Sehr geehrte Frau Schäfer-Wagner,

bitte entschuldigen Sie, wenn ich mich in einer ernsten Angelegenheit an Sie wende. Mir ist bewußt, daß mein Anliegen kaum auf Verständnis stoßen wird, aber erstens ist es nicht länger erträglich zu schweigen, und zweitens dürfte es Ihnen leichtfallen, meinem weiter unten genannten Wunsche nachzukommen, auch ohne Verständnis zu haben.
Seit einigen Wochen höre ich – verzeihen Sie meine Offenheit – das Geräusch, das die Belüftungsanlage ihrer Toilette hervorruft; zumindest ist das die plausibelste Vermutung, die mir zu diesem sehr unangenehmen heulenden Summen einfällt. Besonders lästig ist es, wenn es – wie heute – geschlagene zwei Stunden anhält. Zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Schreibens ist es immer noch zu hören, und Sie dürfen sicher sein, daß es ein sehr unangenehmer Zustand ist, zwei Stunden und länger auf das Verstummen eines verhaßten Geräusches zu warten.
Sie könnten mich für übertrieben geräuschempfindlich halten, doch erstens ändert die Zuschreibung irgendeiner Empfindlichkeit an meine Person nichts an meiner mißlichen Lage und dem damit verbundenen Ärger und Verdruß; zweitens ist es egal, wie empfindlich oder unempfindlich ich bin, wenn es Ihnen gegeben ist, ohne großen Aufwand meine Erlösung herbeizuführen. Drittens aber trifft der Vorwurf nicht. Ich würde mich nie über das morgendliche Gekrächze, Geräusper und, nun ja, Gespucke Ihres Herrn Gatten beschweren, und ich sage auch nichts über das vernehmliche Jaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaakoooooooooooooooooob, mit dem Ihr im Stimmbruch befindlicher Erstgeborener seinen Bruder morgens um sieben zum Aufstehen zu bewegen bemüht ist, und obendrein schweige ich über die donnernden Schimpfkanonaden, mit denen Ihr Ehemann seine Söhne zusammenstaucht. Noch viel weniger würde ich jemals erwähnen, wie irritierend es ist, wenn Sie oder Ihr Mann vor meinem Fenster geräuschvolle Gespräche mit den Nachbarn führen, nein, sage ich, dazu schweige ich und will ich weiter schweigen. Von einer besonderen Empfindlichkeit kann also keine Rede sein, selbst das allabendliche Einlaufen- und Ablaufenlassen des Badewannenwassers in der Wohnung im ersten Stock stört mich nicht weiter.
Allein, es gibt Geräusche, die nicht durch ihre Lautstärke, sondern bloß durch ihre Eigenart den, der ihnen ausgesetzt ist, in den Wahnsinn treiben können, und ich ersuche Sie dringend, dieses Lüftergeräusch, das bedauerlicherweise zu jenen unerträglichen Schallarten gehört, zu eliminieren. Mir will auch nicht in den Kopf, warum es erst seit wenigen Wochen zu hören ist. Irgend etwas müssen Sie daran geändert haben. Vielleicht war die Anlage defekt, und Sie haben ein halbes Jahr gebraucht, sie zu reparieren? Angesichts der Geschwindigkeit, mit der Sie Ihr Gerümpel aus dem Flur entsorgen, halte ich das für durchaus plausibel. Oder Sie haben vorher nur Ihr zweites Bad benutzt? Oder einen Nachttopf?
Was immer es ist, ich bitte Sie inständig, zum früheren Zustand, was immer er gewesen sein mag, zurückzukehren.
Bedenken Sie bitte, daß ich dem Geräusch nicht entgehen kann, da mein kombiniertes Eß-, Schlaf- und Wohnzimmer eine Wand mit Ihrer Toilette teilt.

Hochachtungsvoll,
T. Th.

B., den 23.6.2010

Zu dicht

Was mich tagtäglich nervt, ist auch in Zahlen darstellbar: Der Rhein-Sieg-Kreis steht in einer nach Bevölkerungsdichte geordneten Liste der deutschen Landkreise mit 519 Einwohnern je Quadratkilometer an neunzehnter Stelle (von 301 Kreisen), und gehört damit zu den oberen 6,3 %. Die einwohnerreichste Region ist der Kreis Mettmann mit 1226 Einwohner/Quadratkilometer. 499193 Menschen teilen sich hier eine Fläche von 407 Quadratkilometern, das sind gerade mal 815 Quadratmeter für jeden Einwohner. Am unteren Ende der Skala befinden sich die Kreise Mecklenburg-Strelitz und Müritz in Mecklenburg-Vorpommern. In beiden wohnen jeweils 38 Menschen je Quadratkilometer (das macht im Schnitt 2,6 Hektar oder 26000 Quadratmeter für jeden Einwohner). Der Kreis Vulkaneifel, der in meiner Lieblingslandschaft liegt und, wenn Arbeitsnöte nicht dagegen sprächen, seit langem meine Wohnstatt wäre, hat 68 Einwohner je Quadratkilometer.

In der Vulkaneifel müssen sich 68 Menschen einen qkm teilen.
In der Vulkaneifel müssen sich 68 Menschen einen qkm teilen

In Städten sieht es natürlich ganz anders aus. Die Liste der deutschen Gemeinden wird von München angeführt: Hier drängeln sich 1,3 Mio Menschen auf knappen 310,40 Quadratkilometern; auf jeden Quadratkilometer kommen somit 4275 Menschen. Wenn man sich vor Augen hält, daß ein qkm der Fläche eines Quadrates mit 1000 m Seitenlänge entspricht, und daß es selbst in einer Großstadt wie München auch relativ leere Flächen gibt, kann man sich das Gewühl vorstellen. Leere Flächen beeinträchtigen natürlich die Aussagekraft solcher Zahlen: So liegt die nach Einwohnerzahl zweitgrößte Stadt Deutschlands, Hamburg, nach Bevölkerungsdichte weit abgeschlagen irgendwo in der Mitte: Hafen, Elbe und ländliche Gebiete sind praktisch unbewohnte Fläche, die die Zahlen nach unten drückt.
Ein Gewimmel wie München ist übrigens gar nichts im internationalen Vergleich. Mehr als dreieinhalb mal so hoch ist die Bevölkerungsdichte in Monaco, dem dichtesbesiedelten Land der Erde: 16620 Menschen müssen sich einen Quadratkilometer teilen (das sind 60 qm pro Person). Schön ruhig ist es dagegen in der Mongolei: Jeder Einwohner hat dort im Durchschnitt einen halben Quadratkilometer für sich.

Störer

„Entschuldigung, darf ich mich hierhin setzen?“ spricht mich der Anzugsfritze an und deutet auf den Nebensitz, wo ich meinen Rucksack abgestellt habe.
Nein, denke ich, nein, dürfen Sie nicht. Sie stören. Sie rücken mir auf die Pelle. Deswegen habe ich ja gerade meinen Rucksack genau dort abgestellt, daß Sie eben nicht auf den Gedanken kommen, sich hier hinzusetzen. Im übrigen ist ein Sitz weiter auch noch ein Platz frei.
Statt es zu sagen, nehme ich wortlos den Rucksack, erhebe mich und suche mir eine Stelle, wo ich den Rest der Fahrt wenigstens bequem stehen kann. Der andere wundert sich nicht einmal, und zu meiner Wut über die Störung tritt nun noch der Zorn auf die Selbstverständlichkeit, mit der er den Umstand hinnimmt, daß er mich vertrieben hat aus meinem Territorium, ein Gewinner, denke ich, ein Störer. Ich koche innerlich. Er sieht mich nicht einmal an, vielleicht hat er nicht einmal bemerkt, daß ich aufgestanden bin, und es läßt mir keine Ruhe, daß er nicht gesagt hat, bleiben Sie doch sitzen, bleiben Sie doch … „Es ist mir zu nah“, hätte ich dann erwidern können.
Aber wahrscheinlich hätte er das nicht verstanden. Hätte er die dafür nötige Empfindlichkeit, er hätte sich von vornherein nicht neben mich setzen wollen.
Ich schweige und köchle. Und komme zu dem Schluß: Die Welt gehört den Störern, die sich selbst an nichts stören. Den Autofahrern, den Rauchern, den Lärmern und Schulterreibern.