Noch nie bin ich einem Reh so nahe gekommen, fast hätte es einen Zusammenstoß gegeben. Das erste entschied sich, noch über den Weg zu laufen, fürs zweite wurde die Zeit zu knapp – es blieb mit einem Ruck stehen, den Körper halb zur Flucht gedreht, die Beine unsortiert über Kreuz, die Augen zwei Reflexe des Schreckens. Das Tier war verblüffend klein; hätte es neben mir gestanden, hätte es mir höchstens bis zum Knie gereicht. Die im Vergleich zum Kopf riesigen Ohren waren aufgestellt und nach vorne gerichtet. Alles an diesem Tier war Alarm. Und mir tat es leid, es erschreckt zu haben. Ich entließ es aus dem Bannkreis der Lampe, ließ den Wald hinter mir in die Dunkelheit zurückfallen, wandte mich, fiel wieder in Trab. Hinter mir knackte es leise im Unterholz.
Einmal habe ich an einem Herbstmorgen am Bahnhof einen Vogel am Boden liegen gesehen, von dem ich glaubte, er sei tot. Es war ein Rotkehlchen. Neben dem winzigen Leib, so winzig, daß man glauben mochte, er wiege nichts, lag eine zerfledderte Illustrierte; abseits rollte ein Coffee-to-go-Becher vor sich hin; vor dem Vogelköpfchen erhob sich riesig und das Leuchtstoffröhrenlicht des Unterstands spiegelnd eine Glasscheibe. Wahrscheinlich war der Vogel dagegengeflogen. Jetzt lag er halb auf der Seite, halb hockte er aufrecht, so daß das zum schmalen Schlitz geöffnete linke Auge in der leichten Drehung des Körpers nach oben wies, auf mich gerichtet war. Ich bekam einen Schreck: Lebte der Vogel denn noch? Tote Vögel, überlegte ich, haben geschlossene Augen. Ich bückte mich näher. Das Rotkehlchen lag völlig reglos, sein Auge starrte mit halbem Blick, es war nicht zu sagen, ob es tot war oder tief in seinem winzigen Innern noch lebte, noch litt.
Man kommt dem Tier nie wirklich nahe; es bleibt immer eine Kluft. Wir wissen ja nicht einmal, wie unsere menschlichen Zeitgenossen fühlen, wieviel weniger können wir es bei einem Tier ahnen. Eine Kluft, eine Traurigkeit, eine Sehnsucht: Nach dem verlorenen Leben, nach der verlorenen Unschuld. Die Sehnsucht danach, fraglos dazusein, und dazu keiner Hilfsmittel zu bedürfen: selbstwirksam und selbstgenügsam, sein eigener Herr. Die Sehnsucht auch, keine Zukunft zu kennen, keine Not, bis auf den Hunger des Augenblicks. Sicher, auch das Tier stirbt. Es stirbt, und weiß aber nicht, daß es stirbt. Wir aber haben den Tod ein ganzes Leben lang bei uns. Ist dieser lang erwartete Tod besser?
Ich konnte nichts tun. Ich entfernte mich leise, wie man sich von einem Schlafenden entfernt, stellte mich in eine andere Ecke des Unterstandes und schaute in den zunehmenden Regen. Ich war völlig allein auf dem Bahnsteig. Ich und der Vogel. Ein paar Momente verstrichen. Ich schaute wieder hin. Das Tier war im verschlissenen Licht der Leuchtstoffröhren kaum mehr als ein unscharfer Fleck. Ich schaute wieder weg. Tiere sterben, dachte ich, Tiere leiden, du kannst nichts tun. Ich schaute wieder hin, zwanghaft, wie man das Photo einer Greueltat in der Zeitung anschauen muß. Ich bekam einen Schreck: Hatte der diffuse Fleck sich bewegt? Oder war es das schwache Licht, das im Verein mit meiner unausgeschlafenen Müdigkeit die Umrisse des Vogelflecks neben der Illustriertenruine tanzen ließen?
Einmal, auf einer Wanderung, traf ich auf ein totes Frettchen. Es lag, alle Viere von sich gestreckt, auf dem Rücken, den Kopf nach hinten und zur Seite geneigt, mitten auf dem Feldweg, vollständig außer Deckung. Äußerlich unverletzt, klebte auf der Schnauze ein winziger Blutstropfen. Um den buschigen Schwanz herum trocknete eine Urinpfütze in der warmen Sommersonne. Was immer geschehen war, es war eben erst geschehen, und es war endgültig geschehen. Die Felder waren menschenleer. Kein Raubtier, kein Auto, kein Traktor zu sehen. Die Wege spannten sich in alle Richtungen. Am Himmel zogen Schönwetterwolken. Ich war der einzige Zeuge. Ich ging weiter.
Man dachte, es müßte verschwinden, so ein Anblick hielte die Entfernung nicht aus, das Triviale des Raums, das Triviale der Unkenntlichkeit; aber als ich mich nach ein paar, nach zehn, nach hundert Schritten umdrehte, war es immer noch da, kleiner und unkenntlicher mit jedem Umdrehen, einem absurden und trivialen Gesetz unterworfen, für das es einfach nicht gemacht schien, nicht passen wollte. Aber es war genauso tot wie etwas, das nie gelebt hatte. Und dann war es nur noch ein Fleck in der Wegtiefe, der alles mögliche bedeuten konnte, Pferdeapfel oder Erdkrümel oder Maiskolben.
Nein, das Rotkehlchen bewegte sich wirklich. Der Kopf pickte, spähte, drehte sich hierhin und dahin, mit jener zuckenden Bewegung, wie sie kleinen Vögeln eigen ist. Ich beobachtete das eine Weile, trat aus dem Unterstand heraus und näherte mich der Stelle von der anderen Seite, von außen. Ich hatte den Fleck kaum ausfindig gemacht, als das Rotkehlchen auch schon davonschoß, mühelos, flink. In drei Bögen war es über die Gleise weg und verschwand, nur ein Fingerschnippen der Nacht, in der Dunkelheit jenseits der Bahnhofslaternen.
Ach, doch wenigstens ein glückliches Ende.
Tiere sterben, das ist so; aber mich macht es immer völlig fertig, wenn man Tieren gegenüber unnötig grausam ist. Mauersegler begreifen nicht, warum die Nester, Jahr für Jahr bezogen, nun plötzlich verschlossen sind am Ende der Vieltausend-Kilometer-Reise, wegisoliert unter Plastikdachpfannen. Keine Chance, dem zu Tod gefütterten Hund zu erklären, was ihm da geschieht; oh, und das Mastvieh, das kein Draußen kennt.