Kaffee

Der erste Kaffee am Morgen, seit Jahren geliebtes Ritual. Der geschützte Raum am Saum zwischen Tag und Nacht, wo beides noch gleich möglich ist, Dunkelheit und Licht, alle Wege offen, Schlaf oder Wachsein, Traum oder Wirklichkeit ununterscheidbar. Das Schweigen von der Straße her. Die leisen Stimmen aus dem Radio. Das in sanftes Lampenlicht getauchte Zimmer, tröstlich in seiner Vertrautheit, als habe es mit seinen Möbeln und Büchern und Zetteln und Krims und Krams auf mein Wachwerden gewartet. Und der bittere, je nach Lage der Dinge verheißungsvolle oder beruhigende oder lockende oder anfeuernde Duft aus der Tasse, der schwarze Geschmack mit dem irden-warmen Abgang, bald: dieses innere Leuchten, das nur eine gute Dosis Methyltheobromins hervorrufen kann, die gute Laune, Göttergedanken: Was wäre ich ohne Kaffee? Ein Normalsterblicher, der morgens aufstehen muß.

Die erste Tasse Kaffee, die beste des Tages. So heiß, so dampfend, so schwarz gelingt keine zu einer anderen Tageszeit, ausgenommen höchstens spät nachts. Aber wer, der seines Verstandes mächtig, würde nachts Kaffee trinken? Die Nacht ist zum Schlafen da, der Morgen, na ja, zum Kaffee. Der Kaffee ist ja überhaupt der Grund für den Morgen. Irgendwo habe ich gelesen, dem Trinker schmeckt das letzte Bier der Nacht am besten. Das stimmt doch nicht! Es ist das erste Bier, das am besten schmeckt, und es ist der erste Kaffee des Tages, der unvergleichlich besser ist als jeder andere.

Das Klemmlämpchen am Bett taucht das Zimmer in mildes Licht. Ich stelle die dampfende Tasse (gestrichener Löffel Zucker, keine Milch) auf den Nachttisch, schlüpfe zurück in die noch warmen Decken, lege mir den Rechner auf die Knie. Es ist fünf oder sechs, ich bin als erster wach, ich bin allein in meiner Kapsel, die beiden Straßen, vorne und hinten ums Eck, schlafen noch. Stille ist manchmal nur zu erreichen, indem ich wach bin, wenn es kein andrer ist. Nur von fern, überbracht von freundlichen Stimmen, dringt die Welt durchs Nadelöhr des Radios an mein Ohr, jederzeit auf Abstand zu halten, filterbar, ausblendbar, beherrschbar. Ich nehme den ersten, brühheißen Schluck und beginne zu arbeiten.

Nicht beherrschbar: die Zeit. Aber in dieser Hülle aus Licht, in dieser Kapsel aus Schweigen, in der man wie unter einer tiefen See am Meeresgrund ruht, in dieser vom Kaffee, vom Ritual herausgehobenen Stunde, in der solche Gedanken möglich sind, die mir zu keiner andern Stunde einfielen: läßt sich die Zeit umgehen, indem man ihr durch die Wiederholung ein Schnippchen schlägt und diese Stunde oder zwei herauslöst aus dem verbundenen Strom, so daß sie jeden Morgen als die gleiche Abmessung, die gleiche Aussparung von Ewigkeit wiederkehrt. Wiederkehrt, sich, erneuert und erfrischt, wiederschenkt, dieselbe, die nicht vergeht. Ich fange das Gestern, das Vorgestern an genau demselben Punkt heute wieder an, knüpfe wieder an den Faden an, kehre heim auf eine Insel, in der, so lange ich will, immer dieselbe Stunde bleibt, fünf oder sechs, am Saum zwischen Tag und Nacht.

Sommersemester 1992

Es war Sommer, und das Semester, mein erstes, neigte sich seinem Ende. Prüfungen hatten wir keine, noch keine ernsteren jedenfalls, und der Stundenplan wies viele weiße Blöcke auf. Die Sonne schien, der Hofgarten lockte, die Welt war wiesentauglich, wir hatten Zeit und eine Thermoskanne Kaffee, den ich von zu Hause mitgebracht hatte. Was uns fehlte, waren Tassen. Also sind wir in ein billiges Kaufhaus in der Innenstatdt gegangen (damals könnte man noch preiswert in der Innenstadt einkaufen), und haben je eine schlichte, Tasse für zwei Mark gekauft, eine solche Tasse, die der Engländer Mug nennt, wofür es auf Deutsch kein eigenes Wort gibt. Zylindrisch, mit Henkel, dickwandig, etwa einen Viertelliter fassend, aus weinrot glasierter Keramik. Wir hatten ein äußerst schmales Budget damals und ich schätze, es wird die billigste Tasse gewesen sein, die es in diesem billigen Kaufhaus gab. Ich habe sie sehr oft gebraucht, und vom vielen Einschenken heißer Flüssigkeit hat die Farbe der Glasur auf der Innenseite ein Netzmuster feiner dunkler Risse bekommen. Sie wuchs mir ans Herz, diese Tasse, dieser Mug. In der WG bewahrte ich sie in meinem Zimmer auf, ich mochte es nicht, wenn jemand anderes daraus trank, oder, schlimmer, wenn sie für Tage (oder Wochen) in einem andern Zimmer verschwand. Jahrelang habe ich aus keiner anderen Tasse getrunken.
Mit den frischgekauften Tassen bewaffnet sind R. und ich dann in den Hofgarten gezogen, haben uns mitten auf die fröhliche Wiese gesetzt, recht allein an einem Werktag vormittag, und Kaffee getrunken. Ich war verliebt, die Wiese lag leuchtend wie eine geöffnete Schale in der Morgensonne, der Himmel streckte sich behaglich, in den Platanen schnurrte wie geölt das Licht. Alles Hasten war fern von uns. Nicht nur das Studium, mein Leben hatte begonnen. Ich war berauscht von Licht und Kaffee und Zukunft. In den Tassen schwankte die Sonne auf der schwarzen Haut des Kaffees. Nebenan spielte ein Paar Frisbee. Die Sonne wurde warm, wir wurden träge. Ich küßte R. in die feuchten Armbeugen, und sie murmelte, wie schön das sei. Eine Ameise krabbelte ihr über die Schulter, sie ließ sie krabbeln. Sie sagte, sie möge das Gefühl, wenn etwas Kleines auf ihr herumkrabbele. Über den Vormittag füllte sich die Wiese. Schulkinder spielten Fußball. Studenten ließen sich mit Skripten vor der Nase auf den Bänken nieder. Die Schatten wurden kürzer, glitten von uns weg, bis wir in der Sonne saßen. Am Hauptgebäude der Universität schlug ein Glöckchen.
Plötzlich wurde ich traurig. Ich küßte R. noch einmal, und dann noch einmal. Das Semester neigte sich seinem Ende, der Sommer knisterte schon trocken, im Rhein stockte dick von Hitze das Wasser. Noch eine Woche Uni, dann vorlesungsfreie Zeit. R.-freie Zeit. Und obwohl ich anderes hoffte, ahnte ich bereits, daß unsere Geschichte diesen Sommer nicht überdauern, daß sie in diesen Tagen enden würde. Mitten in der Zukunft hatte die Vergangenheit begonnen. Ich weiß nicht mehr, was ich R. in diesem Moment gefragt habe, nur, daß ihre Antwort nicht das war, was ich hören wollte. Irgendwann war die Thermoskanne leer, und die Zwillingstassen lagen wie ermattet nach ihrem ersten Gebrauch neben uns im Gras. Es war Zeit, aufzubrechen. Wir küßten uns ein letztes Mal, schüttelten die Tropfen aus den Tassen und packten sie in unsere Rucksäcke. Dann gingen wir in unseren Sommer hinaus.
Diese Tasse steht immer noch auf meinem Regal. Ganz hinten, hinter allen anderen Tassen steht sie verborgen an der Wand. Der Henkel ist schon vor Jahren abgebrochen, ich habe ihn in die Tasse hineingelegt, um ihn nicht zu verlieren. Beide Tassen, meine und ihr Gegenstück bei R., veränderten über die Semester und später über die Jahre ihre Farbe, bekamen jeweils ihre Risse und Netzmuster. R.s Tasse dunkelte nach, meine wurde heller, bis sie fast rosa geworden ist.
Wenn ich heute manchmal bei R. zum Kaffeetrinken bin, kann es passieren, daß sie mir ihren Tassenzwilling hinstellt.
Und, was machen die Kinder? frage ich sie und lächle ihr über den weinroten Rand hinweg zu.