Früher war es das Reisen.
Eine gebotene Narrheit, ein Traum, hatte das Reisen zur Hauptperson jemanden, der ich nicht war, der ich aber gerne gewesen wäre. Das Reisen erforderte Eigenschaften, die ich im höchsten Maß nicht besaß, aber besitzen wollte, Coolness, Anpassungsfähigkeit, Angstfreiheit, Extrovertiertheit, Neugier, Unerschrockenheit, Schläue, Abenteuerlust, und gerade deshalb war ich so oft auf Reisen, so mit verbissener Leidenschaft, Hartnäckigkeit, ja Trotz unterwegs, als könnte ich auf diese Weise die mangelnde Coolness erwerben oder einüben, bis sie saß. Je öfter gereist, je schwieriger die Umstände, desto cooler, auf Dauer. Dachte ich.
Großgeworden im Zeitalter des aufstrebenden Rucksacktourismus (Stichwort „Land und Leute kennenlernen“), neuentdeckter Authentizität von Balsamico-Essig und Single-Malt-Whisky, in einer Generation, die plötzlich genau zu wissen glaubte, wie das Originalrezept für Tiramisù gehe, und denen „Insalata caprese“ leichter über die Lippen kam als „Grünkohl mit Pinkel“, unter Menschen, die größere Vertrautheit mit dem Didgeridoo als mit der Zupfgeige bewiesen – in dieser plötzlich ganz dem Außen zugewandten, Weltoffenheit und -läufigkeit demonstrativ zur Schau stellenden Umwelt galt für mich nicht minder, was für alle Altersgenossen galt. Wer jung war, mußte reisen. Wer es nicht tat, galt als vorzeitig vergreister Toast-Hawaii-Esser. Das wollte ich natürlich nicht sein. Niemand wollte das, auch wenn der Toast Hawaii heimliche Lieblingsspeise blieb. Man war nicht ehrlich, man verschwieg das, und bildete sich ein, die „original italienische Salami“ vom Discounter sei besser. Wenn ich ehrlich zu mir gewesen wäre: Dann hätte ich lieber Ostfriesenmischung als Assam FTGFOP getrunken. Und wenn ich noch ehrlicher gewesen wäre: Dann wäre ich zu Hause geblieben.
Denn wohl habe ich mich nie gefühlt auf Reisen. Ich habe es immer schon gemütlich, vorhersagbar und bequem haben wollen. Zwar wäre ich gern ein Abenteurer gewesen, nur Abenteuer erleben, das war nun doch etwas viel. Ich wollte mutig sein, aber nicht in Situationen geraten, die Mut erfoderten. Sein, nicht machen: Ich wollte jemand sein, für den es keine Gefahren, sondern nur Herausforderungen gab, kein schlechtes Wetter, nur schlechte Kleidung (und schlechte Laune), einer, dem es gelingt, die ganze Welt zu seinem Wohnzimmer zu machen. Dabei haßte ich schon den unbedeutendsten Zwischenfall, einen verspäteten oder verpaßten Zug etwa, oder wenn ich mich in einer Altstadt verlief, mir die Landessprache trotz Intensivkurs verschlossen blieb oder eine Hoteladresse nicht zu finden war. Schmutzige Betten, kaltes Duschwasser, unlesbare Fahrpläne, überlaufene Sehenswürdigkeiten konnten mich ebenso ärgern wie nervtötende Eigenschaften Einheimischer, etwa, immer freundlich „ja“ zu sagen, wenn sie „nein“ meinten (Bolivien), mir das Blaue vom Himmel herunterzulügen über das hübsche Hotel des Schwagers (Griechenland), bei Regenwetter mit Sonnenbrille herumzulaufen (auch Griechenland), oder aus zehn Kilometern zehn Meter zu machen (überall auf der Welt).
Ich arbeitete hart an mir. Irgendwann mußte es mir doch gelingen, die albernen Sonnenbrillen exotisch zu finden und das Ramschgeschäft mit dem heruntergekommenen Hotel des Schwagers für unverfälschte autochthone Gastfreundlichkeit zu halten. Das machten die andern doch schließlich auch! Laß es einfach auf dich zukommen, sprach ich zu mir selbst mit zusammengebissenen Zähnen, alles ist Erfahrung, urteile nicht so viel, entspann dich einfach. Ich entspannte mich – und verpaßte den Bus, weil ich den Fahrplan nicht zu entziffern vermochte.
Wenn ich reiste, war ich nicht so sehr irgendwoher irgendwohin unterwegs; besuchte ich nicht andere Länder oder Gegenden; war ich nicht auf der Suche nach etwas, sondern nach meiner Rolle dabei. Spaß machte das nicht. Meistens nicht. Natürlich gab es Momente seltsamer Intensität, an die ich heute noch gerne zurückdenke. Die Fahrt um Mitternacht Ortszeit vom Flughafen El Alto hinunter in den Canyon, an dessen Hängen das Lichtermeer von La Paz, tief, tief unten, emporbrandete; ein fetter Vollmond, geschwollen wie eine leuchtende Made über Piräus, beim Auslaufen der Fähre hinüber nach Kreta; ein Tagesanbruch in einem Park in Hieraklio, griechische Erde und Sonne, das Blitzblanke eleganter Frauen beim Morgenspaziergang mit ihrem Hund. Aber diese Erinnerungen, eingebettet in den größeren Kontext der Widerwärtigkeiten, die solchen Momenten vorausgingen (Streit mit Taxifahrern) und folgten (stressige Hotelsuche im Zustand völlier Übernächtigung), sind heute stets begleitet von der Erleichterung, daß es vorbei ist – und dem Bedauern darüber, daß das Reisen insgesamt nicht schön gewesen ist, und ich an der Stelle meines Scheiterns an Widerständen, meiner Unfähigkeit, auch diese Widrigkeiten als positive Erfahrung abzuspeichern, gern eine andere Erinnerung über dieselben Ereignisse und Begegnungen besäße, eine angenehmere, anders gefärbte ebenso wie eine versöhnlichere, stolzere von mir selbst.
Das Reisen war insofern eine Probe, in der ich mich selbst zu spielen versuchte – und scheiterte. Ich mochte nicht das Reisen, ich mochte die Vorstellung vom Reisen, ebenso wie es mir mehr Freude und Erkenntnis bringt, bei einer Tasse Kaffee einen Ausstellungskatalog zu studieren, als selbst ins Museum zu gehen. Ich mochte über fremde Länder lesen; sie selbst zu bereisen, dazu fehlte mir jedes Talent, jedenfalls, wenn ich dabei einen Genuß haben wollte.
Nicht nur Mut, Anpassungsfähigkeit, Coolness fehlten. Es fehlten auch die Hartnäckigkeit und die Neugier des Entdeckers. Nicht, daß ich nichts hätte entdecken wollen. Nur wollte ich es um des Entdeckens, nicht des Entdeckten Willen. Ich wäre gern der erste gewesen, ein erfolgreicher Jäger von Kuriosem, Grandiosem, bis dato unentdeckt Spektakulärem, wäre gern auf das gestoßen, was man heute so paradox als Geheimtip weitergibt. Auch hier ging es nicht ums Reisen, auch nicht darum, etwas Aufregendes zu erleben oder etwas Neues zu sehen. Es ging einzig darum, später einem staunenden Publikum davon berichten zu können. Natürlich entdeckte ich auf diese Weise nichts, weil mir ja, was es vielleicht zu entdecken gegeben hätte, im Grunde egal war.
Einmal, auf Klassenfahrt in London, ging ich allein ins British Museum. Wir hatten einen Nachmittag zu unserer freien Gestaltung, und meine Wahl fiel auf das BM. Sicher wird mich das Museum interessiert haben, es gibt dort derart viel zu sehen, daß für jeden etwas dabei ist. Aber das war es nicht. Mir gefiel die Vorstellung von mir, wie ich ganz allein in London ins British Museum ginge. Wie ich einer wäre, dem eine solche Unternehmung Spaß machte und – gelänge. Ich ging also hin und sah – nichts. Ich hatte nicht die geringste Vorstellung von den schier unermeßlichen Dimensionen dieser Institution, ich hatte mich nicht informiert, ich zog keine Pläne zu Rate, ich fragte nicht nach einer Führung. Ich sah mich in der allerersten Halle ein wenig um, wo es irgend etwas Altägyptisches zu sehen gab, versuchte vergeblich, etwas von dem griechischen Text auf dem Rosetta Stone zu entziffern, nickte dennoch fachmännisch mit dem Kopf (sieh da, Griechisch) – und ging wieder. Nach einer halben Stunde. Weil ich dachte, das sei alles. Ich war weder enttäuscht noch verwundert, weil ich nicht wußte, was ich hätte erwarten sollen. Ich war auch eigentlich nicht besonders neugierig. Ich war dagewesen, damit war es gut. Erst später ging mir auf, daß ich vielleicht ein Promill des Museums gesehen hatte, das erste Wort im ersten langen Satz eines tausendseitigen Romans. Es war so, wie stolz darauf zu sein, die erste Seite von Schuld und Sühne aufgeschlagen zu haben. Ein bißchen schämte ich mich später dafür, aber in dem Moment, wo ich das British Museum an jenem Nachmittag wieder verließ, im Glauben, es gesehen zu haben, zählte nur eins: Ich war ganz allein in London ins British Museum gegangen. Und außerdem war mir langweilig. Jahrzehnte später las ich Neil McGregors Geschichte der Menschheit in hundert Objekten, eine kulturhistorische Schwarte, die an hundert ausgewählten Exponaten des BM entlangerzählt ist; ich fand es großartig, zum Durchlesen, zum Stöbern, zum Immer-wieder-Nachblättern und Staunen. Damals, in London, hätte ich auch besser einen Katalog oder eine Geschichte der Pharaonen zur Hand genommen, als durch die sommerheiße, schmachtende City of London zu latschen, um sowohl einer Rolle zu entsprechen, wie auf der Suche nach etwas, von dem ich erzählen könnte.
Und so war es eben oft. Doch mochte ich mir nie eingestehen, daß ich die Landkarte spannender fand als die Landschaft, deren Abstraktion sie war, eine Landschaft, deren tatsächliche, sicht- und anstaunbare Merkmale, egal wie großartig diese auch sein mochten, immer hinter der Unendlichkeit der imaginierten Räume zurückbleiben mußte, die das bedruckte Papier in seiner abstrakten Repräsentation anbot. Ich mochte mir nicht eingestehen, daß Reiseberichte weit vergnüglicher waren, als sich selbst auf den Weg zu machen. Denn mein Wunschbild von mir selbst war nicht das eines gelehrten Stubenhockers, da hätte ich niemals hineinschlüpfen können; sondern das eines Unerschrockenen, der sich selbst ein Bild von der Welt macht. Ich mochte mir nicht eingestehen, daß ich, selbst wo ich versuchte, die Rolle dieses Draufgängers möglichst echt zu spielen (wozu immer auch gehörte, daß ich mich so zu fühlen bemühte, wie ich meinte, daß sich ein Draufgänger fühlen müsse), doch nichts weniger als ein Draufgänger war. Ich hoffte, meinem Rollen-Ich immer ähnlicher zu werden, bis wir zwei, der Schauspieler und seine Rollenfigur, dereinst ununterscheidbar geworden wären.
Was ich nicht begriff, oder jedenfalls erst viel später, war, daß das Reisen, weit entfernt davon, den Reisenden in eine mutigere Version seiner selbst zu verwandeln, im Gegenteil sein wahres feiges Selbst überhaupt erst richtig zum Vorschein brachte, quasi freipräpariert vom Skalpell der Fremdheit, die es umgibt. So wurde ich auf Reisen nicht der, der ich sein wollte, sondern unvermeidlich der, den ich in mir selbst am meisten verachtete.
Ich habe gerade ein Buch zu Ende gelesen von H.J. Ortheil, (“Was ich liebe und was nicht”) mit seinen Gedanken zu verschiedenen Themen. Er hat eine ganz ähnliche Art wie Sie, sich in Worte zu fassen und einen Moment lang dachte ich, Sie seien es womöglich höchstselbst, verwarf es aber gleich wieder. Ortheil reist ausgiebig und scheint keine größeren Probleme damit zu haben. Obwohl … er reist gerne, solange alles perfekt organisiert ist.
Jedenfalls: das Buch ist eine Selbstbeschau ohne Selbstbeweihräucherung, und es hat mir sehr gefallen. Genau wie Ihre Texte hier. 🙂
Sie werden jetzt lachen: Das besagte Buch von Ortheil liegt auf meinem Nachttisch — vorläufig allerdings nur virtuell. Ich entdeckte es neulich in einer Bahnhofsbuchhandlung, verschob den Kauf aber auf später, da ich für diesmal etwas anderem den Vorzug gab. Was von diesem kurzen Moment der Unentschiedenheit aber blieb, war der anregende Vorsatz, solche Betrachtungen über geliebte und weniger geliebte Dinge auch einmal zu versuchen — immerhin kann sich, wer so etwas unternimmt, in eine illustre Tradition — vom Kopfkissenbuch der Dame Shonagon bis zu Rousseau — einreihen, wie Ortheil im Vorwort schreibt.
Das ist ja ein Zufall! Ich denke Sie werden an diesem Buch Freude haben. Die Ausführungen machten mir Lust, eigene Themen ebenfalls genauer zu durchdenken und Betrachtungen darüber aufzuschreiben. So entstand mein neuester Blogbeitrag, obwohl ich sonst kurze Texte bevorzuge. An die geschliffene Sprache Ortheils oder von Ihnen komme ich nicht heran, aber was nicht ist, kann ja noch werden. Und wenn nicht – auch nicht schlimm. 🙂
Ich habe das Buch übrigens aus der Onleihe und auf dem eReader gelesen. Da ärgert man sich nicht über Fehlgriffe, aber dieses Buch habe ich wirklich genossen.
Edit 23.11.2017: Und nun lese ich’s gerade, und die Freude ist in der Tat enorm. Manchmal muß ich laut auflachen — nicht unbedingt, weil es so lustig ist (das auch), sondern aus lauter Heiterkeit über so viel Heiterkeit.
Mir ist beim Reisen noch nie eingefallen, dass ich dabei eine Rolle spielen könnte oder bestimmte Erwartungen anderer oder meiner selbst erfüllen sollte. Es gab in meinem Leben Zeiten, da habe ich mich verkrochen, weil mir alles, was nicht vorhersehbar war, zu groß geworden war. Doch es gab und gibt immer wieder Zeiten, wo es mich hinauszog und -zieht.
Mich fasziniert dieser Text und er weitet meinen Blick, da ich tatsächlich noch nie auf die Idee gekommen bin, dass dieses ganze Reiseding für manche gar kein Bedürfnis ist. Dass andere Länder, andere Orte, andere Landschaften, nicht voller Neugier betrachtet und ein klein bisschen verstanden werden wollen könnten.
Ja, auch ich mag es sehr, mich in Katalogen und Karten zu versenken, in Bücher, in Blogs, in Reiseberichte anderer. Dennoch ist es das Reisen (um des Reisens willen, so wie ich es erlebe), das ich liebe und das meiner Weltsicht gut tut. Wohl weil ich persönlich mir selbst als Reisende fast näher bin als im Alltag. Weil ich dabei sehr gegenwärtig und aufmerksam bin und werde. Und weil ich als Reisende eher wohl noch weniger eine Rolle spiele als ich es vielleicht im Alltag tue.
So sind wir alle gänzlich verschieden in unserer Annäherung an die Welt da draußen. Und das finde ich – zumindest von der Idee her – gut so.
Jemand anders sein zu wollen, als ich bin, das ist sozusagen mein Spezialgebiet. Dazu diente mir nicht nur das Reisen. Leider.
Man ist sich tatsächlich selbst beim Reisen näher als im Alltag, wo man sich gar nicht so scharf wahrnehmen kann, da es keine Reibeflächen gibt. Aber diese Nähe kann durchaus problematisch werden: So nahe möchte man sich vielleicht gar nicht kommen, mitunter.
Was SoSo sagt.
Auch hier alles anders. Das weite Reisen ist mir kein Bedürfnis; ganz im Gegenteil, ich mag es nicht, wenn Flugzeuge mir vorgaukeln, die entfernte Insel sei einen Katzensprung entfernt. Ich mag aber, und sehr, Wege. Von hier nach dort kommen, in Ameisenschritten (für mich) große Distanzen überwinden, gern auch trödeln dabei und Grünzeug, Krabbeleien, Kirchen und Aussichten anschauen. Ich glaube, ich wäre gar nicht böse, müßte ich tausend Kilometer zu Fuß irgendwohin; hätte ich die Zeit dafür: gern, wirklich.
Manchmal frage ich mich, ob es das Unverbindliche ist, was mir daran gefällt.
Ich bin immer gerne gereist, neige aber dazu, mich treiben zu lassen. Über gewisse Kulturdenkmäler bin ich nur zufällig gestolpert, da ohne Orientierungssinn und nur begrenzt fähig, Landkarten und Stadtpläne zu lesen. Ich weiß, dass ich nerve, deshalb reise ich allein. Europa habe ich nie verlassen, weil ich ungern fliege. Das Fliegen fürchte ich nicht, aber die Flughäfen. Um mich wohl zu fühlen, brauche ich nicht viel: Meer, einen Buchladen, Kaffee und eine fremde Sprache…
Ich gehöre zu den Menschen, die auf alle Eventualitäten vorbereitet sein müssen, um sich wohl zu fühlen. Neben einem Plan B habe ich meistens auch noch Pläne C bis F — das paßt zur Improvisation, die das Reisen ja nunmal ist und erfordert, nicht gut zusammen. Da gibt es keinen Plan B. Und wenn, dann funktioniert nicht. So was macht mich immer völlig fertig.
Das Improvisieren wird einem heutzutage auch schwer gemacht. Bahnfahrkarten gelten nur für bestimmte Züge in bestimmten Kombinationen, abhängig vom Wetter und vom Passieren einer schwarzen Katze. Vorbei die Zeiten, als man eine Fahrkarte nach Neapel löste, den nächsten Zug nahm, in Neapel ausstieg und sich auf die Suche nach einer billigen Pension machte. Verpassen Sie heute den Zug, ist ein Antrag in dreifacher Ausführung beim Ministerium nötig, damit Ihre Fahrkarte umgeschrieben werden kann, scheint mir.