Kaum angekommen im Haus der Eltern, sehe ich überall nur Abschiede. Noch einmal in den Wald und fühlen: bald verstummen wieder die Vögel, und die Hallen weiten sich verlassen und wie ausgefegt. Staubige Wege saugen durstig am Schatten der Buchen. Auf einen Weg getroffen, den ich zuletzt vor vielen Jahren in umgekehrter Richtung hinaufgelaufen bin, dort abbiegen, wo ich oft abgebogen bin, aber in den letzten Jahren nie mehr. Auch hier, in diesem Gastwald, haben sich schon Vergangenheiten angesammelt, so viele, daß es wieder ein Abschied ist, jedes Mal, wenn ich mich hier bewege: Das eigentliche ist bereits vorbei, die Hoch- und Blütezeit, man blickt zurück, und weil es schon so viel gibt, auf das man zurückblicken kann, bewegt man sich nur noch in einem Nachhall der großen Musik, die längst verstummt ist.
Monat: Juli 2020
Kein Sommer
Es fehlten nur noch Algen auf den Kacheln und Laub auf der fahlen Wasseroberfläche. Heruntergekommen, ein Vorwurf, den man oft hört, wenn mal wieder ein Bad schließen soll, ist noch beschönigend. Dieses Bad am Wermelkirchener Eschbach gelegen, ist ebenso marode wie voller Charme. Der Beckenrand ist noch, wie früher überall üblich, eine Kopflänge über der Wasserfläche, die Kacheln sind heil, aber betagt, die Umkleiden sehen aus, als wären sie noch aus den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Nichts davon spielt eine Rolle, und ich wüßte nicht, daß je von einer Schließung des Bades die Rede gewesen wäre.
Das schlechte Wetter mag seinen Teil dazu beigetragen haben, daß der Ort verlassen und aufgegeben schien. Weit und breit kein Mensch, die Umkleiden abgeschlossen, der Kiosk unbesetzt, die Stühle auf der Terrasse wie in einem Klassenzimmer zur Ferienzeit, im Becken ein liegengelassener Schlauch. Ich suche mir die überdachte Terrasse zum Ablegen der Kleider aus, wo der Rucksack vor dem Regen geschützt ist. Kalt ist es, unter zwanzig Grad, regnerisch, grau. Das Becken liegt unberührt, das Wasser straff, der Boden wölbt sich herauf, der Sprungturm grübelt wie ein Angler. In der Nähe dröhnt die Autobahn.
Systemr.
Systemrelevanz: Das Nützliche, das Notwendige, was ist es, was ist seine Natur? Es ist banal! Es ist trivial. Eben weil es nützlich ist, ist es langweilig. Kein Wort darüber zu verlieren, es versteht sich ja von selbst. Es fügt der Welt nichts hinzu, was diese an Forderungen nicht schon kennt. Der Mensch aber ist das Wesen, das stets mehr will als das Dasein, mehr will, als das Leben fordert, ja, mehr will als das Leben selbst. Er strebt danach, das Notwendige hinter sich zu lassen. Nicht um der Sicherheit willen – sondern um sich dem Überflüssigen hingeben zu können. Wenn ihm das nicht gelingt, gibt er sich dem Überflüssigen trotzdem hin, indem er sich über die Notwendigkeit hinwegsetzt oder sie ignoriert. When trouble strikes head for the library. Es heißt, während der Petersburger Blockade seien die Konzertsäle und Theater der Stadt voller Menschen gewesen. Langeweile kann schlimmer sein als Hunger. Wer aber satt ist, langweilt sich mit Sicherheit früher oder später. Leo Lionni hat mit der Maus Frederick eine treffende Parabel über das Problematische der Systemrelevanz geschrieben. Gedichte über Sonnenstrahlen, Blumen und Farben ist wohl genau das, was die Verfechter der Systemrelevanz als erstes streichen würden, wenn die Lage sich zuspitzt. Und doch ist es das, was am Ende zählt, wenn die Nahrung aufgebraucht und der Winter noch lang ist. Ein atheistisches Argument lautet: Wo bleibt denn die Pizza, wenn ich Hunger habe und zu einem imaginären Wesen bete? Die Antwort ist natürlich: den Zweck des Gebets verfehlt, wer sich davon manifeste Hilfe in Form von Nahrung verspricht. Der Zweck des Gebets ist es, den unvermeidlichen Hunger erträglich zu machen.
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Wer das Wort Systemrelevanz in den Raum spricht, muß sich Fragen nach dem System anhören.
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Tatsächlich kann das Wort ja noch etwas ganz anderes bedeuten: Die Relevanz des Systems nämlich.
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Wer Systemrelevanz fordert, hat schon sein Bündnis mit dem System geschlossen.
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Das System, machen wir uns nichts vor, ist zum Beispiel dasjenige, in dem jahrelang erbittert über die Einführung eines Mindestlohns gestritten wurde. Das System ist eines, in dem Menschen in Not, denen keiner helfen will, herumgeschoben werden wie Sondermüll. Das System ist eines, in dem Rettungsschiffen die Landung im Hafen untersagt wird, weil sie die falschen gerettet haben.
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Wer sich nützlich macht, treibt die Interessen des Nutznießers voran. Das ist nur im Idealfall dieselbe Person.
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Systemrelevanz, was habe ich mich in meiner Jugend über diesen Quark geärgert. Nichts von dem, was mich interessierte, ist jemals systemrelevant gewesen, selbst in der großzügigsten Auslegung des Begriffs nicht. Nordamerikanische Indianersprachen! Theoretische Linguistik! Indogermanistik! Modallogik! Mögliche-Welt-Semantik! Das Modussystem des Lateinischen! Sprach ich außerhalb des Kreises meiner Kommilitonen über meine Studienfächer, traf ich kaum je einen, der Neugier an der Materie gezeigt oder wenigstens Neugier dafür aufgebracht hätte, warum mich ausgerechnet diese Dinge interessierten. Das war selten die Frage. Die Frage war nach demjenigen Aspekt meiner Interessen, den man seit einigen Wochen unschön Systemrelevanz nennt, und sie erfolgte, mit wenigen Varianten, immer in derselben Form, als hätte man lauter Ausgaben von Bibi, der sprechenden Puppe vor sich gehabt: Und was macht man dann mal damit? Die einzige akzeptierte Antwort darauf wäre natürlich gewesen: Ich will noch viel mehr Spielzeug haben.
Wilhelma
Als der Winter am kältesten, die Nächte am dunkelsten, der Himmel am schwärzesten war, kam Wilhelma endlich die Idee, sich ein Wannenbad einlaufen zu lassen. Weiterlesen …
(© Solminore)