Nicht allein, um ihre Befolgung sicherzustellen, muß die Ausstellungsinstanz von Regeln möglichst ins Innere der Regelbefolger verlegt werden; sondern, und vielleicht mehr noch, um die Befolger zu entlasten. In kürzester Zeit sind wir an einen Punkt gelangt, an dem es sich falsch anfühlt, ohne Gesichtsbedeckung einen Laden oder einen Bus zu betreten, ähnlich falsch, wie ein obszönes Wort zu äußern oder einen Fremden zu duzen. (Der Vergleich ist interessant, weil er die Frage nach einer möglichen Verwandschaft von linguistischen und moralischen Regeln aufwirft.) Derart internalisierte Regeln haben sich von ihrem ursprünglichen Begründungskontext gelöst und damit den Status religiöser Gebote erlangt. Für einen gläubigen Muslim oder Juden mag es sich ähnlich falsch anfühlen, eine Moschee mit Schuhen oder eine Synagoge ohne Kopfbedeckung zu betreten. Je stärker der Grad der Internalisierung, desto schwerer ist es, die Regel nicht mehr zu befolgen, wenn der Begründungskontext nicht mehr gegeben ist; im Fall von religiösen Geboten, die von Anfang an aus keinen Begründungen folgten, ist es ganz und gar unmöglich, es sei denn, man hört auf zu glauben, und nicht einmal dann ist es einfach. Wir werden unsere Mühe damit haben, die Internalisierung des Maskengebots wieder loszuwerden, wenn der Grund dafür einmal weggefallen sein wird. Denn es gibt ja kein Gebot, sie nicht zu tragen, nur den Wegfall eines Grundes, es zu tun; während die interne Wachinstanz noch eine ganze Weile wachsam bleiben wird. Die durch die Internalisierung bewirkte Entlastung wirkt im Regelbefolger fort: So ist es tatsächlich einfacher, die Regel weiter zu befolgen, als den gedanklichen Aufwand zu betreiben, sie fortan zu ignorieren. Ersteres bedarf keiner Entscheidung mehr, letzteres muß bewußt entschieden werden.
Monat: Juni 2020
Solstitium
Als wir noch träumten vom Küssen, umstellten schon Uhren das Lager.
Zahllos die Küsse im Traum, zählt sie die kürzeste Nacht.
Küsse, gleich Wild in der Dämmerung, scheu vor den lärmenden Stunden.
Welche vorm Licht nicht geschenkt, flohen ins Dunkel des Traums.
Taedium
Der gewaltige Überdruß an allem, was mit dem Virus zu tun hat. Die Allgegenwart der sprachlichen Reflexe der Pandemie (um nur die häufigsten zu nennen: „Mund-Nasen-Bedeckung“, „Abstands-“, „Hygiene-“ oder, der Gipfel der Dämlichkeit, „Coronaregel“, was soll das sein, ein Krönungsprotokoll?) erzeugen einen Widerwillen wie ein nervtötendes, unregelmäßig erklingendes Geräusch, dessen Ursache man zwanghaft auf den Grund gehen muß, um es zum Schweigen zu bringen. Es gibt Tage, da verspürt man das dringende Bedürfnis, laut schreiend wegzulaufen. Aber wohin? Es ist ja überall dasselbe. Die Wörter dringen ins Unterbewußte ein wie lexikalische Parasiten, wie Ohrwürmer einer verhaßten Melodie, die gerade deshalb in Dauerschleife im Ohr bleibt, weil man sie nicht ausstehen kann.
Was man von dort aus sehen konnte
Das Harfenstück Beilio r Gwyneth Gwyn — wie hätte mir das als Heranwachsendem im letzten Schuljahr des Gymnasiums gefallen, und wie hätte es in alle die köstlichen Hinweise und Fingerzeige auf die Möglichkeiten meines zukünftigen Lebens gepaßt, in all die Tolkiens und keltischen Geschichten und Geheimnisse, die zu ergründen ich mir damals fest vorgenommen, an deren Ergründung ich geglaubt hatte. Heute höre ich dieses herrliche Stück und denke voller Wehmut, du bist deinen Träumen, den versprochenen Geheimnissen, du bist deinem eigentlichen Leben nicht einen fingerbreit näher gekommen; du hast dich, im Gegenteil, nur immer weiter davon entfernt, je älter du wurdest; du wirst ganz alt werden, ohne wenigstens in die Sehnsucht und die Überzeugung jemals zurückgekehrt zu sein.
Keinfrühling
Die entgegenkommende Joggerin, die mich schon aus zwanzig Metern Entfernung anherrscht, „Rechts oder links?“ und mich dann mit einem „Gutenmorgen!“ im Kasernenton anbellt – solche gibt es auch. Und dann gibt es die Hundehalter, die selbst während der Kulmination der Krise nie Abstand davon genommen haben, sich zu viert oder fünft (Tiere nicht eingerechnet) zu ihrer gemeinsamen Hunderunde zu treffen.