Ohren auf! Und wieder auf die Wörter hören. Nicht der Sprache mißtrauen, sondern noch einmal sich auf sie zu verlassen wagen.
Das Wort lachen hat ein Gesicht, dem der Mund aufsteht. Das Wort Zorn hat zusammengekniffene Brauen. Das Wort verzweifelt ringt die Hände in Auswegslosigkeit. Das Wort fröhlich lacht leise. Wörter haben Gesichter, haben Augen, schauen den Leser an. Wörter sind Angeln und Treppen. Sie sind vertraut, man kann ihnen vertrauen. Gekleidet in die Farben ihrer Lettern tragen sie von Kindesbeinen an zuverlässig ihre Theatermasken über die Bühne der Geschichten.

Lexothelminthes (4)

im grunde genommen ist es nicht ganz richtig zu sagen, daß ein wort, das den lexothelminthen instantiiert, „im ohr nachklingt“. da klingt nichts. viel eher geht das wort „im kopf herum“. es scheint plötzlich auf, so als wolle man es gerade aussprechen. es kommt einem in den sinn, oder, wenn noch ein bildhafter ausdruck gestattet ist, es „liegt auf der zunge“ – nicht als etwas, das, in die ränder des bewußtseins eingeschlungen, dem wachen erinnern gerade nicht zugänglich, doch eben als existenz erahnbar ist; sondern als etwas, von dem man den sanften zwang verspürt, es zu vollziehen: es auszusprechen, wenn auch nur innerlich. der ausdruck im ohr haben oder im ohr klingen ist schon deshalb falsch, weil es nicht der klang des wortes ist, der sich zwanghaft ins bewußtsein schiebt, sondern die vorstellung seiner motorischen realisierung.
geradezu typisch für den lexothelminthen ist es, aus einem text zu springen. so klang mir gestern abend nach der Apuleiuslektüre beim spülen das verb periclitari im ohr nach. fremdsprachliche lektüre scheint sich überhaupt besonders als auslöser zu eignen. mal war ist es latein, wie gestern, oder damals, als ich zum erstenmal intensiv die Metamorphosen des Ovid las, poetische wörter wie amnis, nemus, pentralia; ein andermal neugriechisch oder spanisch. fachwörter bleiben auch leicht hängen: ich erinnere mich, daß ich beim lesen von Th. Kuhns „Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“ das wort transversal innerlich nachzusprechen mich genötigt fand. oder namen: tagelang ging mir die lautfolge Cirith Ungol nicht mehr aus dem kopf, und noch heute kann sie eine ganze welt, die der lektüre, wie die der wirklichkeit, die das lesen lebensweltlich umgab, heraufbeschwören wie ein feiner, seit kindertagen nicht mehr vernommener duft.

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Lexothelminthes (3)

eine andere frau, jahre später, welten entfernt, hieß Halkomelem, ein wort, das eine indianersprache aus der familie der Salisch-Sprachen bezeichnet. wir nahmen beide an einem seminar über diese sprachfamilie teil. sie saß mir gegenüber, hatte herrlich dicke rundungen und breite hände und duftete nach kamille. ich erinnere mich, daß sie lächelte, als sie mir kopien weiterreichte. einmal hatte ich gefehlt. das gab mir die gelegenheit, sie ein paar tage später, als ich ihr auf dem weg zur mensa begegnete, anzusprechen und mich nach dem verlauf der vergangenen sitzung zu erkundigen. ich erinnere mich, daß sie an jenem tag einen langen, dunklen mantel trug. sie war hinter einer eibenhecke aus einem winkel des weges erschienen, und ich hatte sie zuerst gesehen. sie ging langsam, besonnen, ruhig, vielleicht in gedanken. die hände hatte sie in den taschen. ihr haar glänzte rot. kamillenduft strömte von ihr aus. ihr blick ruhte sanft auf mir, so daß ich mir heute, wenn ich an die begenung denke, unruhig und zappelig und fast ein bißchen laut vorkomme. sie war älter als ich, viel weiter im studium, war hilfskraft und mit den dozenten auf du. während sie mir zuhörte, ging ihr blick halb über die starke brille. ich vergaß sofort wieder, was sie über das seminar berichtet hatte. wir lachten, glaube ich. ihr mund lächelte mit großen, weißen zähnen. da wurde sie für mich selbst zu einer indianerin, und das wort, das sich in meinem inneren ohr festgesetzt hatte, dieses schöne, geheimnisvolle, erdige Halkomelem, wurde von diesem tage an ein name für sie, ein kamillenüberströmter klang, der mit dem roten haar, der körperfülle, der wachheit dieser frau zusammenhing. oder vielleicht kein name, aber doch so etwas wie ein zu ihr gehörendes klangmal, ein lexikalisches totem. nie hätte ich es aussprechen wollen, geschweige denn sie so nennen. vielleicht läßt es sich am besten so sagen, daß ich sie als Halkomelem dachte, sie selbst, oder ihren anteil an unseren begegnungen. Aber auch alle bezugspunkte, die uns, sie und mich, über dieses seminar verknüpften, hatten in dieser eigenschaft etwas von Halkomelem an sich und atmeten etwas von diesem namen aus. und auch indianersprachen, merkwürdige syntax, ejektive, nursery tales oder die gepflogenheiten, die räume und das personal des instituts, wo sie sich als stätten der begegnung hergegeben hatten.
zuletzt aber würde der beginn dieser geschichte, wenn es eine geschichte gäbe, diesen namen tragen, würde die später vergangene farbe dieser ersten tage einmal so heißen, und das geheimnisvolle wurzelwerk des zufalls, der uns zueinander geführt hatte.

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Lexothelminthes

wörter die ich mag, nutzlose aggglomerate von klang, bedeutung, feldern, vernetzungen, tunneln und räumen, reiser, kuckuckslichtnelke, sturmlampe
machmal blieb etwas aus Gelesenem hängen, ein ohrwurm, könnte man sagen, dessen melodie aus der abfolge der laute, vielleicht aus dem plan der zu ihrer realisierung erforderlichen zungen- und lippenbewegungen, dem rhythmus, der sich aus der dauer der laute und aus der betonung ergibt, und vielleicht auch dem verlauf der stimmhöhe ergibt. trollblume, atmen, gezweig. die bedeutung spielt für den ohrwurm keine rolle, denn wie jeder ohrwurm ist es eine insistierende erinnerungsschleife, die sich selbst immer wieder aufdrängt und zu ihrer inneren stummrealisierung aufruft. so sind worte wie melodiefragmente, klingende bögen, akkordverbindungen, motivische tonfolgen. und wie in der musik dem motiv oder sogar dem einzelnen akkord, so hängt auch diesen sprachohrwürmern (lexothelminthen) eine stimmung an, der hauch einer bestimmten welt, eines schmerzes, einer erwartung, einer hoffnung, verzweigt sich aus dem lexothelminth heraus eine kleine eigene welt. halkomelem, penetralia, nemus, amnis was bestimmt diese welt? nicht die bedeutung des wortes, das den lexothelminth ausmacht. auch nicht der klang, in dem er sich verfestigt hat. der klang oder der klangplan oder das abbild dieses klanges im innern ist nur seine realisierung, seine bedeutung ist zufällig. aber wörter haben nicht nur klang und bedeutung, sondern sie sind auch knotenpunkte in einem netz von beziehungen. zu anderen wörtern. zu grammatikalischen informationen wie kasus, präposition, konjugationsmuster. zu standardumgebungen, mit denen es zusammen eine kollokation, eine phraseologie bildet. aber auch, und das ist wesentlich für den lexothelminth: zu texten, in denen das wort vorkam; zu menschen, die es gebrauchten; und zu situationen, in denen es ausgesprochen wurde, groß war oder klein, laut oder leise, und auf die eine oder andere weise wirkung bewies.

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