Grauenhafte Träume haben mich heute Nacht heimgesucht, und dann polterte auch noch ein Gewitter los. Schon wieder katastrophische Ereignisse, Leichenberge, kreischende Frauen — gräßlich. Entwand mich nur mit größter Mühe, strampelte viel, ehe ich schließlich wieder wußte, wer ich bin, und wo ich mich befand. Da war es draußen still, so entsetzlich still, daß mich wieder Angst anschwemmte. Als wäre tatsächlich alles tot, und draußen lägen nur noch zugerichtet die entseelten Leiber. So still! Vielleicht, da es gerade zwei Uhr war, eine Stunde, die ich sonst glücklich verschlafe. Kein Vogel. Kein Motorenlärm. Keine Schritte im Hof. Nur stummes Geflacker, das irgendwo in den Fernen geisterhaft blitzte und wieder erlosch, und der Hof erhellte sich und sank wieder ins Dunkel hinab. Die Schreie aus dem Traum hallten noch nach, die Bilder eines gesunkenen Schiffes, blitzhaft aufleuchtende und wieder von Wasserschwärze verhängte Anblicke von Gegenständen, die vielleicht Leichen waren. Ein Gang, eine Grube, ein Schacht? Zuletzt, kurz vor dem Erwachen, ein Bahnhof, auch hier viele Tote, halbversteckt, lagen da schon lange. Wir beide mußten ans Ende eines Bahnsteigs, um dort Bier abzufüllen, doch dazu mußten wir an den Kadavern vorbei, und … ich konnte nicht, konnte nicht. Aber es war doch meine Pflicht! Alle hatten es getan, und es gab keinen Weg, es nicht selbst auch zu tun, überall war die Erwartung, daß ich es tun müßte, daß ich mich nicht dieser Aufgabe, die alle andren auch auf sich genommen hatten, entziehen könnte. Aber alles in mir wehrte sich. Schon vermeinte ich, daß es nach süßlicher Verwesung röche — da erwachte ich strampelnd zu Fremdzimmerwänden, Stille und Wetterleuchten.
Monat: Juni 2005
Meines Großvaters Tod – irgendwie scheint das Ereignis tiefere Spuren gegraben, tiefer in mich gegriffen zu haben, als mir zunächst bewußt war. Die Träume zeigen es mir, Blasen, die aus den Tiefen des Schlafs emporsteigen und an der Grenze zum Wachsein Bilder ausschütten, die wieder zurück in die Wirren der Tiefe weisen.
Ich halte nichts von der Vorstellung des einschneidenden, gar prägenden Erlebnisses. Halte es für romantisch und für ein literarisches Konstrukt. Etwas, das man im Englischunterricht als story of initiation durchkaut. Oftmals, so will es mir scheinen, ist man erschüttert, bewegt, verändert, allein aus dem Grund, daß man glaubt, es jetzt sein zu müssen. Es ist die Rolle, die man zu spielen hat. Wieviel davon ist echte Erschütterung, vorliterarisch, vorbildlos, musterlos? Dennoch ist da etwas – benennen kann ichs nicht – das mich unmerklich durchfurcht hat, auf eine Weise, daß es sich, zunächst unerkannt, langsam und im Kleinen äußert, gleichsam nur als Zeichen, daß etwas Grundlegendes anders geworden ist. Einesteils zeigt sich das in den Träumen; dann hab ich aber auch viel von meiner (vielleicht auch nur eingebildeten) Gelassenheit verloren, jener Gelassenheit, die glaubte, der Tod könne nicht schrecken. Aber der Tod, so wie er sich nun mir gezeigt hat, ist widerlich. Nicht unheimlich, sondern in dem, wie er sich äußert, furchterregend, weil abstoßend. Die faßbare Realität, nicht jenes Unfaßbare, daß eine Welt in der Welt plötzlich fehlt, und wies wohl sein kann, daß sie fehlt. Das ist es nicht. Faßbar: die wächserne Haut, die kalte Leblosigkeit unter dem berührenden Finger, der halboffen starrende Mund. Unter den Ohrläppchen war schon Blut bläulich zusammengelaufen. Die Stirn lag gläsern und hart ins Kissen gesunken. Die Hände hatte man ihm, ihn Anzielung einer vornehmen Haltung, eine über der anderen auf der Brust zusammengetan. Vornehm indes wars nicht, sie starrten in Nichtbewegung und leerem Greifen wie Vogelkrallen. Es war überhaupt nichts Edles daran, nichts Weihevolles, nichts Hohes. Das da war ein toter Leib, dessen Verfall im Augenblick, da das Herz still blieb, schon eingesetzt hatte.
Man sagt immer, es ist wichtig, Abschied zu nehmen, indem man den Toten zu berührt, wichtig, sich davon zu überzeugen, daß er wirklich tot und fort ist, und dieses Fortsein mit den Händen zu begreifen. Daher glaubte ich, es tun zu müssen, und ich berührte meines Großvaters kalten Leib. Das war ein Fehler. Ich hätte ihn niemals berühren, ich hätte ihn nicht einmal sehen sollen. Vielleicht blieben dann auch die Träume aus. Und das Bedürfnis nach einer letzten Berührung, die ja doch ihn, meinen Großvater, gar nicht mehr hat erreichen können, diese Bedürfnis hatte ich ohnedies nicht gehabt. Am liebsten wäre ich im Auto sitzengeblieben. Mein letztes Bild von ihm wäre nicht seine glasharte Stirn, wäre nicht der offene Mund gewesen, sondern seine genießerisch geschlossenen Augen, als ich ihm das letzte Mal beim Rasieren half. So aber werde ich jetzt dieses andere Gesicht, das gar nicht mehr seins ist, nicht mehr los. Kaum in der Wohnung meiner Großmutter angekommen tat ich etwas, wofür ich mich zwar schämte, das mir aber ein furchtbares Bedürfnis war: Ich wusch mir die Hände, wo ich den Toten berührt hatte, wusch sie mir gründlich, mehrmals, mit warmem Wasser und Seife, wusch mir die Todesbegegnung, wusch mir eine Befleckung vom Leib. Ein gräßliches, schwarzes Berührtsein wollte ich von mir abtun, das mir aber innerlich blieb, auch wenn die Hände nach Seife dufteten.
Ich träume jetzt zum dritten mal dasselbe. Er ist gar nicht tot, er kommt putzmunter zur Tür herein. Es ist ein Augenblick schreckhaften Atemanhaltens. Was passiert nun, wie geht es jetzt weiter, was wird jetzt geschehen –? Ich empfinde keine Freude, ich habe Angst. Nicht weil das da ein Gespenst sein könnte. Es ist die Angst vor etwas Monströsem, das sich da abspielt, etwas Widernatürlichem. Ich begrüße ihn nicht, ich scheue ihn. Ich frage mich, was meine Mutter, meine Großmutter sagen, tun, denken werden. In den Träumen sind sie nur Statisten. Ich erfahre nie, wie sie reagieren. Manchmal bin ich der einzige und erste, der ihn sieht und begreift, daß er zurück ist, an mir ist es dann, zu reagieren, zu handeln, die anderen zu holen, aber mir graut davor, so ungeheuerlich ist es. Mein Großvater ist bester Laune, erfreut sich guter Gesundheit, strahlt Lebenskraft aus, ist viel jünger: In dem einen Traum hatte er glänzend schwarzes Haar. Aber er spricht auch nicht mit mir. Im jüngsten dieser Träume begab er sich wieder nach draußen, vor die Tür der großelterlichen Wohnung. Die Tür schloß sich. Etwas polterte. Jemand wollte nachsehen, doch eine Stimme hielt ihn oder sie zurück, eine Traumstimme, die sagte, geh da nicht raus, sieh es dir nicht an, jetzt hat er seine tatsächliche Gestalt wieder.
Grauenvoll. Das Bildnis des Dorian Grey, sozusagen.
Die Träume sind eines. Etwas anderes ist, daß sich die Welt gewandelt hat. Sie ist eine geworden, die auf Tode wartet.
19. Juni. ein brief
Nein, ich war nicht in der Eifel ich war: zu Haus. Samstag lang lange schlafen, einkaufen, Essen machen, dann stundenlang die Vertracktheiten der lateinischen Syntax und Semantik in mich hineingefressen. Hoffentlich blieb genug hängen. Sonntag morgen war die Luft noch kühl, und ich hab mir den Luxus eines Frühmorgensumsiebenfröstelns gegönnt, bin raus mit dem Rad über Felder, durchs Grafschafter Ländchen, an dichtem Erdbeerduft vorbeibrausend, Fahrtwindgeklingel im Ohr, und fruchtansatztragende Edelobstplantagen hingen im Augenwinkel fest, Insekten verprallten auf der Haut, summten im Ohr, Licht stand hoch und blinzelnd flach zurückgeworfen auf der Straße: Die Sonne war schon lange auf den Beinen, doch die Luft noch verschlafen und erdfeucht und frisch. Getupf gebeugter Leiharbeiterrücken, mühselig mein späteres Frühstück sammelnd um geringen Lohn. Feudalherrengefühl schmückte mir die Sinne. Um neun wieder zu Hause, da war ich schon zwei Stunden unterwegs. Den Magen mit Haferflocken, Erdbeeren, Bananen und Milch besänftigt lockte dann das Bett noch einmal, und ich hab mich guten Gewissens dem Schlaf hingegeben.
Der Nachmittag ging mit Latein dem Abend entgegen, als das Telephon läutete und mich zu Weg und Besuch und Liegewiese lockte und rief.
Nie mehr unbedarft an den Zucchini vorbeigehen —
( … den schwellenden Früchtchen … )
contradictio in adiecto
Bei einem Delicatessenhändler (man klicke sich zu >Produkte>Honig durch) ist folgendes zu lesen:
Unser Akazienhonig stammt aus den weiten, unberührten Robinienwäldern. Die Akazien blühen im zeitigen Frühling in duftenden Blütentrauben und bieten den Bienen eine Fülle von Nektar.
Da fragt man sich Verschiedenes. Zum Beispiel, wie man Akazienhonig aus Robinienwäldern ernten kann, vorausgesetzt, man versteht unter einem Robinienwald einen Wald, der aus Robinien besteht. Zweitens mögen zwar Akazien im zeitigen Frühjahr blühen, Robinien blühen jedoch keinesfalls vor Mai. Und was für einen Wert hat die Information für den Kunden, daß die Blüten in duftenden Trauben (korrekt! — aber welchen Informationsgehalt hat hier das Adjektiv duftend?) angeordnet sind, und daß sie den Bienen eine Fülle von Nektar bieten? (Letzteres möchte man ja kaum glauben angesichts der Tatsache, daß es sich bei dem beworbenen Produkt um Honig handelt). Was heißt außerdem unberührte Wälder genau? Und wenn man dann noch bedenkt, daß der Honig aus Ungarn stammt, Akazien aber keine winterharten Gewächse sind, gerät man ins Grübeln. Mit anderen Worten: Woher kommt dieser Honig wirklich und aus welchen Blüten stammt er?
Frühknittelingsverse
der könig zaunt
die sonne staunt
es itzen die girlen
und felden die schwirlen:
die jamben hinken
die wolken winken
der regen raunt
das herz, das schlägt
die zunge regt
die lippe küßt
der honig fließt
das kehlchen rötelt
die amsel flötelt
die düfte lüften
die glieder hüften
die hitze klirrt
die fliege schwirrt
die füße kribbeln
die bäche ribbeln
die Segler schwirlen
die zungen quirlen
die mücken grasen
die herzen rasen
ein fingertraum
rührt meeresschaum
die nacht schlägt blasen
der hals trägt flaum.
der finger zupft
die nase tupft
die raupe rupft
der frischling schnupft
im stillen raum
riecht süß der baum
die gallen nachten
die wälder schmachten
die hand dich hält
ein tropfen fällt
es träumt die welt.
Gegeninterpretation
Wenn zwei so verliebt sind, daß sie im Angesicht des Anderen zu zittern beginnen; wenn zwei so verliebt sind, daß sie so sehr zittern, daß ein Becher Weins, von ihr zu ihm gereicht, ihnen beiden entgleitet; wenn daraufhin der Wein aus dem Becher schwappt und sich dunkel auf den Boden ergießt: Warum ist das ein Zeichen dafür, daß ihre Begegnung scheitert?
Die Beiden
Sie trug den Becher in der Hand,
ihr Kinn und Mund glich seinem Rand,
so leicht und sicher war ihr Gang,
kein Tropfen aus dem Becher sprang.
So leicht und fest war seine Hand:
Er ritt auf einem jungen Pferde,
und mit nachlässiger Gebärde,
erzwang er dass es zitternd stand.
Jedoch, wenn er aus ihrer Hand,
den leichten Becher nehmen sollte,
so war es beiden allzu schwer.
Denn beide bebten sie so sehr,
das keine Hand die andre fand,
und dunkler Wein am Boden rollte.
(Hugo von Hofmannsthal)
Die beiden werden dargestellt als im Vollbesitz von Anmut, Kraft und Sicherheit. Ihr Gang ist „leicht und sicher“, und sie hat keine Schwierigkeiten, einen vollen Becher Weins ohne Überschwappen zu balancieren. Seine Hand ist „leicht und fest“, so fest tatsächlich, daß er ein junges Pferd ganz ohne Kraftanstrengung („mit nachlässiger Gebärde“) bezähmt und unter seinen Willen zwingt. Doch das ist vor der Begegnung. Unter den Augen des Geliebten dann werden die Hände so schwach, daß der Becher „beiden allzu schwer“ wird. Beiden wird der Becher zu schwer, beide beben: Ihr Gefühl ist wechselseitig. Alle Kraft und Sicherheit sind dahin, wenn man vor dem Geliebten steht. Und so stehen die Beiden einander gegenüber und werden im Wortsinne schwach, der Becher kippt um, „dunkler Wein“ rollt am Boden.
Ohne nun das Überlaufen, Auskippen, Überschütten von Flüssigkeiten in überkommener Weise als ein Bild sich entladender Lust, die dunkle Farbe des Weins dagegen als Bild weiblicher Reife zu deuten, ist die Begegnung dennoch eine Situation, in der sich etwas zuspitzt und in eine Art Miniaturkatastrophe gipfelt. Es ist ein Augenblick des Atemanhaltens. Wie geht es weiter? Werden die Beiden herzlich über ihre Ungeschicklichkeit lachen? Wird es ihnen peinlich sein? Werden sie im Beben des anderen das eigene Beben wiedererkennen? Auf diesem Höhepunkt der Spannung entläßt uns der Beobachter.
Mißgeschicke dieser Art sind natürlich, ebenso wie krankheitsähnliche Symptome (Gliederzittern, Herzrasen, Schweißausbruch, Stottern), ein gängiger Topos in der komischen Darstellung der Verliebtheit. In seinem Gedicht schafft es Hoffmannsthal, die Komik auf wundervolle Weise zu überhöhen und mit dem aus der Komik bekannten Topos ein Bild heiteren Ernstes zu zeichnen.
Wer in dieses Gedicht das Scheitern einer Begegnung hineinliest, war vermutlich selbst noch nie verliebt. Ein solches Mißgeschick ist weit weniger ein Zeichen des Scheiterns, als ein offenkundiges Zeichen dafür, daß die zwei bis über die Ohren verliebt sind. Gibt das nicht Anlaß zur Hoffnung? Wäre es nicht vielmehr umgekehrt? Daß die Begegnung gescheitert wäre, wenn beide die Ruhe selbst sind bei ihrer Begegnung? Daß das nachgerade gar keine erzählenswerte Begegnung wäre? Eine Begegnung zwischen Mann und Frau, bei der keiner der beiden bebt, ist wohl eine alltägliche, eine belanglose Begegnung. Jedenfalls würde man nicht ein Gedicht darüber schreiben. Hugo von Hoffmansthal hat in Die Beiden durchaus kein Gedicht über das Scheitern geschrieben, sondern über das Beben von zweien, die allen Grund zum Beben haben: vor süßer Angst.
Grammatische Kleinteile
Hallo Herr S.!
Gerade habe ich die Statiuspassage[1] angeschaut: sehr witzige Beschreibung, wenn ich das richtig verstehe. Die Auffassung indes, es handele sich um einen D. incommodi scheint mir, wie überhaupt die ganze Unart, Verwendungsweisen der Kasus nicht aus der Kasussemantik zu erklären zu versuchen, sondern die Einzelfälle zu Gruppen ähnlicher Verwendungen zusammenzufassen und diese dann mit eigentümlichen Termini zu benamsen, etwas fragwürdig – im Extremfall endet man bei dieser Praxis nämlich tatsächlich bei Einzelfällen. Und eine Grammatik, die nur listet, jedoch keine allgemiene Regel liefert, erscheint mir verbesserungswürdig.
(Aber wer wollte dies leisten?)
Die drei Stellen als D. incommodi zu sehen, hat natürlich den Vorteil, daß diese Auffassung unwiderlegbar ist. M. E. kann jedes Fehlen oder Verlassen immer auch als Incommoditäth abgehandelt werden. Dann ist es aber nachgerade verwunderlich, daß es nicht noch mehr Stellen gibt! Da es sich um eine Ratio von 3 (oder 4, wenn Caesar „gilt“, und warum sollte gerade die Caesarstelle nicht –?) mit Dativ gegen vermutlich tausende mit Akkusativ handelt, würde ich sagen, Prop[2], Sil[3], und Stat sind zu vernachlässigen, und haben in der Schule nicht aufgepaßt oder so. Ich meine, wenn Schulkinder in 2000 Jahren einmal das Deutsch des beginnenden 21sten Jahrhunderts büffeln müssen, dann werden sie auch lernen, daß wegen den Genitiv regierte – und damit 99 % der gesprochenen Sprachwirklichkeit verfehlen.
Auch scheint mir in Sil. und Stat. eine jeweils sehr ähnliche, aber mit der strittigen Caesarstelle und der Stelle bei Properz nicht zusammengehende Verwendungsweise vorzuliegen. Bei den beiden ersteren liegt doch, wenn ich das richtig lese, der Gedanke einer Fläche, die unter etwas verschwindet, zugrunde. Daher „fehlt“ dann das Feld, die Wasserfläche „vor Schiffen“ bzw. „vor Leichenbergen“ (igitt) – drängt sich da nicht der Gedanke auf, es könne sich um eine absolute Verwendung („fehlt“, „verschwindet“, „macht sich dünne“) plus instrumentalem (oder, ach diese Benamsungen!, kausalem) Ablativ (morphologisch in beiden Fällen möglich) handeln?
Bleibt natürlich Properz und Caesar. Bei Properz kommt erschwerend hinzu, daß es nicht einmal metrische Gründe gibt: mihi wird im strittigen Vers als zwei Kürzen gelesen, also hätte er auch me schreiben können, ohne die Regeln der Metrik mit Füßen zu treten. Das mihi scheint mir daher mit Bedacht gewählt worden zu sein. Hier ist wohl, wenn man der traditionellen Kasussystematik folgen will, ein incommoder Dativ der Weisheit letzter Seufzer: „verschwindet nicht, mir zum Schaden“. Oder so.
In einem Schultext hat so etwas natürlich nichts verloren, schon angesichts der statistisch doch recht eindeutigen Beleglage. Und ob das aus den lieben Kleinen Poeten macht, na ….
So, genug getextet, danke, daß Sie bis hierher die Geduld hatten, mir zu folgen. Ein frohes Wochenende wünschend,
MB
[1] Iam Pelopis terras Graiumque exhauserat orbem
praecipitans in transtra viros insanus equosque
Bellipotens. fervent portus et operta carinis
stagna suasque hiemes classis promota suosque
attollit fluctus; ipsum iam puppibus aequor
deficit et totos consumunt carbasa ventos. (Ach. 1, 445)
[2] et mihi iam toto furor hic non deficit anno (1, 1, 7)
[3] stragis acervis deficiunt campi (8, 660)
Tipula sp.
Aufwachend unbebrillt verwaschenes strukturiertes Dunkeletwas über mir an der Wand, das gestern abend eindeutig noch nicht … sollte das … die treten sehr zahlreich auf dieses Jahr … gestern im Hausflur auch schon eines erlegt … die Wälder wimmeln davon … ohneinohnein.
Also vosrichtigster Bettdeckenzurückschlug (immerhin können die fliegen) und Ausdembettwalz, gefolgt von fingerndem Brillenaufsatz, Blick zur Wand, zur Decke, da … ach du grüne Neune! Was für ein Exemplar, das ist ja schauderhaft. Hinterleib mindestens zweieinhalb Zentimeter, die Farbe nicht graubraun, wie bei den erträglicheren Exemplaren, sondern fast tiefschwarz, der Kopf mit dem rüsselartigen Fortsatz deutlich zu erkennen, und die Beine … ein Graus.
Absolut widerlich.
Vorsichtigst genähert, um ja keinen Wegschweb mit anschließendem Umherschwirr und Verschwund in den Klüften meines unaufgeräumten Zimmers zu verursachen, dann handtuchbewehrte Faust darauf. Ende.
Ichweißichweiß, da mime ich den Naturheini und langahaarigen Töpferkursbesucher und dann so etwas. Ja, ist mir bekannt, die sind harmlos, beißen nicht, stechen nicht, sind ungiftig und wahrscheinlich vertilgen sie obendrein noch jede Menge Schädlinge. Und, klar, faszinierend sind sie, mit ihrem elfenhaft schlanken Leib, den großen halbdurchsichtigen Flügeln, dem schwirrend-langsamen Flug.
Aber ich find sie nun einmal höchst eklig. Ich kanns nicht ändern. Im Freien ist es in Ordnung. In Innenräumen bekomme ich Panikattacken.
Wie Heinz Sielmann es formuliert haben dürfte: Diese adbutiged Tierched sidd tatsächlich völlig harblos udd verdieded udsere Wertschätzugg, obwohl ibber doch viele Bedsched große Scheu vor ihded ebfidded.
(Tipula sp. Tipulidae sind die größte Familie der Ordnung Diptera (Zweiflügler), zu denen Fliegen und alle Arten von Mücken gehören. Larven knabbern gern an den Wurzeln von Setzlingen. Wirtschaftlicher Schaden eher gering. Die Imago frißt gar nichts, sondern ist mit Fortpflanzung beschäftigt.)