht. Deshalb sollten wir uns auch nicht anmaßen, andere befreien zu wollen, womöglich gegen deren Willen. Freiheit kann man nicht verordnen, man kann sie nur anbieten. Oder, um es mit Erich Fried zu sagen: Freiheit herrscht nicht.
Spätprotokoll
Ein Buch in der Hand, die Decke über den Knien, letzte Geräusche von der Straße, letztes Licht aus der Lampe. Der eigene Herzschlag, endlich ruhig, wie ein Gebiß im Glas. Der Teppich streckt sich, das Fenster wendet den Blick nach Innen. Eine Seite raschelt. Frieden von Wörtern, die in ihren Sätzen ruhen wie kleine Tiere in einem großen, stillen Wald.
πάντα ῥεῖ
Erstarrt im Sessel sitzen, der Zeit bei ihrer Arbeit an mir zusehen und nicht und nicht über die entsetzliche Jetzigkeit des Daseins hinwegkommen. Schier verzweifeln am Gefangensein in diesem Jetztpunkt. Ich stelle mir irgendeinen Augenblick von vor, sagen wir, zwanzig Jahren vor, etwas ganz Banales, vielleicht saß ich in der Küche bei einem Bier, vielleicht hängte ich Wäsche auf, ich denke daran, daß jener Moment für mich einmal Gegenwart und Erleben war, und plötzlich ist diese banale Tatsache, auf mein jetziges Erleben und Erinnern angewendet, so grauenhaft, daß mich schwindelt. Ich schaudere wie vor einem Abgrund davor zurück – aber da ist ja nirgends fester Grund, auf den ich zurückkönnte! Denn auch der Moment, wo ich an den anderen Moment zurückdachte, ist schon wieder vorbei. Und auch der Moment, wo mich schwindelte vor diesem Rasen, und jetzt, und jetzt – Und dereinst, bald, werde ich auf dieses Schaudern und wie ich davon schrieb, aus weiter Entfernung zurückschauen. Dann wird dieser Moment ebenso rätselhaft sein wie der Moment, wo ich Wäsche aufhängte. So ist dieser gegenwärtige Moment im Grunde schon jetzt nicht mehr wirklich. Aber dann ist gar nichts wirklich! – Ich möchte Halt! rufen, Stop! Stop!, Stop! Ich muß doch erstmal … Ich wende mich und winde mich, aber überall ist gleich jetzig. Ich bin gefangen.
Kein Trost, keine Hilfe. Denn jeder Trost, jede Hilfe ist ja der Jetzigkeit unterworfen. Wie kann mich etwas trösten, das Teil dessen ist, was mich quält?
Ich verstehe das nicht, woher kommt das? Warum ängstigt mich etwas, das gar nicht anders (etwa als Entwurf oder Utopie einer besseren Welt) denkbar wäre, etwas, das wir uns gar nicht anders vorstellen können? Wie kann ein unlösbares philosophisches Problem plötzlich zu einem Gefühl existentieller Bedrohung werden?
Und wie geht das wieder weg? Wie wäre das zu schaffen, das Normale wieder als normal zu empfinden?