Paul-Schallück-Straße

Das läuft neben mir her, ein anderer, ein Deuter vielleicht, oder einfach nur ein Reflex, der entsteht, wenn Erinnerungen und Gedanken interferentielle Brechungen erzeugen. Dann wieder bin ich selbst für Augenblicksbruchteile dieser andere. Es ist ein Schweben zwischen Zeit und Identität, oder besser: Zwischen verschiedenen Stufen oder Schichten oder Schnitten derselben Identität, in Überbrückung und Überlagerung ihrer Zeitlichkeit, ihrer verschiedenen Zeitflächen und -brüchen. Ein Auslöser ist das jahreszeitliche Konzentration typischer Eigenschaften von Luft, Wind und Licht, Laub, Nässe oder auch Geräusch, ein Zusammenkommen, das sich ja nie durchhält über eine Jahreszeit, aber, für jeden je auf andere Weise, durch Vorkommnisse, bestimmte Wege oder Handlungen, Gespräche, kurz durch die ihm eigene Historizität eines gegebenen Zeitpunktes definiert ist und aus dieser Konstellation seine Kraft erhält.
Dies geschieht vermittels dieses changierenden Begleiters, der mal ich ist, mal bin ich er. Ich gehe diese Schritte noch einmal und es kann durch diese Vermittlung geschehen, daß ich sogar in alte Gedanken von mir ein zweites mal hineinspähen kann wie in eine alte, liebevoll restaurierte Tonbandaufnahme; die lichtschwache Daguerreotypie der Vorgänge, die unwiderrufbar den Wachzustand des Geistes durcheilen, mal bewußter, mal weniger bewußt.
Es ist ein Weg, den ich nicht so oft gehe, daß es sich abnutzen würde, daß er sich mit neuem vollsaugen und dann als Auslöser für mächtige Erinnerungsklarheiten nicht mehr zur Verfügung stehen könnte. In ebensolcher Weise vermeide ich das allzu häufige An- und Nachhören bestimmter Musik, mitunter habe ich seit Jahrzehnten ganz darauf verzichtet, aus Angst, die Macht der Klänge könnte sich verlieren, ihre Anbindung an einen ganz bestimmten Augenblick oder eine bestimmte Periode meines Lebens könnte sich lockern. Freilich bedeutet das, daß ich auch nicht mehr die bewußte Herbeiführung eines Erinnerungsblitzes praktiziere, mithin die konservierte Musik nie zur Wirkung gelangen kann. Insofern das, was sie auslösen könnte, schmerzlich ist, muß man sich ja fragen, warum auch? Aber alle Erinnerung, die wir auf solche Weise in Geruch oder Klang eingefangen haben und halten wollen, ist schmerzlich, sonst bräuchten wir eine solche Handhabe gar nicht. Was solchermaßen bewahrt wird, handelt immer von einem Verlust.

Lexothelminthes (4)

im grunde genommen ist es nicht ganz richtig zu sagen, daß ein wort, das den lexothelminthen instantiiert, „im ohr nachklingt“. da klingt nichts. viel eher geht das wort „im kopf herum“. es scheint plötzlich auf, so als wolle man es gerade aussprechen. es kommt einem in den sinn, oder, wenn noch ein bildhafter ausdruck gestattet ist, es „liegt auf der zunge“ – nicht als etwas, das, in die ränder des bewußtseins eingeschlungen, dem wachen erinnern gerade nicht zugänglich, doch eben als existenz erahnbar ist; sondern als etwas, von dem man den sanften zwang verspürt, es zu vollziehen: es auszusprechen, wenn auch nur innerlich. der ausdruck im ohr haben oder im ohr klingen ist schon deshalb falsch, weil es nicht der klang des wortes ist, der sich zwanghaft ins bewußtsein schiebt, sondern die vorstellung seiner motorischen realisierung.
geradezu typisch für den lexothelminthen ist es, aus einem text zu springen. so klang mir gestern abend nach der Apuleiuslektüre beim spülen das verb periclitari im ohr nach. fremdsprachliche lektüre scheint sich überhaupt besonders als auslöser zu eignen. mal war ist es latein, wie gestern, oder damals, als ich zum erstenmal intensiv die Metamorphosen des Ovid las, poetische wörter wie amnis, nemus, pentralia; ein andermal neugriechisch oder spanisch. fachwörter bleiben auch leicht hängen: ich erinnere mich, daß ich beim lesen von Th. Kuhns „Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“ das wort transversal innerlich nachzusprechen mich genötigt fand. oder namen: tagelang ging mir die lautfolge Cirith Ungol nicht mehr aus dem kopf, und noch heute kann sie eine ganze welt, die der lektüre, wie die der wirklichkeit, die das lesen lebensweltlich umgab, heraufbeschwören wie ein feiner, seit kindertagen nicht mehr vernommener duft.

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