Es war Sommer, und das Semester, mein erstes, neigte sich seinem Ende. Prüfungen hatten wir keine, noch keine ernsteren jedenfalls, und der Stundenplan wies viele weiße Blöcke auf. Die Sonne schien, der Hofgarten lockte, die Welt war wiesentauglich, wir hatten Zeit und eine Thermoskanne Kaffee, den ich von zu Hause mitgebracht hatte. Was uns fehlte, waren Tassen. Also sind wir in ein billiges Kaufhaus in der Innenstatdt gegangen (damals könnte man noch preiswert in der Innenstadt einkaufen), und haben je eine schlichte, Tasse für zwei Mark gekauft, eine solche Tasse, die der Engländer Mug nennt, wofür es auf Deutsch kein eigenes Wort gibt. Zylindrisch, mit Henkel, dickwandig, etwa einen Viertelliter fassend, aus weinrot glasierter Keramik. Wir hatten ein äußerst schmales Budget damals und ich schätze, es wird die billigste Tasse gewesen sein, die es in diesem billigen Kaufhaus gab. Ich habe sie sehr oft gebraucht, und vom vielen Einschenken heißer Flüssigkeit hat die Farbe der Glasur auf der Innenseite ein Netzmuster feiner dunkler Risse bekommen. Sie wuchs mir ans Herz, diese Tasse, dieser Mug. In der WG bewahrte ich sie in meinem Zimmer auf, ich mochte es nicht, wenn jemand anderes daraus trank, oder, schlimmer, wenn sie für Tage (oder Wochen) in einem andern Zimmer verschwand. Jahrelang habe ich aus keiner anderen Tasse getrunken.
Mit den frischgekauften Tassen bewaffnet sind R. und ich dann in den Hofgarten gezogen, haben uns mitten auf die fröhliche Wiese gesetzt, recht allein an einem Werktag vormittag, und Kaffee getrunken. Ich war verliebt, die Wiese lag leuchtend wie eine geöffnete Schale in der Morgensonne, der Himmel streckte sich behaglich, in den Platanen schnurrte wie geölt das Licht. Alles Hasten war fern von uns. Nicht nur das Studium, mein Leben hatte begonnen. Ich war berauscht von Licht und Kaffee und Zukunft. In den Tassen schwankte die Sonne auf der schwarzen Haut des Kaffees. Nebenan spielte ein Paar Frisbee. Die Sonne wurde warm, wir wurden träge. Ich küßte R. in die feuchten Armbeugen, und sie murmelte, wie schön das sei. Eine Ameise krabbelte ihr über die Schulter, sie ließ sie krabbeln. Sie sagte, sie möge das Gefühl, wenn etwas Kleines auf ihr herumkrabbele. Über den Vormittag füllte sich die Wiese. Schulkinder spielten Fußball. Studenten ließen sich mit Skripten vor der Nase auf den Bänken nieder. Die Schatten wurden kürzer, glitten von uns weg, bis wir in der Sonne saßen. Am Hauptgebäude der Universität schlug ein Glöckchen.
Plötzlich wurde ich traurig. Ich küßte R. noch einmal, und dann noch einmal. Das Semester neigte sich seinem Ende, der Sommer knisterte schon trocken, im Rhein stockte dick von Hitze das Wasser. Noch eine Woche Uni, dann vorlesungsfreie Zeit. R.-freie Zeit. Und obwohl ich anderes hoffte, ahnte ich bereits, daß unsere Geschichte diesen Sommer nicht überdauern, daß sie in diesen Tagen enden würde. Mitten in der Zukunft hatte die Vergangenheit begonnen. Ich weiß nicht mehr, was ich R. in diesem Moment gefragt habe, nur, daß ihre Antwort nicht das war, was ich hören wollte. Irgendwann war die Thermoskanne leer, und die Zwillingstassen lagen wie ermattet nach ihrem ersten Gebrauch neben uns im Gras. Es war Zeit, aufzubrechen. Wir küßten uns ein letztes Mal, schüttelten die Tropfen aus den Tassen und packten sie in unsere Rucksäcke. Dann gingen wir in unseren Sommer hinaus.
Diese Tasse steht immer noch auf meinem Regal. Ganz hinten, hinter allen anderen Tassen steht sie verborgen an der Wand. Der Henkel ist schon vor Jahren abgebrochen, ich habe ihn in die Tasse hineingelegt, um ihn nicht zu verlieren. Beide Tassen, meine und ihr Gegenstück bei R., veränderten über die Semester und später über die Jahre ihre Farbe, bekamen jeweils ihre Risse und Netzmuster. R.s Tasse dunkelte nach, meine wurde heller, bis sie fast rosa geworden ist.
Wenn ich heute manchmal bei R. zum Kaffeetrinken bin, kann es passieren, daß sie mir ihren Tassenzwilling hinstellt.
Und, was machen die Kinder? frage ich sie und lächle ihr über den weinroten Rand hinweg zu.