De nucibus

Wo immer sich in einem eng eingegrenzten Tätigkeitsbereich, sei es in der Jagd, sei es in einer Wissenschaft, sei es in einem Handwerk, ein Spezialvokabular entwickelt, kann es zu merkwürdigen Überschneidungen mit dem Alltagsgebrauch von Begriffen kommen, deren Fachwortbedeutung und deren umgangssprachliche Bedeutung mitunter stark voneinander abweichen. So meint der Jäger kein Drüsensekret der Haut, wenn er von „Schweiß“ spricht, sondern Tierblut. Der Seemann sagt „Ende“ und meint damit ein beliebiges Stück Tauwerk. Das Ruder heißt nicht Ruder, sondern Riemen, und „Ruder“ ist wiederum etwas ganz anderes.

Ein solches Auseinanderdriften kann verschiedene Gründe haben. In der Jagdsprache liegt so etwas wie eine Tabusprache vor (das Gemeinte darf nicht mit dem gewöhnlichen Wort bezeichnet werden, weil das zu jagende Tier es hören und gewarnt werden könnte); in vielen Fällen trägt die Fachsprache wohl auch dem unbewußten Wunsch der Fachleute nach Abgrenzung und Geheimhaltung Rechnung („Medizinerlatein“). In der Hauptsache entwickelt sich eine Fachsprache jedoch aus dem Bedürfnis heraus, feine Unterschiede, die der Umgangssprache gleich sind, benennen zu können („Rispe“ im Unterschied zu „Dolde“); auch bezeichnen Fachsprachen oft Gegenstände und Erscheinungen, die im Alltag nicht vorkommen („Quarks“, „Protonen“); dann wieder geht Alltagsgebrauch und fachsprachlicher Gebrauch auseinender, weil Volksklassifizierung und wissenschaftliche Klassifizierung zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangen, die unterschiedliche Benennung nach sich ziehen („Rot-“ und „Weißtanne“ gegenüber „Fichte“ und „Tanne“).

Ein solcher Fall liegt auch im vielzitierten Nußproblem vor. Spätestens seit Herrn Jauch läßt sich auch der Nichtbotaniker gern verblüffen, welche Früchtchen Nüsse oder Beeren sind und welche nicht. Mittlerweile hat es sich ja schon herumgesprochen, und jeder Hobbykoch, der was auf sich hält, weiß und verkündet: Erdnüsse sind keine Nüsse!

(Walnüsse, Paranüsse, Kokosnüsse übrigens auch nicht)

Warum aber nicht?

Das schöne an botanischen Klassifikationen ist, daß sie erstens exakt und zweitens erschöpfend sind (das heißt, es bleibt keine Restkategorie übrig, in die all das fällt, was unter keiner anderen Kategorie einsortiert werden konnte). Botaniker klassifizieren Fruchtformen zunächst nach zwei Grundtypen: Einzelfrüchte und Sammelfrüchte. Innerhalb der Sammelfrüchte geht die Einteilung weiter mit Schließfrüchten (die Frucht löst sich als ganzes von der Pflanze), Zerfallfrüchten (Frucht zerfällt in zwei oder mehrere Teilfrüchte) und Springfrüchte (Frucht öffnet sich zur Reife noch an der Pflanze und gibt die Samen frei). Nüsse gehören nun (wenn es sich um Einzelfrüchte handelt) zu den Schließfrüchten. Für deren weitere Einteilung ist nun die Form der Fruchtwand (das sogenannte Perikarp) entscheidend. Ist diese durchgehend fleischig, spricht man von einer Beere. Beeren im botanischen Sinn sind etwa Heidelbeere, Tomate, Gurke, Melone. Differenziert sich das Perikarp in einen inneren Steinkern und einen äußeren fleischigen oder faserigen Teil, spricht man von einer Steinfrucht. (Um eine Scheinfrucht hingegen handelt es sich etwa beim Apfel, weil beim Fruchtaufbau nicht nur der Fruchtknoten, sondern noch andere Pflanzenteile beteiligt sind.)

Von einer Nuß spricht man nun, wenn das Perikarp durchgängig verholzt ist. Dies ist der Fall bei der Haselnuß, die wirklich eine waschechte Nuß ist. Auch Bucheckern, Kastanien und Eicheln sind Nüsse im botanischen Sinn.

Die Walnuß dagegen ist der Samen einer Steinfrucht. Desgleichen die Mandel, die Paranuß und die Kokosnuß.

Und die Erdnuß? Ist eine Hülsenfrucht wie die Erbse, die Bohne, die Frucht von Lupine oder Ginster. Übrigens: Erbsen liegen nicht in einer Schote, sondern in einer Hülse.

Aber das führt jetzt zu weit.

23.4.2005, Michelstadt

Während die Buchfinken ihr Geperl aus den lichten Kronen hängen lassen, tönt unten im Dorf die Glocke. Ausgerechnet ein Pfau gibt sich die Ehre, zerspaltet die Ruhe mit seinem Schrei und zieht seine Prachtschleppe durchs Unterholz. Die Keimblätter von Buchenschößlingen stecken ihr fettes Grün durchs Vorjahreslaub, dem schütteren Licht entgegen. Überall stehen sie, die Hallen sind voll davon. Nebenan auf dem Sportflugplatz startet ein Flugzeug, dessen Gedröhn sich bald an die Ferne verliert. Ein schwaches, schläfriges Zittern bleibt in der Luft hängen. Die Sonne schmeckt nach Frühsommermittag und Erdbeerkuchen mit Sahne.

Wie sehr hätte ihm, dessen Asche wir hier der Erde, den Buchen und Eichen und Linden übergeben, wie sehr hätte ihm diese Mittagsstunde, wie sehr ihm dieser Wald gefallen. Die Buchenkeime, die feuchtgefalteten Blattaustriebe, das zwischen die hellen Stämme gewobene Licht. Die Stimme der Urenkelin, die den ersten kletterbaren Baum sofort in Besitz nimmt.

Wir stehen in Stille, einem Schweigen nach den letzten Worten, dem Spiel der traurigen Flöte, das der Wald sogleich an sich nimmt und verbirgt und eintauscht gegen die Vielfalt seiner eigenen Stimmen. Etwas raschelt im Laub. Die Sonne blinzelt.

Dicke Erdbrocken poltern auf Rosen und Urne. Wenige Spatenstiche, ein Schwung mit dem Rechen, und Laub bedeckt wieder die Stelle. Wir wenden uns ab, kneifen die Augen gegen das Licht zusammen, sehen noch einmal auf zu der Eiche, die das Grab beschattet, wischen uns die Tränen ab und machen uns auf den Heimweg. Da ist es gut, daß die Sechsjährige schon wieder lacht und herumtollt, daß sie jetzt bei uns ist, mit ihrer unbeirrbaren, so rasch zurückgewonnenen Fröhlichkeit, uns Großen ein Trost.

Dreieinhalb Stunden halbverschlafene Zugfahrt durch Sonnenkanäle und neben schlammigem Glitzern her haben mich hier in diese mir plötzlich recht fremde und verstörende Runde gebracht. Allein war ich, und allein in Gedanken an Dich, bedachte und betrachtete, was wir gestern gesprochen haben, was wir heute einander geschrieben haben, was ich Dir übermorgen sagen will. Ich hätte so gerne einen ruhigen, sich bis in den Nachmittag gelassen dehnenden Morgen mit Dir, in Regen oder Licht, mit Stimmen von Vögeln oder Nebel vorm Fenster und dem Duft Deines Atmens unter meiner Haut.

Mein Vater zum Zerspringen gedeckelt und abgedämpft aggressiv, daß es mich selbst vom Stuhl wegreißen will, auf dem ich festgewurzelt ausharre, während das Bier im Kühlschrank kaltet. Meine Patentante plappert, die Großmutter zeigt eine Anhänglichkeit an ihren Enkel, die ich nicht vertrage. Das Begräbnis morgen erscheint mir wie eine zu spät gefeierte Feier, ein Nachtrag zu etwas, das schon längst abgeschlossen ist, eine schmerzvolle Fußnote, ein Zerwühlen, abermalig, eine Qual.

Sonntag endlich Aufbruch, das scheint in weiter Ferne. Das ganze lange Geratter und Gerüttel wieder rückwärts und diesmal mit noch größerer Ungeduld im Herzen … ich laß mich tragen und kann vielleicht wieder schlafen. Ich hätte so gerne einen Morgen mit Dir für uns allein.

atemlosherzverklopft
zwischen
schnaufdecken und
gänsehäuten hangend
zerwühlte lippen und krabbelfingerkäferchen
regenbogengeläute
bimbam unter
kribbelfellen, vielfach
jenseits der müdigkeit
ein hallen von ferne und
atmen verliert sich flatternd
ans regenferndraußen

sinken.
kußzerknautscht
einträumen

morgendlich
wieder
unausgeträumt
ausnachten

sich herauflotsen lassen
zu zweit
von könig und taube

Flora, im April

Da ziehen ihre Blicke Vögel und Eichhörnchen für mich aus dem Gesträuch, daß ich sie auch sehen darf, lenkt ihr Finger mein Auge auf Winziggeflatter und offenen Schnabel, und scheue Minuten lang singt der Zaunkönig nur für uns beide.

Sie zeigt, deutet, benennt, öffnet Auge mir und Herz. Dieses Blatt seh ich nun zum ersten Mal, und jene Blüte, und diesen Vogel, und nebenbei lerne ich, was caulifloral bedeutet. Schneeballduft winkt uns auf den Wegen entgegen, unsere Nasenflügel blähen sich verzückt, wir sehen uns an, gehen weiter, und endlich wag ichs und tue, was ich schon tun will, seit die Haustür hinter uns ins Schloß gefallen ist, zupfe sie am Ärmel, nehme ihre Hand. Stille Zauber webend steht im verborgenen der Aaronstab dabei.

Wie blind war ich, daß der Frühling mir das Herz so resolut hat zurechtrücken müssen … und die sinnlosen Fanfaren haben sich wieder in Vogelstimmen verwandelt.

Lange gehörten mir meine eigenen Stunden nicht. Wo waren denn die Lieder, wenn ich sie brauchte? Warum ließen sich die Stimmen nicht mehr deuten? Wege liefen von selbst hin und her, ohne den Fuß von Engeln, der sie verhielt. Winde legten Laub zu apokryphen Mustern, und die Nächte versteckten sich vor meinen Schlüsseln. Lange Zeit winterte es, von Zimmer zu Zimmer. Nun aber müssen die Nächte in meine Hand zurückkehren und die Tage wieder jung werden.

Oh ich verstehe. Ich würde das auch nicht mehr wollen. Warum nicht? Damit ich späterhin nicht in die Verlegenheit käme, es ihm erzählen zu müssen. Und wer wollte schon eine Liebe mit Heimlichkeiten beginnen … Und weil ich es verstehe, mehrt es mir den Schmerz. Meine eigenen Bedürfnisse, so wie ich sie in ihrer Haut hätte, finde ich ja in ihr wieder. Das erlaubt den Schluß auf Gefühle in ihr, die mich schon ausschließen aus dem innersten Kreis.

Wenn nicht die letzten Monate sowieso einer Illusion anhingen. Ich war ja längst draußen.

Wieviele dieser Abschiede und kleinsten schrittweisen Ausschließungen muß ich noch erleben? Das letzte Mal ihr Körper auf mir; dann die Nachricht; ein letztes Mal Händchenhalten im Kino (was für eine Illusion auch dies!); und nun das letzte Mal wenigstens neben ihr, an ihr fernes Atmen gedrückt, einschlafen, ach, und schon dieses letzte Mal war zu viel, ein bitterer Nachtrag. Reuen muß mich das. Zuvor wäre ein schönes Letztesmal gewesen. So aber steht als frischester und wohl bleibender Eindruck nun dieses Erzwungene da. Das zu denken, und auch, daß ich die Grenze überschritten, lästig geworden bin, macht mich noch viel trauriger.

Noch einmal trinke ich nun aus dieser Ringeltasse. Ich frage mich plötzlich, ob sie ein Geschenk an mich war? So sehr gehört sie in diese Wohnung, an dieses Bett, zu dieser Stunde, ist verbunden mit E.s halbschlafender Stirn („Soll ich dir einen Kaffee machen?“), an den Duft der Decken, daß ich es nicht mehr weiß. Jedenfalls kann ich sie nicht mitnehmen. Auch wenn sie ein Geschenk war, es ist unmöglich. Ich kann wohl dies Stück gebrannten geformten Tons mitnehmen, diese Tasse aber, an der die Monate hängengeblieben sind, die nun mehr ist als sie selbst, die hätte ich dann nicht mehr in den Händen.

Was steht nun aus? Der Tag, an dem der Herold eines schwarzen Frühlings ihr Glück mit dem Anderen verkünden wird.

Fast wünsche ich ihn herbei, diesen Tag, damit endlich Ruhe ist.

aus dem stundenbuch

Abend in Impekoven. Gras unter schräger Sonne besponnen mit silbrigschwankenden Drähten von Halm zu Halm. In Stille eingesunkenes, zerhuftes Klappern, Stimmen von fern, vertröpfelnd zagen die Vogelstimmen. Meisen, eine letzte Amsel, ein Zilpzalp, fast ists ein Zuhause, zumindest tönt die Stunde wie eine Rückkehr. Nur so allein, was aber vielleicht gar nicht so schlimm ist.

Ende März schrieb ich dies, erinnernd. Ich konstruiere mir meine neue Verfaßtheit, eine Ichbestimmung für die nächsten Monate erfinde ich mir, lege mir meine Einsamtage, meine Genügsamtage zurecht und vor mich hin. Betrachte diese neue Zeit und nehme mir vor, ohne Leid, ohne Zerquältheit zu sein. Annehmen, was kommt, ebenso wie was ausbleibt, das will ich, und keinen Mangel dabei haben.

Vierzehn Tage später

Ein Stein am Straßenrand, dicht an den Lärm der Autos gefügt, die dort wieder fahren, wo ich gerade noch der Erschöpfung in die Arme lief.

Den Kleiderbeutel zwischen den Knien, die Füße müde im Staub, beginnt in der Stirn Fieber zu lärmen. Der Vater sucht nach dem Wagen, die Autos brausen, über mir schlagen die Linden alleeweise aus. Alles rückt weit fort. Die Gesichter und Stimmen dieses Vormittags schauen mich befremdet an. Es will mir das alles lächerlich scheinen, als wäre, was ich getan habe, ein völlig sinnloses Opfer. Ich schüttele den Kopf. Keine Hand, die sich mir auf die Stirn legt. Ich weiß nicht einmal, ob diese Berührung mich jetzt stärken würde, ob sie hilfreich wäre. Doch ohne sie sein zu müssen, ist schwer zu ertragen.

Da verzieht sich mir das Gesicht wie von selbst zu stillem Weinen, als welkte die heiße Stirn. Die Häute sind dünn geworden wie nie. Wie sehr ich mir was vormache, mir ein standhaft erkämpftes Tapferglück einrede, tagein, tagaus: Das verstehe ich in diesem Augenblick, und daß 42 Kilometer ausreichen, mich aller Wehrhaftigkeit zu berauben und mir in aller Schärfe klarzumachen, wo ich bin und wie die Dinge liegen. Es ist ein Augenblick entlaubten Alleinseins, maskenloser Verlassenheit.

Aber ich weinte nicht. Ich wehrte mich. Nicht in all dem Lärm, dachte ich, alleine auf einem Stein am Straßenrand hockend, nicht zwei Minuten zwischen Sitzen und Wiederhochmüssen, nicht vor dem Vater, dem ichs nicht hätte erklären wollen oder können.

Nichts tritt aus der Nacht. Überall ist Dort, ist Jenseits. Die Füße kommen nirgendwohin, die Arme, ausgestreckt bis in die Fingerspitzen, berühren nichts. In den Handgelenken, in den Schläfen, in den Füßen pocht es ganz leise, hörbar nur, wenn man die Augen schließt und geneigter Stirn den Atem verhält. Der Kopf bebt vorm Ansturm des Bluts, Schlag auf gesammelten Schlag. Kühlschrankbrummen zittert an den Beinchen des Weberknechts, die Kochdünste von gestern, der Schimmel von vorgestern, das ist fast schon ein Trost, ein Leben, eine Stimme. Geisterstühle tragen Riesenschatten unter sich. In der Weinflasche schwimmt drei Sehnsüchte hoch der Mond. Vorhin enttraten Amselschnäbel der Dämmerung, den letzten Wind wollen die Eiben aufgesogen haben, man steht plattgedrückter Nase am Fenster und breitet aus sich Nebel über die Welt, und das Herz so müde und drangegeben an Dunkel und Vollmond und die Schatten in der Küche, im Rücken, im Raum, daß nicht einmal mehr Worte, die letztgebliebenen Geister, sich vom Dunkel entkleiden.

Ich freue mich auf den Tag, wo ich mir wieder Melancholie leisten kann. Und ich fürchte diesen Tag. Ich sehe ihn voraus, ich sehe die Abende voraus, am Fenster, durchwetterleuchtet von Erinnerung und Süße, sehe es voraus als dasselbe, das ich jetzt schon von anderen Geschichten heraufziehe und nach-fühle. Was für ein bitteres Erschauern, bitter, weil es dann nicht mehr bitter ist … bei Kerze, Tee und Schubert. Und noch eine Geschichte, groß wie ein ganzes Leben, und noch eine. War das wirklich alles, was davon übrig sein wird, ein wohlig-trauriges Erinnern an frühen Herbstabenden? War das alles? Ich werde einreihen, diese Geschichte zu den anderen, und sie wird sich gesellen und den anderen gleichwertig, ja ähnlich werden. Dieser Gedanke ist voller Wehmut. Vergänglichkeit nennt man das wohl, was da so schmerzt.

So oft ich besuche, gutlaunig bin, zu zweit lache, Schatz sage, eingehakt durch die wohlig geneigten und lauschenden Straßen, „Erzählst du mir eine Geschüschte?“, im Café, Hand auf Schulter und Wange, „Und was noch?“, ists ein Erinnern. Eine Geste voller Nostalgie, eine Nacherzählung. Jede Minute ein Seufzer aus meinem Mund, ein Geschmack unter der Zunge, weißtdunoch.

Rückwärtsgewand die Hände nach vergilbten Lenzen auszustrecken, so dämmert mir dieser Lenz herauf, lauthals, voller absurder Fanfaren.