Allerheiligen

Viele Menschen dieses Jahr, in schwarzen Scharen kommen sie mir schon von der Bushaltestelle entgegen, klar, das Wetter, der Feiertag,  ich ärgere mich, obwohl das falsch ist, nicht sie sind hier Eindringlinge, ich bin es. Was habe ich hier zu suchen, welchen Toten zu beweinen, an wen mich zu erinnern? Das Grab gehört einer Fremden.

Wann bin ich zum ersten Mal hier gewesen? Lange ist das her. Seitdem komme ich jedes Jahr an diesem Tag. Nie haben frische Blumen gefehlt, nie ein Licht. Auch heute war schon jemand hier. Drei frische Leuchten und ein Öllämpchen stehen rund um ein Blumengesteck. Ein Engel aus blauer Keramik sitzt auf einem umgedrehten Blumentopf, den Kinderkopf nachdenklich in die Hand geschmiegt.

Mehr Menschen strömen herein. Die Wege glänzen von Wollmänteln und Handtäschchen. Im Ilexststrauch leuchten die Beeren. Mittvierzigerparfum schwebt zwischen den Thujahecken. Ein später Zaunkönig läßt sich hören. Neben den gesenkten Blicken, den andächtig gekreuzten Händen, den stillen Schritten, plötzlich auch Gelächter und frohe Stimmen. In einem Winkel hustet jemand ausdauernd.

Am unteren Eingang, wo der Waldpfad beginnt, tritt eine Familie mit zwei Hunden ein. Eines der Tiere beäugt mich aufmerksam, als ahne es, daß ich hier nicht hingehöre, sondern mir nur ein fremdes Gefühl ausleihe. Hunde merken so etwas. Hunde sind ehrlich und erspüren jede Art von Verdrückung. Oder vielleicht ist es die Brötchentüte, die ihn anzieht. Ich lasse ihn schnuppern, strecke die Hand nach ihm aus. Da sehe ich, daß er etwas im Maul trägt. Ich traue meinen Augen nicht. Es ist eine Grableuchte.

Ich habe keine Ruhe mit so vielen Menschen auf diesem engen Raum. Ich verweile nur kurz. Ein Blick, der alles in sich aufnehmen will: Das Grab ist still, die Erde dunkel und glattgestrichen, das Mädchen lächelt aus seiner Photographie heraus, für immer neun Jahre alt. Die Treppe, die Wegbiegung, die Hallen des Waldes, bereits im Schatten. Laub krümmt sich auf den Wegen. Das Grab, die Reihe der Lichter. Ein guter Ort ist das. Aber heute kann ich nicht bleiben. Schon nähert sich die nächste Menschentraube, huschen die nächsten Hunde heran. Bevor ich sehen kann, ob einer wieder ein Grablicht in der Schnauze hat, habe ich mich abgewendet.

Wenn ich wiederkomme, bist du immer noch da, denke ich, du bist verläßlich da, hast die Zeit, alle Zeit, überwunden. Es gibt dich nicht mehr, aber es wird dich immer gegeben haben, solange jemand an dich denkt, ist der Himmel voller Sternbilder. Die Toten sind wie die Geschichten, überlege ich, sie sind für immer wahr, es sei denn, man vergißt, sie wiederzuerzählen. Und während ich mir die Stiefel fester schnüre, frage ich mich, ob das nun ein tröstlicher Gedanke ist oder nicht. Die Hunde sind fort, auf dem Grünschnitt glänzen Schneckenspuren, ein leises Lachen verliert sich hinter den Hecken. Die Sonne geht unter, es wird kalt, und nach Hause ist es noch weit.

Allerheiligen

Und der Teddy am Rand des schwankenden Lichttümpels der Kerze, und das Kreiseln der Flamme, und wie sich das in ein Kreiseln der ins Enge, Umgrenzte der eigenen Schrittweite eingefaßten Dunkelheit übersetzt, an deren Rand der kleine Teddybär, mit Wollmützchen und einem roten Halstuch, der Glanz in den Kunsstoffaugen beinahe lebendig, in diesem vor- und zurückspringenden Zucken sich zu bewegen scheint, wenn man nicht genau hinsieht, sondern knapp und wie absichtslos daneben, auf die frischen Blumen, das Feuchte der im Kerzenschimmer verfälschten Farben, die Pflanzengattungen nur durch ihre Form kenntlich, und wie die Schrift auf dem Stein so ist wie immer, fremd, aber nicht abweisend, höchstens den Anschein von schamhaftem Vorwurf vermittelnd, der an mich, den Unbeteiligten geht, und warum ich denn so oft hierhergekommen bin, um mir am Zeugnis fremden Leides einen wohltuenden Schauer zu holen? Aber vielleicht stimmt das gar nicht, oder doch, oder halb: Der Schauer tut wohl, aber es ist ein Schauer des Trostes, widersprüchlicher Besänftigung, die ich, wer wollte sie jemandem verweigern? aus Licht und Teddybär beziehe (manchmal ist es auch ein verkitschter Engel, manchmal haben die Figuren ein Schneemützchen, stets sind die Blumen frisch, einmal habe ich eine halbe Stunde lang einer Amsel zugehört, niemand war außer mir auf dem Friedhof), und daraus schöpfe, daß da jemand tapfer gedenkt, und daß die Liebe, die sich da in Blumen und Teddy und Engel zeigt, ebenso wahr ist wie der allzu frühe Tod der unbekannten Jennifer, und dieser Gedanke bringt mich von den trauernden Liebenden zurück zu dem fremden, ewig neunjährigen Mädchen, an dessen Grab ich manchmal verweile zum Stillsein und Nachdenken und widersprüchlich Tröstenlassen, um dann still und leise wieder zu verschwinden, ein vorübergehender Eindringling, der niemanden stören will und gleich wieder weg ist, und ich denke, sie hätte gewiß nichts dagegen.