Vielleicht der peinlichste Moment meines Lebens

Einst in meinem 14 Lenz, vielleicht war es sogar der 15. kam mein Vater abends zu mir ins Zimmer, mir eine gute Nacht zu wünschen, trat an mein Bett, ließ sich in die Hocke nieder und sprach: Mein Sohn … nein, so wars nicht, er sagte einfach, sinngemäß: Wenn ich mal nachts wach werden sollte und mein Bett sei naß, dann solle ich mich nicht beunruhigen, weil, das sei dann Samen. Er sage mir das, da er selbst zu seiner Knabenzeit furchtbar erschrocken sei; das wolle er mir ersparen.

Ich schluckte und nickte. Er verschwand.

Der Gute tat es in der besten Absicht, ich weiß, und leicht wird es ihm auch nicht gefallen sein. Ebensowenig wie seine eigene Pubertät leicht gewesen sein wird. Nur machte er meine eigene damit ein gutes Stück schwieriger, und außerdem kam er ein gutes Jahr zu spät; und auch sonst war seine aufklärende Beruhigung völlig überflüssig, denn ich habe mich nie über ein nasses Bett erschreckt. Dazu konnte es auch kaum kommen. Weil ich nämlich ein Taschentuch benutzte. Als mein Vater aufklärerisch in Aktion trat, da bestimmte ich schon lange selbst darüber, wann mein Bett wenn überhaupt naß werden sollte, indem ich der Spontanfreisetzung meiner Gameten meist zuvorkam. Da lag ich nun, zwar nicht hochroten Kopfes (dazu war ich viel zu panisch), wohl aber hämmernden Herzens. „Das ist dann Samen“, hallte es in meinem Kopf wieder. Ach nein, wirklich, ich dachte das sei Vanilleeis.

Das schlimmste aber war danach die Sorge, er könne das tun, worum ich sämtliche mir bekannten und unbekannten höheren Mächte bat, er möge es unterlassen: mich zu fragen, ob es denn schon soweit sei. Was hätte ich ihm da antworten sollen? „Weißt du, Papa, wenn man sich da unten anfaßt, das ist dann ein total schönes Gefühl, ja, und wenn mans richtig anstellt, dann …“? Ich war wochenlang in wilder Angst. Aber er hat geschwiegen.

die liebe als handeln

Baumgestützt neigen sich die Wolken aus Himmeln, die sich entziehen. Emsiges Geflatter geht in den Kronen um, und die Pfützen spiegeln es nachdenklich wieder. Das Wasser bekommt eine Gänsehaut, und man weiß nicht, war es das Licht oder die Kühle des Windhauchs? Man kann die Fahrzeuge räuspern hören, Staub verwirbelt unter geöffneten Fenstern, und es ist, als gingen die Menschen nicht auf ihren eigenen Beinen, sondern auf geliehenen, oder solchen, die einen eignen (sich entziehenden, geheimen und unergründlichen) Willen haben.

Das sind die Gegebenheiten, eine gemeinsame Welt, der Regen gleich für uns beide, doch da fängt es schon an. Teilen ist ein schönes Wort, leicht fällts indessen nicht. Was kann man nicht alles teilen, Freud und Leid, Meinungen, Brötchen, Staaten, Ansichten, Budgets, Geheimnisse, Festplatten, Arbeit, Erfahrungen, Zeit, Atome, das Leben gar. Da stehen wir nun, wir zwei, und teilen uns, ob wirs wollen oder nicht, die Welt.

Ob hier, ob da, ob Flüsse zwischen uns brausen oder die Räume unwirsch klaffen mit verregneten Bahnhöfen, die die Strecken noch länger machen als sie schon sind; oder ob uns nichts trennt weiter als unsere verschwitzte Haut und das Pochen des andern Herzens; ob uns Freundesgebraus umgibt oder die Einsamkeiten den Wind heimlich versteckt haben; ob wir gemeinsam am Meeresgestade stehen, oder ein tiefes Tal unsere Stirnen verschattet; ob einer glücklich, ob der andere unglücklich ist; immer ist die Frage dieselbe.

Von hier bis zum Ende ist es vielleicht genauso weit wie vom Anfang hier herauf, aber die Tage rollen immer schneller dahin, als habe etwas die Zeit selbst in unruhige Schwingung versetzt. Schon ist mir manchmal vieles leid, die ewiggleichen Bewegungen, Beine über die Bettkante hieven, wie oft schon wie oft noch. Der klebrige Kaffee, der Schaum beim Zähneputzen, das prickelnde Bier, wie ein zäher Ohrwurm, eine abgedroschene Melodie. Nichts scheint mehr neu zu sein. Neu war lange nichts. Da schlag ich dann wohl die Augen auf, aber Schlaf wie Wachsein ist mir gleichermaßen zu öd. Das Dichten, so kommts mir vor, war schon, hat stattgefunden, ist Ereignis, wir erzählens höchstens nach, mit jedem Wort, das wir uns abringen. Erschaffung wäre etwas anderes. Einst schuf ich eine Sprache, die nur ich verstand. War ich da glücklicher?

Ich sag mir, du hast es gehabt, du hast alles gehabt und mehr, als du hättest hoffen dürfen zu Beginn. Aber es hilft nichts, sich das vorzusagen, höchstens noch geschiehts, daß die Silben mich einlullen in hellen Schlaf. Ich fasse mich selbst an und denke dabei an sie. Siehe: Das Umarmen wird neu in ihren Armen. Das Küssen wird neu durch ihren Mund. Die Lust wird neu durch ihren Laut. Und wieder ist es nicht genug, nicht genug, wieviel ich auch erlebt hab.

Vielleicht regnet es gleich. Ich denke an dich, wie du, die Wolken überm Kopf spürend, dich wehrst gegen die drohende Nässe. Wie leicht verliert man aus den Augen, was das heißt: du spürst. Nicht ich spüre, was das einfachste ist, sondern dies unbegreifliche du. Du spürst. Die zweite Person ein Mysterium.

Nun rollt der Sommer an, die Vögel verstummen schon wieder, die Bäume saugen die Nässe aus der Luft und die Tage sind so lang und hell, als säumten sie zu vergehen. Und doch müssen sie weichen und anders werden, und neu. Diesen Sommer und den nächsten und so alle Zeit. Da stehen wir nun, vor uns noch viel zu leben und Menschen, die die Wichtigkeiten der Welt schon für uns festgelegt und in Rang gebracht haben wollen. Wo wird unser Platz darin wohl sein? Ob jeder für sich oder beide zusammen. Man kann es wollen noch so sehr: Nichts steht schon fest. Wo werden wir sein, ich und du, heut übers Jahr. Ich will es nicht denken, doch der Gedanke läßt sich nicht verscheuchen, flattert und flimmert und lugt um die Ecke, und paß ich nicht auf ist er da.

Ein letzter Gedanke ist dies. Die Liebe als Handeln. Die Liebe als ein Sich-Entscheiden. Als ein Glück, das nicht zu erreichen ist, sondern erfunden, erschaffen, aus der Seele herausgeformt, hervorgelebt werden will, Herzschlag für Herzschlag.

Von meinem Großvater geträumt. Immer derselbe Traum, er ist gar nicht tot, sondern kommt plötzlich putzmunter zur Tür herein, oder, wie heute Nacht, wird plötzlich unruhig, spricht mit sich selbst, schlägt die Decke weg, will aufstehen, erhebt sich halb. Es ist etwas Grauenhaftes daran, etwas völlig Unmögliches passiert und verstört mich. Halb ist es auch gar nicht wahr und er ist doch gestorben, und seine Bewegungen sind eine Laune der Natur, ein übriggebliebener mechanischer Reflex, ein Reststrom in den Nerven, der sich gliederrührend entlädt, wasweißich.

Solche Träume werden noch öfter kommen, denke ich, und mit allem Schlimmen, was passiert, werden neue, sich dann ebenfalls wiederholende Träume sich hinzumehren. Das Leben wird schwieriger. Die Träume zeigen es an.

Nun bin ich auf mich selbst geworfen, nun hat sich der Abend verwandelt, er ist lastend und sperrig meiner geworden, mir allein zuteil, was soll ich mit dieser Masse an Zeit?, und nun spiegeln die Stunden mir meine Vergänglichkeit, meine Sehnsüchte und auch meine Blindheit wider.

„Dann sehen wir uns also heute nicht?“ hab ich gefragt, und meine Stimme hat sich ganz klein angehört. Vernünftig, natürlich. Und was hätte ich denn auch von einer Sosiglaúke, die mürrisch und unzufrieden und todmüde ist und sich unwohl fühlt, weil sie lieber allein wäre. Nur weil ich anders bin, und es deshalb nicht verstehen will. Als könnte ich nur verstehen, was mir auch so geht … Nur weil ich selbst, müde nach Hause kommend, nichts lieber täte, als mit der Liebsten, und dann neben ihr einzuschlafen. Von ihr entmüdet und wieder müdgemacht. So. Aber die Menschen sind unterschiedlich.

In solchen Momenten fühle ich, will ichs will ichs nicht, eine gewisse Hilflosigkeit. Ich komme mir in meinen Vorstellungen ichverpflichtet, ichbeschlossen vor, und doch sind es die Bedürfnisse, die ich selbst an Stelle des anderen – und auch ihre Stillung vom andern einfordern würde ich.

Dann will mir aufgehen, wie allein wir doch alle wirklich sind, und was es für ein Glück bedeutet, wenn einmal sich das eine mit dem anderen berührt und zum Einklang kommt und eins miteinander wird in einem Zauberaugenblick, einer Wunderstunde. So etwas hat es gegeben, gerade erst …

Wie viele Wunderstunden mag es noch geben, für mich, für sie, für irgendwen? Ich denke, daß die Zeit unaufhaltsam verinnt, das süße Leben. Das wird immer deutlicher, klar.

Dann denke ich viel über früher nach, als die Zeit überreichlich da war und vom Fließen nichts zu merken, und jeder Augenblick so süß, wie wenn das Glas Wein noch ganz voll ist.

Dann auch denke ich, daß die Dinge immer komplizierter geworden sind. Wieso sollte ich nicht glauben, daß sie noch komplizierter werden? War ich es, der sich keine Gedanken machte, alles für einfach hielt und sich selbst für den Größten? Vielleicht ist es das. Irgendwo zwischen hier und der Stadt am Ende des Jahrtausends und wieder hier muß mir dieses unerschütterliche Selbstbewußtsein abhanden gekommen sein, und nun bin ich nichts als ein Bündel Fragen, und ein Wort, ein Blick, der alberne Artikel einer Frauenzeitschrift, ein Gespräch am Nebentisch, eine Diskussion im Netz werfen mich in komplette Verwirrung und unabschüttelbare Selbstzweifel. Hab ich mich all die Jahre getäuscht? War ich gar nicht so toll? Ließ man es mich nur fühlen, damit ich zufrieden sei, weil man meine Eitelkeit bemerkt hatte?

Oder habe ich mich verändert? Bin ich vielleicht so geworden, daß meine Selbstzweifel jetzt wirklich gerechtfertigt sind? Hatte ich sie früher nicht, weil sie unbegründet waren, waren? Und jetzt sind sies nicht mehr?

Auf mich geworfen, plötzlich unausweichlich und unablenkbar allein mit meinen Sehnsüchten, meiner Blindheit, meiner Vergänglichkeit. Wie soll das alles werden. Reicht denn, das beste zu wünschen für sich und den andern? Was ist mit den schweren Zeiten? Und warum schreckten sie mich früher nicht, die schweren Zeiten? Warum hab ich jetzt Angst, nicht wach genug zu sein für sie, woher die Sorge, ich könnte ihr nicht guttun? Früher tat ich gut, klar tat ich das, ich war schließlich der größte, ich war der Held. Der Retter, der, auch wenn er nicht viel helfen konnte, so doch darin half, daß er da war.

Wie konnte ich so unumstößliche Gewißheiten über mich selbst haben?

Allein mit meinen Sehnsüchten. So allein wie ich es früher bei dieser Gelegenheit nicht gewesen wäre.

Eine Unruhe packt mich beim Gedanken an ihren Schoß, wie ich sie noch nie so erlebt habe, und dabei ist es nicht das Verlangen, das diese Unruhe auslöst. Das Verlangen ist da und es ist schön, selbst noch im Ungestilltsein, in der Erwartung. Die Unruhe kommt nicht daher. Etwas quält mich, und ich kann es für einmal nicht benennen. Sie soll wissen, was für ein Sinnenrausch das für mich ist, ihre Lilie zu küssen, was es mit mir macht … und ich bange so darum, daß sies auch so schön finde, daß sie es mich für und für tun lasse, weil sie es selbst will. Daß wir beide verrückt danach seien und entzückt, und im Vertrauen, daß jeder für sich es im Rausch erfährt: sich hingeben. Es ihr erklären, es ihr beschreiben … aber wie könnte, wie sollte – wo gäb es denn Worte dafür? Was für ein Weg ist vom einen zum anderen? Ich habs nicht versucht, weil es sich so albern anhörte, und meine Stimme, sie wäre wieder ganz klein.

Schreibhemmnisse

Momentan ist da wieder einmal der Eindruck, niemals im Leben so schreiben zu können, auch nicht dereinst, wenn ich groß bin oader wannauchimmer, wie ich es mir vorstelle, daß ich müßte. Hab gerade wieder ein Buch verputzt, das mir sozusagen mein eigenes Erträumtschreiben vorgeführt hat. Ist desillusionierend und ernüchternd. Ziemlich. Zu sehen: So hat es schon einer formuliert, jetzt mußt du dir wieder was Neues ausdenken. Noch besser als Herbst war der. Schon schlimm. Vor allem, weil es nicht einfach nur gut war. Gut schreiben viele, aber die Bewunderung fällt nicht schwer, wenn es auf eine Weise gut ist, die zu den eigenen Vorhaben nicht “passen” würde und also von mir nicht erstrebt wird.

Flüsterstunde blauverklebt: Laß mich schlafen, Kissenduft; komm wie der Tag zum Licht … und meinen Lidern flechte ein die feinen Gärten des Traums. Sieh: Die Fenster sind voll Nacht, die Augen sternenschläfrig. Und du, Mond, bist mir wieder Freund.

Meine Hand hat Eine mit Sonne befüllt. Die hat den Farben Namen gegeben, daß sie nun heißen Flieder und Kirsche, Rosenbaum und Blauregen, Mausohr und Mohn. Unter Birken nisten lächelnde Geister. Wolkengeächz wird am Himmel dünn. Von Tag zu übernächstem Tag bin ich alleiner als allein. Ihr Finger hat Flaum mir über den Bauch wachsen lassen. Und über die Stirn ist mir ein Taustreif gekommen. Lieder senken sich auf meine müden Glieder nieder wie Flackern durch ein Ährengewoge. Härchen stehen Kopf, und die Haut fühlt sich an wie Wasser.

In der Stadt riecht es nach Pflanzen, die Luft ist zittrig und scheu vor Licht, die Pfützen beben. Aber über Nacht hat sich der Frühling noch einmal und wieder verwandelt, hat frische duftende Kleider übergestreift und dem Wind neue Töne dagelassen.

Worte les ich und Wörtchen und süße Beklemmung umfaßt mir das Atmen. Zweige liegen zeichenweise auf der Straße, Vögel pfeifen ihren verborgnen Namen in den hellen Wind, und vor soviel Herzschlag weiß die Nacht nicht ein noch aus.

nächtlich, morgendlich

War ganz schön ungewohnt, so ohne Dich einschlafen, aufwachen; träumen ohne anschmiegsame Wärme daneben. War mir mein eigener Fremdkörper im Bett, kühl und unzugänglich und mir selbst den Platz wegnehmend. Viel Geträum mit Bildern, an denen noch Dalí hätte verzweifeln müssen. Nackte Riesenmänner, die ein seltsames Bauwerk errichten, einer mit einem grotesken Kopf und Kinderblick, ein Gebirgsmassiv, dahinter vielstundigwandernderweise das Meer warten würde, aber es ist schon abend, das schafft man nicht mehr.

Der Morgen ungewohnterweise so früh und so hell, verlebten Wochenends und Langausschlafens. Kurz vor dem Regen: Hausrotschwänze zerknirschen wieder Wagenladungen von Tonscherben. Ich denke an Linden, an Rauhblätter, an Mäuseohren, ich denke an dich.